es auch die wirklich gab, die sich nicht mitziehen ließen, die etwas zu bewahren hatten.«38 Darunter waren Klassenkameraden, aber auch Lehrer wie Wilhelm Krüger, Blumenbergs Deutsch- und Klassenlehrer bis zum Abitur. Der Nachfolger Rosenthals hingegen, Robert Wolfanger, war überzeugtes Mitglied der NSDAP, und mit ihm hielten antisemitische Schikanierungen Einzug, unter denen Blumenberg zu leiden hatte. Als Klassenprimus – er war der Jahrgangsbeste von ganz Schleswig-Holstein – stand ihm die Abiturrede zu, die er zwar verfassen, aber nicht vortragen durfte. Das Abiturzeugnis bekam er auf degradierende Weise, zum Direktor zitiert, ausgehändigt. Blumenberg war nach eigener Auskunft einer »Welle der Empörung«39 antisemitischer Art ausgesetzt, neben den Amtsträgern wohl vor allem durch die Parallelklasse. »Sie traf ihn als Schüler spät und prägte ihn für sein ganzes Leben«, erinnert sich der Schulfreund Martin Thoemmes, Blumenberg sei »buchstäblich bis zu seinem Tod stigmatisiert von den Demütigungen seiner Heimatstadt Lübeck«40 gewesen. Ein anderer Klassenkamerad berichtet, Blumenberg habe auf seinem täglichen Schulweg an einem Schaukasten des Stürmer vorbeigehen müssen, in dem zu lesen gewesen sei, Menschen wie er hätten kein Recht zu leben und müssten wie ›Ungeziefer‹ beseitigt werden.41
Nach dem Abitur begann Blumenberg im Wintersemester 1939/40 in Paderborn katholische Theologie zu studieren. Zum Sommersemester 1940 wechselte er an die Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen bei Frankfurt. Von seinen dortigen Lehrern hat er in seinem oben zitierten Lebenslauf nur Caspar Nink hervorgehoben. 1941 musste Blumenberg sein Studium infolge der verschärften rassenpolitischen Bestimmungen des Kulturministeriums abbrechen. Als ›wehrunwürdig‹ erklärt und somit nicht in die Wehrmacht eingezogen, setzte Blumenberg, wie es im Lebenslauf verharmlosend heißt, seine Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiet der mittelalterlichen Philosophie, bis 1943 privat fort. Es folgte eine Beschäftigung im Werk des Lübecker Industriellen Heinrich Dräger, der ihm Arbeit und einen gewissen Schutz vor Verfolgung bot. Im Februar 1945 wurde Blumenberg verhaftet und zur Zwangsarbeit in das Lager der Organisation Todt – benannt nach dem Bauingenieur Fritz Todt, der im Dritten Reich unter anderem für die Erbauung des Westwalls und für die Schaffung von Reichsautobahnen zuständig war – auf dem Militärflughafen Zerbst nahe Dessau verbracht. Die Bedingungen im Lager glichen denen in einem Konzentrationslager. Blumenberg gelang die Flucht, als das Lager aufgrund der vordringenden Amerikaner aufgegeben werden musste, er schlug sich bis Lübeck durch. Bis zum Kriegsende konnte sich Blumenberg bei einer Lübecker Familie verstecken, der Ungewissheit ausgesetzt, wie lange er unterzutauchen gezwungen sein würde. Als der Terror endlich vorbei war, bedankte sich Blumenberg in einem Brief an Heinrich Dräger für dessen Schutz und Menschlichkeit und bemerkte, die »wohl schwersten Jahre meines Lebens«42 lägen hinter ihm. Ausgestattet mit 6000 Reichsmark, die Heinrich Dräger seinem Schützling zur Verfügung stellte, konnte Blumenberg 1945 in Hamburg das Studium der Philosophie, der Germanistik und der Klassischen Philologie aufnehmen. Das Geld war gut investiert.
Die biographischen Hintergründe sind aufschlussreich für Blumenbergs 1947 in Kiel eingereichte, von Ludwig Landgrebe betreute und zu Lebzeiten unveröffentlichte Doktorarbeit Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Denn ihre Grundausrichtung nimmt bereits jene Spannung in sich auf, die sich durch die biographischen Verwerfungen ergaben, auch wenn man das weder dem Titel noch der Thematik auf Anhieb abzulesen vermag.
Bei der Dissertation handelt es sich um ein 107-seitiges, einzeiliges, schreibmaschinengeschriebenes Manuskript. Es fällt ins Auge, wie sehr Blumenberg bereits in dieser frühen Arbeit mit umfangreichen Bildungsbeständen der Tradition vertraut ist. Er argumentiert mit einer souveränen, wenngleich eklektizistischen Kenntnis der Geistesgeschichte von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart; schon während seiner Schulzeit verfügte Blumenberg über eine über 1200 Titel umfassende, vornehmlich mit theologischen Titeln bestückte Arbeitsbibliothek – sie wurde Opfer des Luftangriffes vom März 1942. Zugleich ist seine Untersuchung, die sich der mittelalterlichen Seinslehre widmet, von einer kognitiven Unruhe erfüllt, die der Unmittelbarkeit der existenziellen Situation zumindest einen indirekten Ausdruck zu verleihen sucht. Die Erfahrungen, die er im Dritten Reich hatte machen müssen, waren auch ein Angriff auf die Stabilität der Tradition, und für die Erschütterung suchte der junge Blumenberg nach einer Sprache. Er fand sie in der Philosophie Martin Heideggers.
Das mag aus heutiger Sicht überraschen. Doch als 1927 Heideggers Sein und Zeit erschien, war es – neben allen philosophischen Anstößen – zuallererst ein Sprachereignis. George Steiner hat darauf verwiesen, die tiefgreifende Krise nach dem Ersten Weltkrieg habe zwischen 1918 und 1927 eine ganze Reihe von Büchern hervorgebracht, »die anders waren als alles andere, was in der Geschichte des abendländischen Denkens und Fühlens zuvor produziert worden war«, und die ihrem Umfang und ihrem extremen Charakter nach »mehr als Bücher sind«:43 Ernst Blochs Geist der Utopie, Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, Karl Barths Kommentar zum Römerbrief, Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung und eben Heideggers Sein und Zeit – Steiner lässt es offen, ob Hitlers Mein Kampf zu diesem Kanon expressionistischer Literatur hinzuzuzählen ist. Es sind für Steiner »gewaltsame Bücher«, und er zitiert als Beleg aus Barths Römerbrief-Kommentar: »Gott spricht Sein ewiges Nein zu der Welt.«44 Diese Bücher glichen literarischen Erdbeben, die im damaligen Leser Erschütterungen verursachten. Ihre Sprache stand bereit, der neuesten Katastrophe einen gebotenen Ausdruck zu verleihen.
Der junge Blumenberg fand in der ihm von Heidegger gebotenen Terminologie der ›Faktizität‹, der ›Nichtigkeit‹ oder der ›Geworfenheit‹ Ausdrucksformen, die er mit seinen Erfahrungen und denen seiner Generation zu füllen vermochte. Das moderne Bewusstsein, schreibt Blumenberg 1947, sei »nicht bei der Erfahrung seiner Selbstmächtigkeit stehen geblieben; im Gegenteil, es wurde zurückgeworfen in zuvor unbekannte Tiefen von Entmächtigung und Verzweiflung. Nichtigkeit, Geworfenheit und Faktizität wurden die beherrschenden Momente der existenziellen Selbsterfahrung. Dem um einen neuen Grund seiner Existenz verzweifelt ringenden Menschen blieb eine Erfahrung, ähnlich jener augustinischen von ›Wahrheit‹ in uns selbst, versagt. In seiner Geworfenheit wurde er immer nur auf sich selbst zurückgeworfen. In der verzweifelt angestrengten und atemlosen Bejahung der eigenen Faktizität suchte der Mensch Grund zu fassen, neue Selbstmächtigkeit zu erringen. Es blieb ihm nichts, als sich der Mündung entgegenzustürzen, in der endlich die Faktizität des Daseins versinkt: es blieb ihm die ›Entschlossenheit zum Tode‹. Es ist so die in der Selbsterfahrung des modernen Menschen erschlossene Verfassung der ›auf sich selbst geworfenen Existenz‹, die in Heideggers Existenzialanalyse ihre Auslegung fand – und in der sich zweifellos ein Zeitalter wiedererkennt.«45
Blumenbergs erregte Verwendung der Heidegger’schen Terminologie – in einer ansonsten eher spröden, scholastischen Diktion der Dissertation –, die er für eine Beschreibung seiner Erfahrungen im Dritten Reich heranzieht, freilich ins existenzialistisch Grundsätzliche gewendet, stellt keine ungebührliche Überstrapazierung des originären Wortgebrauchs dar. Blumenberg hat später mit Nachdruck darauf verwiesen, in Heideggers Sprache habe bereits die weltgeschichtliche Zäsur des Ersten Weltkriegs ihr Echo gefunden: »Dieses geschichtliche Ereignis hat die Grunderfahrung von der Unzuverlässigkeit lebensweltlicher Konstanten verschärft wie nichts zuvor, was auch sonst sich durch den Bruch mit dem 19. Jahrhundert verändert haben mochte. Darf man in dieser Frage Selbstaussagen überhaupt trauen, so wäre die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die letzte gewesen, für die die Annahme fester und Generationen überdauernder Bewußtseinsbestände noch zutreffend gewesen war.«46 Insofern sei Heideggers Entdeckung des Zusammenhangs unter den Begriffen Sinn, Zeit und Geschichte unmittelbarer »Ausdruck der ersten Nachkriegswelt«.47
Das Sprachgewand, das Blumenberg seinen eigenen Erfahrungen umhängt – so ausgeliehen es erscheinen mag, um nicht gleich von ›Jargon‹ zu reden –, mag Ausdruck einer Verlegenheit sein, eigene Worte für das Unfassbare zu finden. Es ist aber nicht mit einer fugenfreien Übereinstimmung mit Heideggers Philosophie zu verwechseln. Darin besteht eine weitere Überraschung, die die Dissertation bereithält: Blumenberg argumentiert von Beginn an mit Heidegger gegen Heidegger. Mag auch sein späteres Verhältnis zum Denker des Seinsgeschickes ein äußerst distanziertes gewesen sein, das