war verblüfft«, gab Denise zu. »Herr Schulte vermutet, dass Frau Harlans Tochter Beatrix die Mutter von Lucie ist.«
»Wenn das zutrifft, warum hat sich diese Beatrix dann nicht gemeldet? Wo hält sie sich auf?«
»Der Studienrat hat angedeutet, dass sie in der Schweiz lebt. Genaueres schien er auch nicht zu wissen.«
»Sonderbar. Die Mutter lebt in der Schweiz, das Kind steht plötzlich in Hechingen auf einer Wiese – und die Großmutter leugnet, es jemals gesehen zu haben.«
»Hm, du siehst in Frau Harlan also bereits Lucies Großmutter. Herr Schulte konnte doch einem Irrtum unterliegen. Nur anhand eines Fotos lässt sich nichts beweisen. Niemand außer dem Studienrat ist die Ähnlichkeit zwischen Lucie und Beatrix Harlan aufgefallen.«
»Wahrscheinlich haben die meisten Leute gleichgültig über das Bild in der Zeitung hinweggesehen. Herr Schulte jedoch … Vielleicht hatte er ein besonderes Verhältnis zu Beatrix Harlan?«
»Möglich. Aber gerade deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass er sich die Ähnlichkeit zwischen Lucie und Beatrix nur einbildet.«
»Aber er hat dir doch ein Foto der jungen Frau gezeigt!«
»Ja. Ich gebe zu, sie gleicht Lucie irgendwie.«
»Und außerdem – Lucie tauchte unweit von Frau Harlans Haus auf«, warf Nick ein. »Hast du vergessen, wie verdächtig die alte Frau sich benahm?«
»Nein. Ich bin neugierig, was Herr Schulte bei ihr ausrichtet.«
Leider stellte sich am nächsten Tag heraus, dass der Studienrat nichts ausgerichtet hatte. Er kam am späten Nachmittag wieder nach Sophienlust und berichtete von seinem Misserfolg. Außer Denise war diesmal auch Nick anwesend, der sich ereiferte: »Es ist bezeichnend, dass Frau Harlan ausgerechnet dann, als fremde Leute vorbeigingen, so laut sprach. Sie hat damit gerechnet, Sie loszuwerden.«
»Wenn sie mir wenigstens Beatrix’ Adresse mitgeteilt hätte«, seufzte der Studienrat. »Aber ich fürchte, die werde ich nie von ihr erhalten. Dabei will ich ja nichts von Beatrix. Das ist längst vorbei. Aber das Kind … Ich muss über das Kind Genaueres erfahren. Gestern war Lucie sehr scheu. Aber wenn sie mich heute wiedersieht, erkennt sie mich vielleicht und legt ihre Schüchternheit ab.«
»Ich fürchte …« Denise hielt zögernd inne. Man merkte dem Studienrat den Wunsch, Lucie wiederzusehen, deutlich an. Durfte sie ihn vereiteln? Herr Schulte hatte ihr nicht erzählt, was Beatrix Harlan ihm bedeutet hatte, doch das konnte auch eine weniger feinfühlige Frau als Denise von Schoenecker leicht erraten.
Die Entscheidung wurde Denise abgenommen, denn Gisela Hiller betrat soeben mit Lucie an der Hand die Halle, in der das Gespräch stattgefunden hatte. »Ich möchte mit Lucie ein wenig spazieren … Oh, ich wollte nicht stören«, unterbrach sich Gisela.
»Sie stören nicht«, meinte Denise freundlich. »Im Gegenteil, Herr Schulte hatte die Absicht, Lucie aufzusuchen, um zu sehen, ob sie heute weniger schüchtern ist.«
Das schien der Fall zu sein, denn Lucie verzichtete darauf, sich hinter Gisela zu verstecken. Sie sah aufmerksam zu dem großen Mann auf. Dieser erwiderte den Blick des Kindes wie selbstvergessen und verzaubert.
Gisela räusperte sich.
»Wenn wir nicht gleich unseren Spaziergang antreten, wird es zu spät«, sagte sie.
Denise, die Wendelin Schulte beobachtet hatte, schlug vor: »Vielleicht möchte Herr Schulte Sie und das Kind bei diesem Spaziergang begleiten?«
»Gern! Mit Freuden!«, beeilte sich der Studienrat zu versichern.
Gisela wäre lieber mit Lucie allein gegangen, aber da sie nicht unhöflich sein wollte, sagte sie ein wenig gezwungen: »Gut. Ich bin dafür, dass wir den Weg, der in den Wald führt, einschlagen.«
»Mir ist jeder Weg recht«, erklärte Wendelin Schulte.
Anfangs ging Lucie an Giselas Hand brav neben den Erwachsenen her. Erst als sie ein paar Glockenblumen, die am Waldrand blühten, entdeckte, machte sie sich los und lief hin, um die Blumen zu pflücken. Wendelins Blicke folgten ihr dabei. Er konnte seine Augen kaum von dem Kind abwenden.
Da das Pflücken der Blumen Zeit in Anspruch nahm, war er stehen geblieben, um auf Lucie zu warten. Gisela stand neben ihm und fühlte sich ziemlich unbehaglich. Sie war nicht der Mensch, der unbedingt Aufmerksamkeit beanspruchte, aber dass Wendelin Schulte so tat, als ob sie Luft wäre, ärgerte sie. Sie kam sich überflüssig vor. Dabei war sie es doch, der man Lucie anvertraut hatte.
»Frau von Schoenecker hat mir erzählt, dass Sie gestern noch nach Hechingen gefahren sind, um sich bei Frau Harlin über Lucies Herkunft zu erkundigen. Hatten Sie Erfolg?«, fragte Gisela. Sie stellte diese Frage nicht aus Neugier, sondern weil sie das Schweigen bedrückte und weil ihr Lucies Schicksal am Herzen lag.
Wendelin zuckte bei Giselas Frage zusammen. Er schien sich erst jetzt ihrer Gegenwart bewusst zu werden.
»Ach, verzeihen Sie, ich muss das Kind immer wieder ansehen. Frau Harlan? Nein, ich hatte keinen Erfolg. Sie hat mich hinausgeworfen, beziehungsweise mich gar nicht in ihr Haus gelassen. Sie hat mich wie einen Verbrecher behandelt«, äußerte er voll Bitterkeit.
Gisela wusste darauf keine Antwort.
»Mathilde Harlan hat mich immer schon gehasst«, fuhr der Studienrat fort. »Dabei habe ich nichts Schlimmes verbrochen, als mich in Beatrix zu verlieben.« Er sah wieder zu dem Kind hinüber. »Lucie ist Beatrix wie aus dem Gesicht geschnitten. Für mich gibt es keinen Zweifel: Sie ist ihre Tochter.«
»Aber warum holt die Mutter nicht ihr Kind?«
Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß es nicht. Diese Frage habe ich mir schon tausendmal gestellt. Aber es soll mir nur recht sein, wenn sich niemand meldet, der Anspruch auf das Kind erhebt.«
»Was soll das heißen?«, fragte Gisela verwundert.
»Ich möchte Lucie zu mir nehmen«, erklärte er einfach. »Meine Mutter ist noch äußerst rüstig. Sie wird sich gewiss gern um das Kind kümmern.«
»O nein«, rief Gisela. »Das geht nicht. Das können Sie nicht machen.«
»Und warum nicht?«, fragte er kühl. »Wer sollte etwas dagegen einzuwenden haben?«
»Sehen Sie denn nicht, dass Lucie nicht wie andere Kinder ist? Wir wissen nicht, was sie bisher erlebt hat, weil sie nicht spricht.«
»Ja, das hat mir Frau von Schoenecker gesagt.«
»Lucie ist seelisch gestört. Es muss etwas in ihrem bisherigen Leben gegeben haben, was sie nicht verkraften konnte. In Sophienlust hat man sich sehr um sie bemüht, aber sie will nicht mit den anderen Kindern spielen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie allmählich gelöster und aufgeschlossener wird. Mir gegenüber ist sie schon recht zutraulich. Ich bin sicher, es wird nicht mehr lange dauern, bis ich sie zum Reden bringe. Es wäre sehr schlecht, wenn Sie versuchen würden, sie hier herauszureißen. Das dürfen Sie nicht.«
Wendelin lächelte leicht über Giselas Eifer. »Sie reden, als ob ich die Kleine sofort mitnehmen wollte. Ich weiß, dass das nicht möglich ist. Ich dachte an die Zukunft. Für immer kann Lucie nicht in Sophienlust bleiben.«
»Es gibt mehrere Kinder, die immer in dem Heim sind«, wandte Gisela ein.
Wendelin hörte ihr jedoch nicht mehr zu. Sein Gesicht hatte sich wieder umschattet. »Außerdem muss ich erst wissen, wo Beatrix sich aufhält«, sagte er. »Frau Harlan wollte nicht mit der Sprache herausrücken.« Er schilderte Gisela die Szene vor dem Gartentor. Dabei wunderte er sich, wie leicht es ihm fiel, diesem ernsten Mädchen mit den fragenden grauen Augen alles zu erzählen. Am Tage zuvor war Gisela ihm so abweisend vorgekommen, aber jetzt hörte sie ihm teilnahmslos zu.
Wendelin ertappte sich dabei, dass er zu Gisela von Dingen sprach, die er Denise von Schoenecker gegenüber nicht erwähnt hatte. Er hatte Hemmungen verspürt, das, was vor vier Jahren geschehen war, wieder