Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman


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Schulte nickte grimmig. »Sie brauchen mir die alte Frau Harlan nicht zu beschreiben. Ich kenne sie«, sagte er mit eigentümlicher Betonung. »Aber Beatrix – ich halte sie für Lucies Mutter«, eröffnete er Denise.

      »Nur auf Grund des Bildes?«

      »Ich habe einmal zusammen mit Beatrix ein Fotoalbum durchgeblättert«, erzählte er. »Darin gab es ein Bild, das Beatrix im Alter von drei Jahren zeigte. Es glich dem Bild, das in den Zeitungen veröffentlicht wurde, aufs Haar. Im ersten Augenblick glaubte ich, das Foto aus dem Album vor mir zu haben. Erst beim Lesen des Textes wurde mir klar, dass es sich nicht um das Bild von Beatrix handelte. Ich habe die Ähnlichkeit für einen Zufall gehalten. Zumindest versuchte ich, mir das einzureden. Das ist mir aber misslungen, und deshalb bin ich heute hier.«

      »Aber wenn Beatrix Harlan Lucies Mutter ist, warum hat sie sich dann nicht gemeldet?«

      »Ich weiß es nicht. Wie ich erwähnte, ist es dreieinhalb Jahre her, seit …« Er stockte. »Ich habe angenommen, dass Beatrix in der Schweiz lebt. Sie ist damals zu ihrem Verlobten gefahren. Aber sie selbst haben von einer Frau in einem Laden gesprochen …«

      »Ja.« Denise erzählte Herrn Schulte nun, dass Lucie plötzlich neben der Huber-Mutter gestanden hatte, dass sie daraufhin zu dem Haus von Frau Harlan gekommen waren. Dann schilderte sie ihm Frau Harlans Auftritt und Nicks detektivische Leistung in dem Lebensmittelgeschäft. Sie bemühte sich, kein Detail auszulassen.

      »Frau Harlan wird also hin und wieder von ihrer Tochter besucht«, sagte Herr Schulte nachdenklich, nachdem Denise ihre Erzählung beendet hatte. »Hat die Frau in dem Laden nicht gesagt, welche Tochter Frau Harlan besucht?«

      »Welche Tochter?«, wiederholte Denise verständnislos.

      »Frau Harlan hat zwei Töchter«, erklärte Wendelin Schulte. »Beatrix und Lydia.«

      »Oh, davon war nicht die Rede«, meinte Denise. »Die Frau hat zuerst ein Fräulein Beatrix und dann die Tochter erwähnt. Wir haben natürlich angenommen, dass sie damit ein und dieselbe Person meinte.«

      »Ich werde selbst nach Hechingen fahren und Frau Harlan zur Rede stellen«, erklärte Wendelin Schulte. »Aber zuvor würde ich gern das Kind sehen«, bat er.

      »Selbstverständlich«, erwiderte Denise und ging mit ihm in den Garten.

      Gisela und Heidi hatten Lucie überreden können, sich auf die Schaukel zu setzen. Als sie nun von Gisela sanft angestoßen wurde, ging ein Leuchten über ihr Gesichtchen.

      »Das ist lustig, nicht wahr?«, rief Heidi. »Soll Gisela dir einen stärkeren Schubs geben, damit du höher hinauffliegst?«

      Selbstvergessen öffnete Lucie den Mund, um eine Antwort zu geben, doch sogleich schloss sie ihn wieder und rutschte von der Schaukel. Dabei sah sie aufmerksam in die Richtung, in der das Haus lag.

      Gisela folgte ihrem Blick und sah, dass Denise von Schoenecker mit einem fremden Mann näherkam.

      Denise stellte Gisela den Fremden als Studienrat Wendelin Schulte vor und sagte dann: »Und das hier ist Frau Hiller. Sie kümmert sich sehr um die kleine Lucie. Seit sie hier ist, ist Lucie wesentlich aufgeschlossener geworden.«

      Lucie schien jedoch Denise Lügen strafen zu wollen, denn sie versteckte sich hinter Gisela.

      »Fremden gegenüber ist sie leider noch immer scheu«, meinte Denise entschuldigend.

      »Fremden gegenüber«, wiederholte Wendelin Schulte leise. Er merkte, dass er von Gisela Hiller unfreundlich betrachtet wurde, und wunderte sich darüber. Er hatte der jungen Frau doch nichts getan.

      Lucie war nicht zu bewegen, hinter Giselas Rücken hervorzukommen, sosehr Denise sich auch darum bemühte. Gisela half Denise nicht bei ihren Bemühungen, sondern stand stocksteif da.

      Der Studienrat verabschiedete sich schließlich ein wenig traurig und erklärte, dass er die Absicht habe, sofort nach Hechingen zu fahren.

      Nachdem er gegangen war, fragte Denise: »Warum waren Sie so ungehalten über den Besuch Herrn Schultes?«

      »Er ist gerade im ungünstigsten Moment hereingeplatzt«, beschwerte sich Gisela. »Ich bin sicher, Lucie war nahe daran, etwas zu sagen und wenn es nur ein einziges Wort gewesen wäre. Der fremde Mann hat sie erschreckt, und jetzt hat sie sich wieder wie eine Schnecke in ihr Gehäuse verkrochen.«

      »Das tut mir leid.«

      »Was wollte er überhaupt von Lucie?«, erkundigte sich Gisela.

      Denise zögerte mit der Antwort. Schließlich sagte sie: »Ich will Ihnen gerne erzählen, weshalb Herr Schulte gekommen ist, aber nicht hier vor dem Kind. Man weiß nie, was es versteht und was nicht. Manchmal glaube ich, dass es mehr begreift, als man für möglich hält.«

      »Ja, das glaube ich auch.«

      »Wenn Sie Lucie einstweilen zur Huber-Mutter bringen, werde ich Ihnen Herrn Schultes Geschichte wiedererzählen.«

      *

      Als der Studienrat in Hechingen angelangt war, brauchte er nicht nach dem Weg zu fragen, der zu dem Haus von Frau Harlan führte. Er kannte ihn nur allzu gut.

      Erst nachdem er dreimal geläutet hatte, erschien Mathilde Harlan am Gartentor. Als sie den Besucher erkannte, prallte sie erschrocken zurück. Sie gewann ihre Fassung jedoch schnell zurück und fragte mit unwirscher Stimme: »Was wollen Sie von mir? Ich hatte gehofft, Sie nie mehr wiederzusehen.«

      »Dasselbe könnte ich von mir behaupten«, erwiderte Wendelin Schulte kalt. »Ich bin wegen des Kindes gekommen. Ich habe Lucies Bild in der Zeitung gesehen. Ihre Ähnlichkeit mit Beatrix hat mich überwältigt. Dann war ich in Sophienlust …«

      »Ich habe mit dem Kind nichts zu schaffen«, unterbrach Mathilde ihn schnell. »Das habe ich auch diesem unverschämten Jungen versichert, der sich in meine Angelegenheit einmischen wollte. Er besaß doch wirklich die Unverfrorenheit, mich zu fragen, ob ich allein in dem Haus hier wohne.«

      »Und? Wohnen Sie allein hier?«

      »Obwohl ich Ihnen keine Auskunft schuldig bin, sollen Sie es wissen. Jawohl, ich wohne allein hier. Mutterseelenallein.«

      »Aber das Kind! Diese Ähnlichkeit kann kein Zufall sein. Ich bin überzeugt, dass es sich bei Lucie um Beatrix’ Tochter handelt.«

      Die alte Frau biss sich auf die Lippen. »Sie sind verrückt«, sagte sie schließlich mit schwankender Stimme. »Sie steigern sich in Vorstellungen hinein, die mit der Realität nichts zu tun haben. Gehen Sie! Ich will Sie nicht mehr sehen. Nur Sie sind an allem Unglück schuld.«

      Nach dieser ominösen Mitteilung drehte sie sich um und wollte ins Haus gehen.

      »Halt! Warten Sie!«, rief Wendelin Schulte ihr nach. »Ich verlange Auskunft über den Aufenthaltsort von Beatrix. Ich will selbst mit ihr sprechen. Sie muss mir sagen, welche Bewandtnis es mit dem Kind hat.«

      »Mit Beatrix wollen Sie sprechen? Mit Beatrix?« Das Gesicht der alten Dame verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. »Das wird nicht gut möglich sein«, sagte sie.

      »Dann werde ich ihr schreiben.«

      Ein Pärchen schlenderte eng umschlungen die Straße dahin. Frau Harlan sah die beiden und nützte den günstigen Augenblick.

      »Wagen Sie es ja nicht, mich alte Frau zu belästigen«, rief sie mit erhobener Stimme. »Verschwinden Sie, und kommen Sie nie wieder hierher.«

      Wendelin Schulte bemerkte, dass der junge Mann das Mädchen losließ und argwöhnische Blicke herübersandte. Er schien drauf und dran, Mathilde Harlans Partei zu ergreifen. Da der Studienrat keinen Wert auf eine Auseinandersetzung in aller Öffentlichkeit legte, blieb ihm nichts anderes übrig, als in sein Auto einzusteigen und davonzufahren.

      *

      Dass Nick triumphierte, wäre zu viel gesagt. Eine gewisse Genugtuung konnte er sich jedoch nicht verkneifen, als seine Mutter ihm von dem Besuch Herrn Schultes erzählte.