für Sie, sondern für Lucie«, unterbrach Gisela ihn schroff.
Wendelin warf ihr daraufhin einen etwas betroffenen Blick zu, sagte jedoch nichts mehr. Als sie wieder in Sophienlust angelangt waren, versuchte er, Lucie zum Abschied einen zärtlichen Kuss auf die Stirn zu drücken. Die Kleine schien jedoch etwas gegen diesen Annäherungsversuch zu haben, denn sie entwand sich seinen Armen und hüpfte zur Huber-Mutter, die wartend neben dem Tor stand.
»Ich fürchte, ich habe bei Frauen wenig Glück«, sagte Wendelin, zu Gisela gewandt. Er versuchte seiner Stimme einen humorvollen Anstrich zu geben, aber man hörte seine Niedergeschlagenheit doch deutlich heraus. Schließlich fragte er noch:
»Sind Sie bei Ihrem Entschluss, mich am Sonntag nach Hechingen zu begleiten, geblieben?«
»Ja, natürlich.«
»Ich werde um ein Uhr in Wildmoos sein. Soll ich Sie hier oder von Dr. Frey abholen?«
»Ich werde hier auf Sie warten«, versprach Gisela.
*
Als Anja von dem geplanten Ausflug nach Hechingen erfuhr, horchte sie auf. »Du hast Herrn Schulte also angeboten, ihn zu begleiten?«, fragte sie Gisela.
»Ja. Es ist mir so herausgerutscht, ohne dass ich es eigentlich wollte.«
»Wieso ohne dass du es wolltest? Ist Herr Schulte ein unsympathischer Mensch?«
»Er unterrichtet Mathematik«, erklärte Gisela mit Unbehagen.
Anja lachte. »Hat er dich etwa mit Fachsimpelei aus diesem Gebiet belästigt?«, neckte sie ihre Kusine. Sie erinnerte sich noch gut, dass Gisela in der Schule mit diesem Fach gekämpft hatte.
»Nein, das hat er nicht«, erwiderte Gisela. »Er hat diesen Gegenstand mit keinem Wort erwähnt. Ich weiß es von Frau von Schoenecker.«
»Wie sieht er denn aus?«
»Ach, was weiß ich. Er ist groß und dünn«, erklärte Gisela vage. »Meinst du …, hast du den Eindruck, dass ich mich aufgedrängt habe?«
»Nein. Wie ich höre, ist er ja bereitwillig auf deinen Vorschlag eingegangen. Zieh auf alle Fälle am Sonntag dein neues blaues Kleid an«, riet Anja ihrer Kusine.
»Willst du etwa …?« Gisela schnappte nach Luft. »O nein! Gib dich nur ja keinen Hoffnungen hin. Ich bin Herrn Schulte völlig gleichgültig. Er hat keine andere Frau im Sinn als seine Beatrix.«
»Hm. Glaubst du, er ist Lucies Vater?«
»Er scheint sich dafür zu halten.«
Anja ließ das Thema fallen. Am Sonntag sah sie jedoch mit Genugtuung, dass Gisela ihrem Rat hinsichtlich des Kleides gefolgt war.
Wendelin Schulte erwartete Gisela bereits in Sophienlust. Bevor sie in sein Auto einstieg, begrüßte sie noch Lucie und nickte der Huber-Mutter, die das Kind an der Hand hielt, zu. »Halten Sie uns bitte die Daumen, dass wir mit unserer Expedition Erfolg haben«, sagte sie zu der alten Frau.
»Ja, das werde ich«, erwiderte die Huber-Mutter und hielt Lucie, die Anstalten traf, zu Gisela ins Auto zu klettern, zurück. »Nein, du musst bei mir bleiben. Wir werden uns die Zeit, bis Gisela wieder zurückkommt, schon vertreiben. Ich werde dir und Heidi eine lange Geschichte erzählen«, versprach sie.
Das Kind zog trotzdem die Mundwinkel herab und brach in ein lautloses Weinen aus.
»Aber, Lucie, sei doch nicht traurig«, versuchte Gisela das Mädchen zu beruhigen. »Am Abend bin ich wieder bei dir. Ein anderes Mal nehmen wir dich auch mit, aber heute ist das leider nicht möglich.«
Lucie erweckte nicht den Eindruck, Giselas Worte verstanden zu haben, sodass Wendelin sagte: »Komm, Lucie, sei vernünftig. Ich bringe dir deine Gisela am Abend wohlbehalten wieder zurück.« Zugleich spürte er, dass bei seinen Worten eine leichte Eifersucht in ihm aufstieg. Es war offensichtlich, dass es Lucie nur um Gisela ging. Er selbst konnte fahren, wohin er wollte.
Die Huber-Mutter machte der Szene ein Ende, indem sie Lucie einfach wegführte, und dem Kind eine Geschichte erzählte, sodass es seinen Kummer vergaß.
*
Gisela und Wendelin waren mittlerweile unterwegs nach Hechingen. Sie sprachen wenig während der Fahrt. Gisela wurde Lucies wegen von Gewissensbissen gequält. Das tränenüberströmte Gesichtchen des Kindes verfolgte sie.
»Ist es noch weit bis Hechingen, Herr Schulte?«, erkundigte sie sich nach längerem Schweigen.
»Nein«, erwiderte er. Dann fuhr er nach einem kurzen Zögern fort: »Sie dürfen mich nicht länger Herr Schulte nennen. Ich heiße Wendelin. Sie müssen sich auch dazu durchringen, mich zu duzen. Frau Harlan könnte sonst misstrauisch werden und nicht an unsere Freundschaft glauben.«
»Ja, sicher«, murmelte Gisela verlegen.
Als sie vor dem schmiedeeisernen Tor der Villa standen, wuchs Giselas Unbehagen. Sie presste, wie damals Pünktchen, ihr Gesicht gegen die Eisenstäbe, um in den Garten zu sehen, während Wendelin läutete.
»Sehen Sie – sieh doch«, verbesserte sich Gisela rasch, »da drinnen arbeitet ein alter Mann. Er stutzt eine Ligusterhecke. Ob wir ihn rufen sollen?«
Doch das erwies sich als unnötig. Der Mann kam herbeigeschlurft und fragte Wendelin nach seinen Wünschen.
»Ich möchte Frau Harlan sprechen. Ich habe bereits geläutet, aber anscheinend hat sie mich nicht gehört«, erwiderte Wendelin.
»Ich werde das Hausmädchen holen, damit es Ihnen öffnet«, versprach der Gärtner, der von keinerlei Misstrauen gegen die Besucher erfüllt zu sein schien.
Gisela und Wendelin sahen einander an. »Das Hausmädchen?«, flüsterte Gisela mit fragender Stimme. »Damals, als Frau von Schoenecker hier war, hat die alte Frau keine Dienstboten beschäftigt.«
»Allem Anschein nach ist eine Wandlung eingetreten«, erwiderte der Studienrat. »Auch bei meinem Besuch vorige Woche lebte Mathilde Harlan noch allein hier.«
»Die Fensterscheiben!«, rief Gisela lauter, als beabsichtigt, dämpfte jedoch ihre Stimme sogleich. »Sie sind geputzt!«
»Na und!«
»Nick hat erzählt, dass sie völlig verschmutzt waren. Das Haus war verwahrlost …«
Durch das Erscheinen des Hausmädchens wurde Gisela unterbrochen. Das Mädchen war sehr jung und etwas unbeholfen. Es öffnete das Tor und ließ Wendelin und Gisela eintreten. Ohne die beiden nach ihrem Anliegen zu fragen, sagte sie unter leichtem Stottern: »Ich werde Sie in den Salon führen, und Frau Harlan von Ihrer Ankunft verständigen.«
Als Wendelin mit Gisela allein war, ließ er seine Blicke im Salon umherschweifen. »Nichts hat sich hier verändert, seit ich zum letzten Mal hier war«, seufzte er. »Beinahe sehe ich Beatrix vor dem Flügel sitzen und spielen.«
»Es ist düster und ungemütlich hier. Ich mag diesen Raum nicht«, hauchte Gisela.
»Das bewirken die dunklen Möbel«, erklärte Wendelin. »Sie sind sehr alt und sehr kostbar.«
»Mag sein. Aber irgendwie …« Gisela trat zu einem der hohen Fenster und blickte hinaus. »Kein Sonnenstrahl verirrt sich hier herein, obwohl die Fenster so groß sind«, meinte sie. Sie konnte einen leichten Schauder nicht unterdrücken.
»Ja, es ist kühl hier drinnen. Ich hätte daran denken und Ihnen …, und dir sagen sollen, dass du eine Strickjacke mitnehmen sollst.«
»Es ist nicht allein die Kälte«, murmelte Gisela, »sondern …, ich fürchte mich«, gestand sie kläglich.
»Unsinn! Wovor denn?«
»Nun, zum Beispiel vor diesem Bild da.« Gisela deutete auf ein Gemälde in einem schweren Goldrahmen. Es stellte eine junge Frau dar, die in der Mode der Jahrhundertwende gekleidet war. Trotz ihrer Jugend war diese Frau hässlich. Die stechenden Augen wirkten geradezu abstoßend.
Der