er verzweifelt.
»Du darfst dir an dem Geschehenen keine Schuld geben«, sagte Gisela sanft. »Diese fürchterliche alte Frau hat Beatrix irgendwie beeinflusst, sodass sie das Baby verheimlichte. Und dann ist Beatrix gestorben. Diese Lungenentzündung …« Gisela verstummte und dachte nach. »Man müsste sich mit dem Arzt, der den Totenschein ausfertigte, in Verbindung setzen. Er müsste Näheres über Beatrix Harlans Tod wissen.«
»Es sind seitdem drei Jahre vergangen«, bemerkte Wendelin mutlos. »Er wird sich kaum noch erinnern können.«
»Hast du nicht einmal erwähnt, dass Beatrix eine Schwester besaß?«, erkundigte sich Gisela.
»Ja, Lydia.«
»Vielleicht sollten wir diese Lydia aufsuchen? Kennst du ihre Adresse? Möglicherweise kann sie uns über das, was vor drei Jahren wirklich geschah, Auskunft geben.«
»Dazu wird sie bestimmt nicht bereit sein. Ich muss dich darüber aufklären, dass Lydia Harlan das genaue Ebenbild ihrer Mutter ist.«
»Oh!«
»Ja. Ich mochte sie sogar noch weniger leiden als Mathilde Harlan. Manchmal habe ich mich gewundert, wie Beatrix in diese Familie kam. Sie war nämlich ganz anders als ihre Mutter und Schwester. Ihren Vater habe ich nicht gekannt. Sie dürfte ihm nachgeraten sein.«
»Und Lucie hat zum Glück auch keine Ähnlichkeit mit Mathilde Harlan«, stellte Gisela aufatmend fest. Dann sah sie auf die Uhr. »Es ist ziemlich spät geworden«, meinte sie erschrocken. »Lucie wird sehnsüchtig auf uns warten.«
»Nur auf dich. Auf mich gewiss nicht«, erwiderte Wendelin.
»Du darfst deswegen nicht eifersüchtig sein«, meinte Gisela. »Wir werden es schon schaffen, dass sie auch zu dir Vertrauen bekommt. Es gehört eben viel Geduld und Einfühlungsvermögen dazu.«
»Und beides besitzt du in hohem Maße«, erklärte Wendelin warm.
»Ach, ich …, ich bin eben gern mit Kindern zusammen«, wehrte Gisela dieses Lob bescheiden ab.
»Lucie ist dir wirklich sehr zugetan. Sie will sich ja kaum noch von dir trennen.«
»Ja.« Gisela runzelte die Stirn. Hoffentlich habe ich sie durch mein langes Ausbleiben heute nicht enttäuscht. Sonderbar, sonst lässt sie mich am Abend ohne Weiteres nach Hause gehen.«
»Dass du mit dem Auto weggefahren bist, dürfte sie verunsichert haben«, mutmaßte Wendelin. »Aber wenn sie sieht, dass ich dich sicher wieder nach Sophienlust zurückgebracht habe, wird sie zufrieden sein und dir den Ausflug nicht weiter nachtragen. Sie weiß ja leider nicht, dass du ihn ihretwegen unternommen hast.«
»Um sie für den Nachmittag zu entschädigen, werde ich mich am Abend besonders intensiv mit ihr befassen«, nahm sich Gisela vor.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Wendelin parkte seinen Wagen neben dem Tor, das in den Park von Sophienlust führte, und begleitete Gisela anschließend bis zum Haus. Er wollte Lucie, von der er nun überzeugt war, dass sie seine Tochter war, noch kurz begrüßen.
In der Halle kam ihnen Schwester Regine entgegen. Sie wirkte bleich und abgehetzt. »Endlich sind Sie da!«, rief sie den Ankömmlingen entgegen.
»Was ist passiert?«, fragte Gisela.
»Lucie ist verschwunden«, stieß Schwester Regine hervor.
»Lucie verschwunden?«, wiederholte Gisela bestürzt. »Aber wieso? Seit wann?«
»Es muss bald nach Ihrer Abfahrt geschehen sein«, erwiderte Schwester Regine. »Die Huber-Mutter hat ihr eine Geschichte erzählt, um sie abzulenken. Dann hat sie vorgeschlagen, dass Heidi mit Lucie ein bisschen im Sandkasten spielt. Heidi hat begeistert ihre Sandeimer und Schaufeln geholt, um einen Teil davon Lucie zu borgen. Auch Lucie schien mit dem Sandspielen einverstanden gewesen zu sein. Doch da sie nicht spricht, weiß man bei ihr ja nie, woran man ist. Der Huber-Mutter war es neben dem Sandkasten zu heiß, deshalb hat sie sich im Park ein schattiges Plätzchen gesucht. Heidi hat eine Weile mit Lucie gespielt. Doch dann ist sie auf eine unglückliche Idee gekommen, im Sandkasten einen kleinen Teich anzulegen.«
»Wieso unglücklich?«, warf Wendelin ein.
»Weil Heidi zwei Sandeimer geschnappt hat und weggelaufen ist, um Wasser zu holen. Lucie ist allein beim Sandkasten geblieben. Aber als Heidi zurückkam, war sie fort.«
»Aber da kann sie doch nicht weit sein.«
»Das haben wir auch angenommen und den Park durchsucht. Sie war jedoch nirgends zu finden. Anschließend haben wir das Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsucht. Da es sehr geräumig ist, waren wir bis vor Kurzem damit beschäftigt. Jetzt sind die größeren Kinder ausgeschwärmt, um die Umgebung abzusuchen. Aber ich fürchte, es wird nötig sein, die Polizei zu verständigen.«
»Die Huber-Mutter hat nichts bemerkt?«, fragte Gisela.
»Nein. Die Ärmste ist völlig gebrochen. Ich habe sie gebeten, sich hinzulegen, aber natürlich ist sie zu aufgeregt dazu. Ich werde Frau Dr. Frey rufen, damit sie der alten Frau ein Beruhigungsmittel gibt, sonst grämt sie sich noch zu Tode.«
»Ich werde Anja anrufen, und sie bitten, sogleich zu kommen«, erbot sich Gisela und ging zu dem kleinen Tischchen, auf dem das Telefon stand.
Schwester Regine strich sich mit einer ungeduldigen Handbewegung die Haare aus der Stirn. »Sollen wir auch beim Polizeirevier anrufen oder noch zuwarten?«, erwog sie.
»Was sagt Frau von Schoenecker?«, fragte Wendelin.
»Sie ist nicht zu erreichen. Sie war heute mit ihrer Familie bei Bekannten eingeladen und ist noch nicht zurück. Natürlich will ich ihrer Entscheidung nicht vorgreifen, aber ich halte es nicht aus, noch länger zu warten.«
Gisela hatte inzwischen das Gespräch mit Anja beendet. »Anja wird gleich hier sein«, teilte sie Wendelin und Schwester Regine mit.
»Gut. Dann sind wir wenigstens die Sorge um die Huber-Mutter los«, erwiderte Schwester Regine und griff nach dem Telefonhörer, den Gisela soeben aufgelegt hatte. »Selbst auf die Gefahr hin, dass ich die Polizei unnötig alarmiere …«
»Hoffentlich ist es unnötig«, seufzte Gisela.
Wendelin sagte gar nichts. Er war sehr erschrocken. Erst vor wenigen Stunden hatte er vom Tod seiner geliebten Beatrix erfahren, und nun erwartete ihn hier ein neuer Schock. Benommen lauschte er den Worten Schwester Regines, die Polizeimeister Kirsch um Hilfe bat.
Der freundliche Herr Kirsch versprach, sein Möglichstes zu tun und aus Maibach Verstärkung anzufordern. »Wir müssen uns beeilen«, fügte er hinzu, »damit wir das Kind noch vor Einbruch der Dunkelheit finden.«
Kurze Zeit später setzte die Suche nach Lucie in vollem Umfang ein. Aber sie blieb vergeblich. Bald brach die Dämmerung herein, und dann wurde es so finster, dass man nichts mehr sehen konnte.
»Hätte ich Polizeimeister Kirsch bloß früher verständigt«, jammerte Schwester Regine. »Lucie hat sich wahrscheinlich im Wald verirrt. Sie ist ja noch so klein.«
»Gerade weil sie klein ist, kann sie nicht weit gekommen sein«, meinte Gisela. »Morgen wird sie bestimmt gefunden werden. Sie muss einfach gefunden werden.«
Gisela spürte, dass ihre Stimme hysterisch klang. Sie biss sich auf die Lippen. Sie durfte ihre Beherrschung nicht verlieren. Damit war niemand gedient.
»Du musst heimfahren«, erinnerte sie Wendelin leise.
»Heimfahren? O nein, das kann ich nicht.«
»Doch.« Gisela erhob sich. »Ich werde auch heimfahren. Es nützt nichts, wenn wir hier sitzen und klagen.«
Wendelin sah ein, dass Gisela recht hatte. Er verabschiedete sich von Schwester Regine und von den größeren Kindern, die niedergeschlagen in der Halle umherschlichen. Die kleineren wurden von Frau Rennert soeben zu Bett gebracht.
»Ich kann nicht schlafen«, weinte Heidi. »Wenn ich