Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman


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      Als das Dienstmädchen ihr öffnete, prallte Lydia zurück. »Wer sind Sie? Was treiben Sie hier?«, fragte sie ungehalten.

      »Ich bin Gaby. Frau Harlans neues Mädchen.«

      Lydia fegte an Gaby, vorbei ins Haus und rief ungestüm nach ihrer Mutter.

      Mathilde Harlan kam langsam die Treppe herab. »Ach, du beehrst mich mit deinem Besuch«, äußerte sie kühl, als sie ihre Tochter anblickte. »Höchste Zeit. Wo hast du so lange gesteckt?«

      »Seit wann beschäftigst du ein Hausmädchen?«, fragte Lydia, statt ihrer Mutter eine Antwort auf ihre Frage zu geben.

      »Seit ungefähr einer Woche.«

      »Mama! Wie kommst du dazu? Was ist während meiner Abwesenheit vorgefallen? Hast du die heutige Zeitung gelesen?«

      »Nein.«

      »Hier ist sie.« Lydia öffnete ihre Handtasche und nahm die Zeitung heraus. »Sieh dir dieses Bild an. Das ist eindeutig Lucie. Mich hat beinahe der Schlag getroffen, als ich das Foto sah. Wie ist es dazu gekommen, dass Lucie in einem Krankenhaus liegt?«

      »Was weiß ich?«, sagte Mathilde Harlan mürrisch.

      »Mama, ich lasse mich nicht so einfach abspeisen. Was hast du mit Lucie gemacht?«

      »Nichts.«

      »Hier steht, dass sie lebensgefährlich verletzt ist. Wenn ich mich nur darauf verlassen könnte. Wenn du es schon riskiert hast, warum hast du es nicht gleich gründlich erledigt?«

      »Lydia! Bist du verrückt geworden? Was unterstellst du mir da? Willst du etwa andeuten, dass ich Lucie aus dem Weg räumen wollte?«

      »Nun, ich weiß, dass dir das Kind immer lästig war. Daher ist meine Vermutung nicht so ganz von der Hand zu weisen.«

      »Und ich weiß, dass in dir nicht ein Funken von …, von Anstand steckt«, sagte Mathilde Harlan bitter. »Ich habe das schon immer gewusst, aber ich wollt es nicht wahrhaben. Du warst meine Lieblingstochter …«

      »Was hat das mit Lucie zu tun?«, unterbrach Lydia ihre Mutter. »Willst du vielleicht abstreiten, dass dir der Balg unbequem war?«

      »Lucie ist kein Balg. Sprich nicht so von meinem Enkelkind.«

      Lydia sah ihre Mutter fassungslos an. »Du trägst zu dick auf«, meinte sie. »Mir gegenüber brauchst du nicht so zu tun, als ob du für Lucie Zuneigung empfinden würdest. Du wolltest sie loswerden, aber irgendetwas scheint dabei nicht geklappt zu haben.«

      »Ich wollte sie nicht loswerden. Begreife das endlich. Sie ist mir entwischt.«

      »Entwischt? Dann hast du nicht ordentlich auf sie aufgepasst.«

      »Du hast ja keine Ahnung, wie schwierig es ist, ein dreijähriges Kind versteckt zu halten. Solange Lucie noch ein Baby war, war das leichter. Aber in letzter Zeit ist sie sehr lebhaft geworden. Sie war neugierig. Sie wollte den Garten erkunden und sie hat gefragt, was draußen ist.«

      »Du hast sie doch hoffentlich nicht in den Garten gelassen? Nicht auszudenken, wenn jemand sie gesehen hat.«

      »Niemand hat sie gesehen. Oft habe ich sie ja nicht hinausgelassen.«

      »Wieso ist sie dir dann entwischt?«

      Mathilde Harlan zuckte mit den Schultern.

      »Ich muss vergessen haben, die Haustür abzuschließen«, gestand sie. »So ist sie unbemerkt in den Garten gekommen. Von dort hinauszuschlüpfen war für Lucie nicht schwer. Ein paar Gitterstäbe waren ausgebrochen. Wahrscheinlich hat sie diese Lücke benützt, um zu entkommen.«

      »Warum hast du das Gitter nicht reparieren lassen?«

      »Du hast leicht reden. Dabei warst du diejenige, die mir immer wieder eingeschärft hat, ja niemanden auf unser Grundstück zu lassen. Überhaupt ist es eine Frechheit von dir, mir Vorwürfe zu machen«, fuhr Mathilde Harlan mit erhobener Stimme fort.

      »Pst, sei leise. Das Hausmädchen könnte unser Gespräch belauschen«, warnte Lydia.

      »Dazu ist Gaby zu schüchtern«, meinte Mathilde Harlan.

      »Trotzdem möchte ich unser Gespräch lieber im Wohnzimmer hinter verschlossenen Türen fortsetzen«, beharrte Lydia.

      Mathilde Harlan beugte sich dem Wunsch ihrer Tochter und führte sie ins Wohnzimmer, wo Lydia mit ihren Vorhaltungen fortfuhr. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, ein Hausmädchen zu engagieren?«, fragte sie aufgebracht.

      »Ich habe mich lange genug allein mit dem Haushalt geplagt und das Haus und den Garten verkommen lassen, weil meine Kräfte nicht ausreichten«, erwiderte Mathilde Harlan. »Nachdem Lucie fort war und ich geleugnet hatte, sie zu kennen …«

      »Geleugnet? Hat dich denn jemand nach ihr gefragt? Besteht ein Verdacht oder gar ein Beweis dafür, dass ein Zusammenhang zwischen dir und Lucie besteht?«

      »Es gibt keine Beweise. Und verdächtigen kann mich, wer Lust dazu verspürt. Das ist mir egal«, meinte Mathilde Harlan trotzig.

      »Dem Zeitungsartikel habe ich entnommen, dass Lucie nicht spricht. Das ist für uns ein ungeheures Glück. Übrigens gibt mir der Artikel auch einige Rätsel auf. Was bedeutet Sophienlust?«

      »Das ist ein Kinderheim. Leute aus diesem Heim haben Lucie gefunden und sich ihrer angenommen. Ein Junge aus diesem Heim hat sich als äußerst lästig erwiesen, aber es ist mir gelungen, ihn abzuwimmeln. Außerdem war Wendelin Schulte hier. Ihm ist die Ähnlichkeit zwischen Beatrix und Lucie aufgefallen, als er das Bild in den Zeitungen und im Fernsehen sah.«

      »Im Fernsehen? Dann ist Lucies Bild schon früher veröffentlicht worden?«

      »Ja.«

      »Und ich wusste nichts davon.«

      »Schieb nur ja nicht die Schuld daran mir in die Schuhe. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich dich hätte erreichen können. Wo hast du eigentlich gesteckt?«

      »Ich habe eine Kreuzfahrt unternommen.«

      »Das sieht dir ähnlich. Mir hast du die Verantwortung für Lucie aufgebürdet, damit du dich in der Welt herumtreiben kannst. Und jetzt kommst du her und überschüttest mich mit Vorwürfen. Drei Jahre lang war ich hier im Haus eingesperrt und musste auf jegliche Abwechslung verzichten. Du hast dich um nichts gekümmert. Wie oft habe ich dich gebeten, Kleidungsstücke für Lucie zu besorgen, weil ich das Haus nicht verlassen konnte.«

      »Ich habe Schuhe, Strümpfe und einen Mantel gekauft«, verteidigte sich Lydia.

      »Und auf Unterwäsche und Kleider hast du vergessen. Ich war gezwungen, die alten Sachen von Beatrix hervorzusuchen und sie Lucie anzuziehen.«

      »Für Lucie war das gut genug«, entgegnete Lydia böse.

      »Du bist herzlos.«

      »Du etwa nicht? Gib doch zu, dass Lucies Flucht eine Erleichterung für dich bedeutet. Vielleicht war es das beste für uns. Lange hätte es ohnehin nicht so weitergehen können wie bisher.«

      »Du redest, als ob Lucie nicht mir, sondern dir zur Last gefallen wäre«, brauste Mathilde Harlan auf.

      »Wie hast du Wendelin Schulte abgefertigt?«, versuchte Lydia ihre Mutter abzulenken.

      »Das war nicht einfach. Er ist zweimal hier aufgekreuzt. Das zweite Mal übrigens mit einem Mädchen, das er als seine Verlobte bezeichnete.«

      »Der gute Wendelin«, höhnte Lydia. »So hat er sich also über Beatrix’ Verlust hinweggetröstet. Hast du es ihm gesagt?«

      »Was? Glaubst du, ich bin so dumm, ihm zu erzählen, dass er Lucies Vater ist?«

      »Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich wollte wissen, ob du ihn über Beatrix’ Ableben informiert hast.«

      »Ja. Ich habe ihn zu ihrem Grab geführt.«

      »Und? War er zufrieden?«