ist viel zu sehr in unserer Nähe.« Entschlossen sah sie ihre Mutter an. »Ich muss etwas unternehmen«, stellte sie ruhig fest.
»Unternehmen?«, fragte Mathilde Harlan verständnislos.
»Ich kann und will mich nicht darauf verlassen, dass Lucie auch in Zukunft nichts von ihrer Herkunft erzählt …«
»O doch«, rief Frau Harlan dazwischen. »Lucie verspürt bestimmt keine Sehnsucht, hierher zurückgebracht zu werden. Schon allein aus diesem Grund wird sie schweigen.«
»Das ist mir zu unsicher. Ich will nicht unter einer ständigen Drohung leben.«
»Was also gedenkst du zu unternehmen?«
»Ich werde Lucie zum Schweigen bringen. Endgültig«, erwiderte Lydia kalt.
»Lydia! Bist du wahnsinnig geworden?« Mathilde Harlan war entsetzt.
»Reg dich nicht auf. Seit wann verspürst du Skrupel? Wir haben die Sache begonnen und müssen sie jetzt auch zu Ende führen.«
»Nein. Nicht wir«, betonte Mathilde Harlan. »Wenn du es wagst, Lucie auch nur ein Haar zu krümmen, verständige ich die Polizei.«
Lydia kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass es ihr mit dieser Drohung ernst war. »Ach, wer spricht denn von so etwas«, lenkte sie daher ein. »Glaubst du, dass ich Lucie umbringen will?«
»Ich kann nur hoffen, dass dir ein derartiger Gedanke nie kommen wird«, sagte Mathilde Harlan. »Merk dir nur eines: Mit meiner Billigung darfst du bei einem derartigen Verbrechen nicht rechnen. Du bist zwar meine Tochter, aber ich würde nicht zögern, dich der Polizei auszuliefern. Wenn ich Lucie auch nicht gut behandelt habe – sie ist doch mein Enkelkind. Ich werde niemals zulassen, dass du ihr ein Leid zufügst.«
»Aber, Mama …«
»Hast du mich verstanden?«, fragte Mathilde Harlan in einem drohenden Tonfall.
»Ja, du hast mir deinen Standpunkt klargemacht«, erwiderte Lydia mürrisch. »Es war nie die Rede davon, dass ich Lucie umbringen will. Aber du wirst hoffentlich einsehen, dass sie aus demWeg geschafft werden muss.«
»Wie willst du das bewerkstelligen?«
»Lucie muss aus Sophienlust verschwinden. Im Moment liegt sie im Krankenhaus, aber wenn sie wieder in Sophienlust ist, werde ich sie entführen.«
»Du willst Lucie entführen? Wozu? Mir kannst du sie nicht mehr aufbürden.«
»Keine Angst, ich werde Lucie ins Ausland verfrachten. Je weiter weg, desto besser. Ich werde sie dort in ein Heim bringen, natürlich unter falschem Namen. Vielleicht werde ich mich als ihre Mutter ausgeben. Das dürfte die Sache vereinfachen. Nun – ich muss mir den Plan noch genau überlegen.«
»Solange Lucie dabei kein tiefgreifender Schaden zugefügt wird, werde ich dir behilflich sein«, versprach Mathilde Harlan.
*
Lucies Genesung machte rasche Fortschritte. Die Zeitungsnotiz, die von einer lebensgefährlichen Verletzung gesprochen hatte, war, wie Lydia richtig vermutet hatte, übertrieben gewesen. Lucie wurde schon bald aus dem Krankenhaus entlassen.
Das Abenteuer auf dem Heuboden hatte sich insofern als heilsam erwiesen, als Lucies Wesen sich auffallend verändert hatte. Sie begriff nun endlich, dass sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder von Sophienlust ernstlich um sie besorgt waren, weil alle sie liebten. Dieses Gefühl hatte Lucie aber bisher noch keinem entgegengebracht.
Natürlich verlor Lucie ihre Schüchternheit nicht von einem Tag auf den anderen, aber sie antwortete jetzt auf Fragen und hielt sich bei Spielen nicht mehr abseits. Am liebsten war sie nach wie vor mit der Huber-Mutter und mit Gisela beisammen. Wendelin Schulte gegenüber blieb sie dagegen zurückhaltend und scheu.
Lucie war an einem Freitag aus dem Krankenhaus entlassen worden, und am darauffolgenden Sonntag kam Wendelin nach Sophienlust, um sie und Gisela zu einer kleinen Spazierfahrt einzuladen. Gisela war dazu sofort bereit, während Lucie ein wenig zögerte. Sie hatte eben erst erkannt, wie lustig es war, mit den größeren Kindern Ball zu spielen, und war nun nicht bereit, das Spiel so abrupt zu unterbrechen.
»Komm doch mit, Lucie«, schmeichelte Gisela. »Wendelin ist extra deinetwegen gekommen. Er will dir mit der Spazierfahrt eine Freude machen. Letztes Mal warst du doch traurig, weil du nicht mitfahren durftest.«
Lucie ließ ihre Blicke zwischen Wendelin und Gisela hin und her schweifen und sagte dann mit ihrem zarten Stimmchen klar und deutlich: »Wendelin ist wegen Gisela gekommen.«
Gisela errötete und lachte. »Nein, du irrst dich, Lucie«, meinte sie. »Ich bin völlig unwichtig. Wendelin möchte dich gern näher kennenlernen. Vielleicht – wenn du magst – könntest du einmal bei ihm und bei seiner Mutter wohnen«, fügte sie behutsam hinzu.
»Nein«, erwiderte Lucie, »das mag ich nicht. Ich bleibe in Sophienlust, weil da die Huber-Mutter ist und weil auch du hier bist.«
»Aber ich bin ja nur zu Besuch und bei meiner Kusine …«
»Als ich im Krankenhaus war, hast du gesagt, dass du immer bei mir bleiben wirst«, erinnerte Lucie sie.
Gisela warf Wendelin einen schuldbewussten Blick zu. »Ja, Lucie«, erklärte sie dann. »Ich werde bei dir bleiben. Ich werde schon einen Weg finden, der mir das ermöglicht. Vielleicht kann ich irgendwo in der Umgebung eine Stelle annehmen, aber jetzt komm. Wir setzen uns zusammen auf den Rücksitz, und Wendelin fährt uns spazieren. Bist du schon einmal Auto gefahren?«
»Ja, als Tante Isi mich vom Krankenhaus abholte«, sagte Lucie ernsthaft.
»Ja, natürlich, das habe ich vergessen. Aber die Fahrt mit Wendelin wird bestimmt lustiger«, versprach Gisela.
So war es dann auch. Der Ausflug gipfelte im Besuch eines Eissalons. Das Vergnügen, das Lucie daran fand, galt weniger dem Eis, sondern dem Verhalten der Leute um sie herum. Sie beobachtete alles, was rings um sie vorging, mit großen Augen. Nichts schien ihr zu entgehen.
»Kein Wunder«, flüsterte Gisela Wendelin zu. »Wenn deine Vermutung zutrifft, hat sie die ersten drei Jahre ihres Lebens in völliger Abgeschlossenheit zugebracht. Sie hat jetzt einen ungeheuren Nachholbedarf.«
»Ja«, bestätigte Wendelin. »Wenn ich nur wüsste, was in diesen drei Jahren vorgegangen ist.«
»Du darfst sie nicht fragen«, warnte Gisela schnell, »sonst gewinnst du nie ihr Vertrauen. Ich bemühe mich, sie dazu zu bringen, dass sie dich lieb gewinnt, aber …«
»Ja, ich weiß. Ich bin dir unsagbar dankbar und …« Er stockte. »Du hast vorhin gesagt, dass du völlig unwichtig seist. Das stimmt nicht. Ich möchte dir sagen …«
Lucie, die bisher mit großen Augen eine Frau beobachtet hatte, die gerade ihre dritte Eisportion verschlang, unterbrach ihren Vater, indem sie sagte: »Wendelin, schau doch, wie viel Eis die dicke Frau dort drüben isst.«
Es gelang Gisela nur mit Mühe, ein Lachen zu verbeißen. »Lucie, du bringst uns in Verlegenheit«, sagte sie leise. »Wir sind zwar sehr froh darüber, dass du endlich mit uns sprichst, aber man kann nicht immer alles sagen, was man denkt. Ich erkläre dir das ein anderes Mal«, fuhr sie rasch fort, als sie merkte, dass Lucie zu einer Frage ansetzte.
»Möchtest du auch noch ein Eis?«, lenkte Wendelin das Kind ab.
»Nein, danke. Sonst werde ich auch so rund und dann …, dann …« Lucie war bemüht, sich an das passende Wort zu erinnern. »Dann platze ich so wie der Luftballon, den Heidi zu stark aufgeblasen hat.«
»Das wird dir nicht passieren«, meinte Gisela lächelnd. »Du kannst noch sehr viel Eis essen, ohne zu platzen.«
So ließ sich Lucie doch noch zu einer zweiten Portion Eis überreden.
*
Auf Giselas Rat hin, hatte Wendelin davon Abstand genommen, Lucie nach ihrer Vergangenheit auszufragen. Die kleine Heidi war jedoch weniger rücksichtsvoll. Sie war einfach