Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman


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sie vorsichtig und beruhigend, als ob sie zu einer Schwerkranken sprechen würde. »Sicher haben Sie sich über Lucies Sturz vom Heuboden zu sehr aufgeregt, und das hat Sie verwirrt …«

      »Sei sofort still, Anja«, unterbrach Gisela ihre Kusine und wandte sich an die Huber-Mutter. »Wie hat die Frau, die Lucie entführt hat, ausgesehen?«

      »Gisela, ich bitte dich!«, rief Anja. »Du kannst doch nicht glauben …«

      »Halt uns jetzt nicht auf, Anja. Jede Sekunde Verzögerung bedeutet Unheil für Lucie. Ich brauche eine genaue Beschreibung dieser Frau. Hoffentlich kann ich die von der Huber-Mutter erhalten.«

      »O ja«, erklärte die alte Frau eifrig. »Ich kann sie genau beschreiben. Sie hat nämlich sehr auffallend ausgesehen. Sie war hässlich – ausgesprochen hässlich. Sie hatte dunkle Haare, kleine schwarze Augen – böse Augen – und eine große gebogene Nase.«

      Gisela stockte der Atem. »Wie alt war diese Frau?«, fragte sie mühsam.

      »Ungefähr dreißig.«

      »Dreißig!«, rief Gisela enttäuscht aus. »Das kann nicht stimmen. Wenn Sie gesagt hätten sechzig – aber dreißig ist zu jung.«

      »Sie war bestimmt noch nicht sechzig«, beharrte die Huber-Mutter.

      Anja hatte mit wachsendem Staunen das Gespräch zwischen der Huber-Mutter und Gisela verfolgt. »Du glaubst also wirklich, dass Lucie entführt worden ist?«, fragte sie ihre Kusine.

      »Natürlich glaube ich es«, erklärte Gisela wild. »Wir müssen es sofort der Polizei melden. Aber zuvor rufe ich Wendelin an. Haben Sie sich vielleicht die Autonummer gemerkt, Huber-Mutter?«

      »Nein. Ich weiß es auch nicht, was für ein Auto es war. Hellrot war es. Das ist alles, was mir daran aufgefallen ist.«

      Gisela lief zum Telefon. Während sie Wendelins Nummer wählte, betete sie darum, dass er daheim sein möge. Als er sich meldete, atmete sie auf. »Wendelin, hier ist Gisela. Etwas Schreckliches ist passiert. Lucie ist entführt worden.«

      Im Gegensatz zu Anja zog Wendelin diese Kunde nicht in Zweifel. »Wann?«, erkundigte er sich knapp.

      »Eben jetzt. Es ist vielleicht zehn Minuten her. Ein hellrotes Auto ist vor dem Haus Dr. Freys stehen geblieben, eine Frau hat Lucie hineingeworfen und ist davongefahren.«

      »Wie hat die Frau ausgesehen? Weißt du es zufällig?«

      »Ja, die Huber-Mutter hat mir eine genaue Beschreibung geliefert. Nur das Alter hat nicht gestimmt.«

      »Das Alter hat nicht gestimmt? Was soll das heißen?«

      »Die Huber-Mutter hat uns Mathilde Harlan beschrieben. Nur das Alter hat sie mit dreißig Jahren angegeben. Sie ist nicht davon abzubringen, sondern behauptet steif und fest, dass die Frau unmöglich schon sechzig Jahre alt sein kann.«

      »Lydia«, murmelte Wendelin so leise, dass Gisela ihn nicht verstand.

      »Wie bitte?«, schrie sie in den Hörer.

      »Es war Lydia. Sie ist ungefähr dreißig Jahre alt und sieht ihrer Mutter sehr ähnlich. Ich kann jetzt nicht länger mit dir reden, ich muss sofort nach Frankfurt fahren.«

      »Nach Frankfurt? Aber, Wendelin …«

      »Lydia wohnt in Frankfurt. Zum Glück habe ich mich vor einiger Zeit nach ihr erkundigt und kenne ihre Adresse. Ich befürchtete schon seit geraumer Zeit, dass Lydia einen Unfug plant. Wenn ich mich beeile, kann ich ihr vielleicht zuvorkommen und sie in Frankfurt erwarten. Ich verständige dich, sobald ich ein Resultat vorzuweisen habe.«

      »Hallo, Wendelin, hallo … Er hat aufgelegt«, sagte Gisela. »Ich wollte ihn bitten, mich mitzunehmen … Ach nein, das wäre ein zu großer Umweg gewesen.«

      *

      Wendelin fühlte, dass sein Herz bis zum Hals herauf klopfte. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. Gerade jetzt durfte er nicht in einen Unfall verwickelt werden. Er musste Frankfurt schnellstens erreichen, um Lucie helfen zu können.

      Aber war er dazu überhaupt in der Lage? Unschlüssigkeit überkam ihn. Er war aus einem raschen Impuls heraus zu seinem Wagen geeilt und hatte den Weg nach Frankfurt eingeschlagen. Jetzt, während der Fahrt, war er gar nicht mehr so sicher, dass er richtig gehandelt hatte. Zwar gab es für ihn keinen Zweifel, dass es sich bei der Entführerin um Lydia Harlan handelte, aber woher wollte er wissen, dass sie die Absicht hatte, Lucie in ihre Wohnung zu bringen? Ebenso gut konnte sie vorhaben, das Kind unterwegs zu beseitigen. Er kannte Lydia gut genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass sie keinerlei Skrupel besaß.

      Wendelin überlief es kalt. Seiner Meinung nach war Lydia Harlan ein Typ, der schlimmstenfalls auch über Leichen ging, wenn es ihr zum Vorteil gereichte. Er wusste nicht, weshalb sie Lucie entführt hatte, aber dass sie nichts Gutes im Sinn hatte, war offenbar.

      Wendelin warf einen besorgten Blick auf die Benzinuhr. Der Tank war beinahe leer. Das bedeutete, dass er bis zur nächsten Tankstelle halten musste, um ihn auffüllen zu lassen. Das würde einen Zeitverlust mit sich bringen. Der einzige Trost war, dass auch Lydia zum Tanken gezwungen sein würde, falls sie wirklich nach Frankfurt fahren würde.

      Wendelin, der sich normalerweise durch ein äußerst korrektes Verhalten auszeichnete, hielt sich jedoch an keinerlei Geschwindigkeitsbeschränkungen. Er hatte jedoch das Glück, keiner Polizeistreife aufzufallen, und gelangte unbehelligt nach Frankfurt.

      Lydia bewohnte ein luxuriöses Appartement in einem Neubau am Stadtrand. Wendelin hatte sie noch nie besucht, aber nach dem Fehlschlag, den er bei Mathilde Harlan hatte hinnehmen müssen, hatte er Erkundigungen über Lydia eingezogen. Seine Absicht war gewesen, sie aufzusuchen und über Lucie auszufragen, aber die Nachbarn hatten ihm mitgeteilt, dass sich Lydia Harlan kaum zu Hause aufhalte, sondern meist verreist sei.

      Wendelin drückte auf die Klingel zu Lydias Wohnungstür, doch niemand meldete sich. Er sah auf seine Uhr. »Ich habe die Fahrt hierher in einer Rekordzeit geschafft«, sagte er zu sich selbst. »Lydia kann noch gar nicht da sein.«

      Wendelin lief unruhig vor der Haustür auf und ab. Sollte er die Polizei verständigen? Was aber, wenn Lydia ohne Lucie kam? Wenn sie doch nicht die Entführerin war?

      Wendelin schüttelte den Kopf. Nein, er war ganz sicher, dass nur Lydia dieses Verbrechen inszeniert haben konnte. Aber ob ihm die Polizei Glauben schenken würde? Lydia verstand es vorzüglich, sich zu verstellen. Sie würde nicht zögern, die gekränkte Unschuld zu spielen. Es gab nur einen Weg: Er musste sie auf frischer Tat ertappen. Zu diesem Zweck durfte er sich jedoch nicht vom Fleck rühren. Würde er Lydia verfehlen, würde seine Fahrt nach Frankfurt sinnlos gewesen sein.

      Wendelin blickte alle paar Minuten auf die Uhr. Die Zeiger schlichen dahin, das Warten wurde zu einer beinahe unerträglichen Qual. Es handelte sich ja um Lucie, seine kleine Tochter – das Einzige, das ihm von seiner Liebe zu Beatrix geblieben war. Davon, dass Lucie sein und Beatrix’ Kind war, war er nun überzeugt. Lydia hätte sich niemals die Mühe gemacht, ein fremdes Kind zu entführen. Warum sie es überhaupt getan hatte und warum Mathilde Harlan Beatrix’ Tod und Lucies Geburt verheimlicht hatte, war dagegen noch ein Rätsel für ihn. So, wie er Mathilde Harlan kannte, hatte sie Lucie bestimmt nicht aus Liebe bei sich behalten. Dagegen sprach auch Lucies verstörtes und verschüchtertes Verhalten, das sich erst in Sophienlust und mit Hilfe von Giselas liebevoller Zuwendung gebessert hatte.

      Bei dem Gedanken an Gisela erhellte sich Wendelins Miene, um sich jedoch gleich darauf wieder zu verdüstern. Erst musste er Lucie in sicherem Gewahrsam haben, dann durfte er Pläne für die Zukunft schmieden.

      Trotzdem sehnte sich Wendelin gerade jetzt nach Giselas Gegenwart. Er fürchtete, dass ihn der Hass, den er gegen Lydia empfand, dazu bringen könnte, die Beherrschung zu verlieren. Sonst war er ein ruhiger und besonnener Mensch, aber wenn er daran dachte, was Lydia Lucie möglicherweise angetan hatte, übermannte ihn blinde Wut. Dazu kam eine immer stärker werdende Angst, denn es war mittlerweile spät geworden. Lydia konnte unmöglich so lange unterwegs sein. Vielleicht war sie nach Hechingen gefahren, um Lucie