Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman


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Heidi: »Na gut. Dann soll uns zur Abwechslung einmal Lucie etwas erzählen. Stimmt es, dass du früher in einem großen hässlichen Haus bei deiner Großmutter wohntest?« Heidi hatte einige Bemerkungen der Erwachsenen aufgeschnappt und stellte deshalb nun ihrer Spielgefährtin diese verhängnisvolle Frage.

      Lucie hatte neben dem Lehnstuhl der Huber-Mutter im Gras gekauert und ein paar Glockenblumen, die sie besonders liebte, zu einem Sträußchen zusammengefügt. Nun sprang sie auf. Die Blumen fielen zu Boden, ohne dass Lucie darauf achtete. Sie klammerte sich an die Huber-Mutter, die sie auf ihren Schoß zog und sie beruhigend streichelte. Trotzdem begann Lucie bitterlich zu schluchzen.

      »Ist ja schon gut, mein Kleines«, tröstete die Huber-Mutter sie. »Warum weinst du denn? Dazu gibt es doch keinen Grund. Heidi wollte nichts Böses sagen.«

      »Ich habe Angst«, stammelte Lucie.

      »Aber nein. Wovor denn? Hier bei uns brauchst du keine Angst zu haben. Die alte Huber-Mutter ist ja bei dir und beschützt ihre kleine Lucie.«

      Später berichtete die alte Frau Gisela von Heidis Frage und Lucies Reaktion. Daraufhin bat Gisela alle, keine derartige Frage mehr an Lucie zu stellen.

      »Natürlich kann man der kleinen Heidi keinen Vorwurf machen«, sagte Gisela zu Wendelin, als sie ihm von dem Vorfall erzählte. »Ich bin nicht einmal sicher, ob meine Bitte, Lucie nicht auszufragen, etwas nützt. Heidi ist eben doch ein Kind und unbesonnen.«

      »Nein, natürlich hat Heidi keine Schuld«, erwiderte Wendelin. »Die liegt bei jemand anderem. Ich möchte Mathilde Harlan erwürgen«, knirschte er.

      »Noch ist nicht erwiesen, dass Lucie bei ihr gelebt hat«, erinnerte Gisela ihn.

      »Leider. Wenn ich nur nachweisen könnte, dass Mathilde Harlan Lucie misshandelt hat – wenn nicht körperlich, so doch seelisch.«

      »Lucie ist auf dem besten Weg, darüber hinwegzukommen«, bemerkte Gisela.

      »Ja, und das hat sie vor allem dir zu verdanken«, erwiderte er warm.

      *

      Lucie hatte sich so an Giselas tägliche Besuche gewöhnt, dass sie ein paar Tage später unruhig wurde, als Gisela nicht in Sophienlust erschien. Am Nachmittag hielt sie es nicht mehr aus und stellte die Huber-Mutter zur Rede. »Wo ist Gisela?«, verlangte sie zu wissen.

      »Sie kommt heute nicht«, erwiderte die Huber-Mutter. »Hast du denn nicht begriffen, was sie gestern zu dir gesagt hat? Am Vormittag fährt sie nach Maibach, um sich im Krankenhaus nach einer Stelle zu erkundigen, und am Nachmittag will sie der Tante Doktor helfen. Es sind zwei Schulklassen für eine Impfung angemeldet.«

      Von dieser Erklärung verstand Lucie nur so viel, dass sie Gisela an diesem Tag nicht zu Gesicht bekommen würde. »Schade«, sagte sie.

      Dieses eine Wort brachte den Kummer der Kleinen so deutlich zum Ausdruck, dass die Huber-Mutter gerührt sagte: »Sei nicht betrübt. Ich weiß einen Ausweg. Wie wäre es, wenn wir Gisela einmal im Doktorhaus besuchten?«

      »Ja, gehen wir.« Lucie war sofort zum Aufbruch bereit.

      »Nicht so schnell«, meinte die Huber-Mutter lachend. »Ich muss erst Schwester Regine Bescheid sagen. Wenn man fortgeht, muss man es immer jemandem sagen«, belehrte sie das Kind.

      Schwester Regine war mit dem Plan der Huber-Mutter einverstanden. Es war ja nicht weit bis zum Doktorhaus. Der Weg würde weder für die alte Frau noch für das Kind zu beschwerlich werden.

      »Haltet euch nicht zu lange auf«, mahnte sie nur und ließ die beiden ziehen.

      Lucie war vergnügt, weil sie ihre geliebte Gisela besuchen durfte, und die Huber-Mutter freute sich, dass sie dem Kind einen Gefallen erweisen konnte. Nach und nach kam Lucies eigentliches Wesen zum Vorschein, das heiter und anschmiegsam war. Sie summte eine selbsterfundene Melodie vor sich hin, was die Huber-Mutter zu einem Einspruch veranlasste. »Lern doch ein ordentliches Lied«, meinte sie.

      »Ein ordentliches Lied? Was ist das?«

      Die alte Frau lächelte. »Das wirst du gleich hören. Ich will versuchen, dir eines beizubringen. Du scheinst ja sehr musikalisch zu sein, nachdem du dauernd vor dich hinsummst. Also wird es dir nicht schwerfallen, das nachzusingen, was ich dir vorsinge. Wir sollten es einmal mit Hänschenklein probieren.«

      Lucie begriff wirklich sehr schnell, und so gingen die beiden aus vollem Halse singend nebeneinander her. Es gab niemanden, der das lächerlich gefunden hätte, denn es war keiner da, der die beiden beobachtete. Es war früher Nachmittag, und das Dorf wirkte wie ausgestorben. Lucie und die Huber-Mutter schienen die einzigen zu sein, die unterwegs waren.

      Die beiden waren schon fast beim Doktorhaus angekommen, als plötzlich ein Wagen neben ihnen hielt. Die Huber-Mutter schenkte ihm zuerst keine Beachtung, sondern nahm an, dass es sich um einen Patienten handelte, der Herrn oder Frau Dr. Frey aufsuchen wolle. Erst als die Frau, die aus dem Auto sprang, nicht auf das Haus, sondern auf sie selbst zulief, wurde sie misstrauisch und fasste Lucie unwillkürlich fester an der Hand. Doch es war bereits zu spät. Sie kam nicht mehr dazu, um Hilfe zu rufen. Es ging alles viel zu schnell. Noch bevor sie erfasste, was die Fremde im Sinn hatte, hatte diese schon das Kind von ihr losgerissen. Zugleich versetzte sie ihr einen so derben Stoß, dass sie zurücktaumelte und stolperte.

      Während sich die alte Frau mühsam aufrappelte, öffnete die Fremde die hintere Wagentür und schleuderte Lucie in den Wagen, als ob das Kind ein lebloses Bündel wäre. Dann stieg sie selbst wieder in den Wagen ein und brauste davon.

      Im Haus hatte man den Aufschrei der Huber-Mutter gehört. Anja und Gisela kamen herausgelaufen, gefolgt von Filzchen und dem kläffenden Stoffel. Doch der Wagen war inzwischen hinter der nächsten Kurve verschwunden und außer Sicht.

      Die Huber-Mutter zitterte am ganzen Körper. Krampfhaft hielt sie sich am Gartenzaun fest, um nicht umzufallen. Ihr Gesicht war weiß vor Schreck. Sie öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus.

      Anja fasste sich als Erste und fragte: »Was ist geschehen, Huber-Mutter?«

      »Lucie«, stöhnte die Greisin. »Lucie ist …«

      »Lucie? Was ist mit Lucie? Ist sie krank geworden? Warum hat mich niemand angerufen?«

      Die Huber-Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, Lucie … Lucie ist fort.«

      »Was? Schon wieder davongelaufen?«

      Die alte Frau beachtete diese Frage nicht, sondern sprach stammelnd weiter. »Diese fremde Frau. – Ich wusste doch nicht, was sie wollte. Ich hätte Lucie fester halten sollen.«

      »Kommen Sie mit ins Haus, Huber-Mutter«, sagte Anja sanft. »Und du gehst mit Stoffel in den Garten und bleibst dort, bis ich dich rufe«, befahl sie ihrer Tochter weniger sanft, um jeglichem Ungehorsam zuvorzukommen. Filzchen wagte auch tatsächlich keinen Widerspruch, sondern fasste Stoffel an seinem Halsband und zerrte ihn in den Garten.

      Anja und Gisela hatten die Huber-Mutter inzwischen ins Haus geführt und sie auf einen Stuhl gesetzt. Die alte Frau ließ willenlos alles mit sich geschehen.

      »So. Und nun erzählen Sie uns in aller Ruhe, was mit Lucie los ist«, bat Anja.

      »Lucie war traurig, weil Gisela nicht gekommen war«, begann die alte Frau. »Wenn ich nur nicht diese dumme Idee gehabt hätte«, setzte sie sprunghaft fort.

      »Was für eine Idee?«, fragte Anja geduldig.

      »Ich wollte Lucie eine Freude machen und habe ihr deshalb vorgeschlagen, Gisela zu besuchen. Lucie war sofort einverstanden, und wir sind zusammen hierhergegangen.«

      »Ja, aber – wo ist Lucie?«

      »Fort«, schluchzte die Huber-Mutter. »Die fremde Frau hat sie entführt.«

      »Was?« Anja glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Das kann nicht wahr sein«, meinte sie.

      »Doch, es ist so. Warum sollte ich lügen? Ein Auto ist neben uns stehen geblieben, eine Frau ist ausgestiegen. Sie hat Lucie gepackt und