Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman


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      Heidi verstand den Sinn dessen, was die Heimleiterin gesagt hatte, nicht so recht. »Lucie ist noch kleiner«, meinte sie. »Ich hätte auf sie aufpassen müssen.«

      »Wein nicht, Heidi«, bemühte sich Frau Rennert die Kleine zu beruhigen, »und schlafe. Wenn du morgen aufwachst, wird sicher alles wieder gut sein.«

      *

      Wendelin und Gisela gingen inzwischen langsam die Auffahrt entlang. Beim Tor blieb Gisela stehen. »Fahr vorsichtig«, bat sie. »Ich weiß, du bist aufgeregt. Der heutige Tag muss dich erschüttert haben. Aber ich bin überzeugt, es wird sich alles zum Guten wenden.«

      »Ich hoffe es«, seufzte er. »Soll ich dich noch zum Doktorhaus fahren?«, fragte er.

      »Nein, danke«, lehnte Gisela ab. »Es ist nicht weit.«

      Wendelin gab sich mit dieser Antwort zufrieden, und fuhr weg. Gisela war froh, endlich allein zu sein. Die Ereignisse dieses Tages hatten auch sie stark mitgenommen. Das Gefühl, bei Lucie versagt zu haben, quälte sie. Sie zermarterte sich den Kopf, warum das Kind wohl davongelaufen sein mochte? Hatte jemand die Kleine erschreckt? Oder war es dem Kind zu langweilig geworden? Hatte es Heidi gesucht und sich dabei verirrt?

      Gisela kam zu keinem Ergebnis. Als sie das gemütliche Wohnzimmer des Doktorhauses betrat, blickten ihr Stefan, Anja und Stoffel aufmerksam entgegen. Filzchen fehlte. Offenbar schlief sie bereits.

      »Du siehst erbärmlich aus«, eröffnete Anja das Gespräch.

      »Genauso fühle ich mich auch«, erwiderte Gisela.

      »Kann ich dir helfen? Die Huber-Mutter hat noch eine Spritze bekommen …«

      »Danke, nein«, wehrte Gisela ab. »Ich bin jünger und widerstandsfähiger als die Huber-Mutter.«

      »Jünger schon, aber ansonsten … Ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist.«

      »Wenn ich wenigstens irgendetwas unternehmen könnte, um Lucie zu finden. Das Schreckliche ist, dass ich dazu verurteilt bin, tatenlos herumzusitzen und zu warten.«

      »Uns allen geht es ähnlich«, sagte Anja, und Stefan nickte zustimmend.

      Gisela sank auf die Sitzbank und vergrub den Kopf in den Händen. »So einen Tag wie den heutigen möchte ich kein zweites Mal erleben«, seufzte sie.

      »Beruhige dich, Gisela. Noch hast du keinen Grund zum Verzweifeln. Noch können wir hoffen, dass Lucie nichts Ernstliches zugestoßen ist«, meinte Anja. In der Absicht, ihre Kusine von Lucie ablenken zu können, erkundigte sie sich: »Was war übrigens in Hechingen? Hattet ihr Erfolg mit euren Nachforschungen nach Beatrix?«

      »Erfolg?«, wiederholte Gisela bitter. »Wenn du es so nennen willst – ja. Wir wissen jetzt, wo sie sich aufhält. Sie ist tot. Frau Harlan hat uns zu ihrem Grab geführt.«

      »Tot!«

      »Ja.« Gisela versorgte Anja und Stefan nun mit einer etwas wirren Schilderung dessen, was sich in Hechingen zugetragen hatte.

      »Dann ist Lucies Mutter – ihre vermutliche Mutter – also seit drei Jahren tot«, zog Anja die Bilanz aus Giselas Erzählung. »Das würde so manches erklären. Zumindest die Tatsache, dass sie sich nicht gemeldet hat, um das Kind für sich zu beanspruchen.«

      »Dann bist du also auch der Ansicht wie Wendelin, dass Mathilde Harlan die Geburt des Kindes verheimlicht und Lucie die ganzen Jahre über in ihrem Haus verborgen hat?«

      »Deutet nicht alles darauf hin? Ich weiß über Nicks Detektivarbeit Bescheid. Er hat herausbekommen, dass Frau Harlan ihre Dienstboten sehr plötzlich entlassen und seitdem keinerlei Besuch mehr bei sich geduldet hat.«

      »Aber heute hat sie uns empfangen. Sie hat auch ein Dienstmädchen und einen Gärtner.«

      »Eben. Beide neu aufgenommen«, erwiderte Anja bedeutsam.

      »Du meinst, jetzt, weil Lucie nicht mehr bei ihr ist …«

      »Sehr richtig.«

      »Aber wozu das Ganze? Was sollte diese Geheimnistuerei für einen Zweck haben? Ob Mathilde Harlan auch so gehandelt hätte, wenn Lucies Mutter am Leben geblieben wäre?«

      »Du bezeichnest Beatrix Harlan bereits mit Sicherheit als Lucies Mutter. Vergiss nicht, es ist nichts erwiesen.«

      »Nein. Ich weiß, wir verfügen über keinerlei Tatsachen, auf die wir uns stützen könnten. Aber du bist doch derselben Auffassung wie ich, nicht wahr?«

      »O ja«, gab Anja zu.

      »Ob Mathilde Harlan irgendeinen Vorteil aus dem Tod ihrer Tochter gezogen hat?«, sinnierte Gisela weiter.

      »Gisela! Worauf willst du jetzt wieder hinaus?«

      »Ach, auf nichts«, erwiderte Gisela unwirsch. »Sie hat mir ja den Totenschein unter die Nase gehalten. Lungenentzündung. Kennst du übrigens einen Dr. Wöhrer?«

      »Ich? Nein. Oder doch? Der Name kommt mir bekannt vor. Da war doch etwas. Ein Skandal oder …«

      »Ein Skandal!« Gisela wurde durch Anjas Worte förmlich elektrisiert. »Was für ein Skandal?«

      »Ich kann mich nicht mehr erinnern.«

      »Anja. Denke nach!«

      Stefan, der bisher geschwiegen hatte, räusperte sich und meinte trocken: »Anscheinend funktioniert mein Gedächtnis besser als deines, Anja. Ich weiß, worauf du anspielst. Nur fürchte ich, dass diese alte Geschichte mit Lucie nicht das Geringste zu tun hat.«

      »Bist du sicher?«

      »Ja. Es war kein Skandal, sondern bloß ein Gerücht. Dr. Wöhrer wurde mit einer verbotenen Abtreibung in Zusammenhang gebracht. Es konnte ihm jedoch nichts nachgewiesen werden. Die betroffene Frau war gestorben. Vielleicht hatte Dr. Wöhrer tatsächlich ein schlechtes Gewissen, oder er war verärgert, weil sein guter Ruf gelitten hatte. Jedenfalls gab er seine Praxis auf und zog weg.«

      »Eine Abtreibung! Nein, das hat mit Lucie nichts zu tun. Das Kind existiert ja. Wenigstens …« Mit einem Mal kam Gisela ihr Kummer wieder voll zu Bewusstsein. »Wenn nur Lucie wieder da wäre«, seufzte sie. »Wenn sie wieder auftaucht, werde ich mich um ihre Herkunft nicht mehr kümmern und weder Frau Harlan noch Dr. Wöhrer deswegen belästigen«, gelobte sie. »Ich werde die Angelegenheit auf sich beruhen lassen.«

      *

      Natürlich war es nicht Giselas Vorsatz zu danken, dass Lucie am nächsten Morgen gefunden wurde. Es war das Verdienst der Moser-Bäuerin. Da die alte Frau ihr Leben lang zeitig aufgestanden war, war ihr Schlaf in den Morgenstunden nur leicht. Gegen halb fünf Uhr morgens vernahm sie einen hohen Schrei und dann einen gedämpften Aufprall.

      Die Moser-Bäuerin war sofort hellwach. Sie stieg aus dem Bett, griff nach ihrem Schultertuch und schlang es um ihr Nachthemd. Dann eilte sie hinaus auf die Tenne, denn von dort hatte sie das Geräusch vernommen.

      Kurz darauf fuhr ihr der Schreck durch alle Glieder. Vor ihr lag umgeben von Heu, ein bewusstloses Kind. Im ersten Augenblick fürchtete die Bäuerin, dass das Kind tot sei, denn es lag, ohne sich zu regen, auf dem Boden. Doch als sie sich bückte, merkte sie, dass das kleine Mädchen schwach atmete.

      Die Moser-Bäuerin stürzte zum Telefon und alarmierte den Notarzt. Dann rannte sie, so schnell sie es in ihrem Alter vermochte, zurück auf die Tenne. Das Kind lag immer noch mit geschlossenen Augen auf der gleichen Stelle. Das Heu, das zwischen seinen Haaren steckte und teilweise auch das Kleidchen bedeckte, gab der Bäuerin darüber Auskunft, woher das Kind gekommen war. Es musste sich unbemerkt im Heuboden versteckt haben und im Schlaf heruntergekollert sein. Das mitgerutschte Heu hatte den Fall gedämpft und wahrscheinlich das Ärgste verhindert. Trotzdem litt die Moser-Bäuerin tausend Qualen, bis endlich der Notarzt eintraf. Das Kind wurde auf eine Trage gelegt und nach Maibach ins Krankenhaus gebracht.

      *

      Dass Lucie ins Krankenhaus eingeliefert worden war, erfuhr Denise von Schoenecker erst am Vormittag durch