sich nur mit Stefanies Gesundheitszustand beschäftigte. Es wäre wohl übertrieben gewesen zu sagen, daß dieser ihn zufrieden stimmte, aber es war sozusagen eine Rechtfertigung für seine Beschwerden, daß sie scheinbar der Schonung bedurfte.
Dr. Cornelius war ein ausgezeichneter Psychologe, und aus manchen Bemerkungen konnte er schließen, daß Peter das geläufige Wort, daß geteilter Schmerz den halben Schmerz bedeutet, zu seiner Devise gemacht hatte.
Anne unterhielt sich indessen mit Stefanie in dem hübschen Appartement, das so wohnlich eingerichtet war, daß man sich darin wahrhaftig wohl fühlen konnte.
»Sie werden nette Gesellschaft finden, die Sie ablenken wird, Stefanie«, sagte sie, »und wenn es kritische Momente gibt, werden wir immer zur Stelle sein. Versuchen Sie jetzt mal abzuschalten. Wir werden Herrn Reinhold sagen, daß Sie sehr viel Ruhe brauchen, und nach allem, was wir von ihm wissen, wird er die Ruhe auch für sich selbst dringend suchen.«
Stefanie hatte ein sehr starkes Bedürfnis nach Ruhe, und als sie sich niedergelegt hatte, schlief sie sofort ein.
*
Als Dr. Norden von einem dringenden Krankenbesuch zurückkam, überraschte ihn Loni mit der Nachricht, daß Ralph Reinhold angerufen und um einen Termin gebeten hatte.
»Wann kommt er?« fragte Daniel.
»Gegen halb fünf Uhr.«
Dr. Norden sah diesem Besuch mit Spannung entgegen. Fee hatte indessen mit Anne telefoniert und erfahren, daß Peter und Stefanie gut gelandet waren. Daniel kam an diesem Tage mal wieder pünktlich zum Mittagessen, und die Kinder waren zufrieden, daß er sich auch noch eine Stunde mit ihnen beschäftigen konnte.
In der Praxis ging es am Nachmittag verhältnismäßig ruhig zu. Es machte sich bemerkbar, daß viele Patienten im Winterurlaub waren, und da von überall her verlockende Schneeverhältnisse gemeldet wurden, bekam auch Daniel richtige Sehnsucht, mal wieder ein paar Tage in den Bergen zu verbringen. Eigentlich konnten sie am Wochenende doch mal wieder wegfahren, wenn das Wetter so schön blieb, ging es ihm durch den Sinn.
Das Privatleben war in letzter Zeit sehr kurz gekommen, aber er brachte es einfach nicht fertig, schwerkranke Patienten im Stich zu lassen. Manchmal wurde seine Gutmütigkeit allerdings auch weidlich ausgenützt, wie zum Beispiel von Frau Lederer, die regelmäßig am Wochenende ihre Migräneanfälle bekam und ihn damit ebenso in Atem hielt wie ihre Familie.
An diesem Tag aber erschien sie in der Praxis, und da staunte er nicht wenig. Schick gekleidet, frisch frisiert, ohne griesgrämige Miene stand sie vor ihm.
»Ich will Sie gar nicht lange aufhalten, Herr Doktor«, erklärte sie. »Ich habe über Ihre Worte nachgedacht, ich meine, über das, was Sie als Wochenendpsychose bezeichnet haben. Jetzt will ich mal ausprobieren, ob ich die Migräne auch bekomme, wenn ich meine Familie am Wochenende mal allein lasse. Ich fahre zu einer Schulfreundin, die in der Nähe von Stuttgart wohnt. Wir haben uns lange nicht gesehen. Mein Mann und meine Kinder haben ganz schön dumm geguckt, als ich ihnen das eröffnet habe. Leicht ist es mir auch nicht gefallen, das muß ich zugeben, aber ich muß es mal packen. Jeder will am Sonntag seine Ruhe haben, lange schlafen und faulenzen, nur Mutter muß immer zur Stelle sein, kochen, backen, herumflitzen, und abends fliegen alle aus, und ich sitze allein vor dem Fernseher. Jetzt sollen sie mal sehen, und wenn ich meine Migräne nicht kriege, werde ich es öfter mal so machen. Finden Sie es richtig?«
»Nichts dagegen zu sagen. Ich bin selbst gespannt, ob sich Ihr Entschluß positiv auswirkt.«
»Ich auch. Mit Ihnen kann man wenigstens reden. Ich werde Sie diesmal jedenfalls nicht schikanieren.«
»Und ich wünsche Ihnen ein paar schöne Tage, Frau Lederer«, sagte Daniel herzlich.
»Ich will doch mal sehen, ob es bei meiner Freundin auch so zugeht wie bei uns. Sie ist genauso lange verheiratet wie ich und hat auch drei Kinder. Ja, dann werde ich mal abdampfen.«
Ganz wohl schien es ihr bei dem Gedanken auch wieder nicht zu sein, aber Dr. Norden meinte, daß es zumindest ein Trost für sie sein könnte, wenn sie bei der Freundin auch keine anderen Verhältnisse vorfinden würde.
Frauen in den Wechseljahren neigen oft dazu, sich benachteiligt zu fühlen, vor allem, wenn die Kinder flügge wurden und eigene Wege gingen. Aber sehr viele Ehen versandeten auch im Alltragstrott.
Bei ihm war das glücklicherweise nicht der Fall. Wenn sie mal ein ungestörtes Wochenende verbringen konnten, waren sie überglücklich. Würde das auch so bleiben, wenn die Kinder dann größer wurden? Der Gedanke schoß ihm durch den Sinn, und er tröstete sich damit, daß bis dahin ja wirklich noch einige Jahre vergehen würden.
Noch zwei Patienten warteten, und es war fast fünf Uhr geworden, als er mit diesen fertig war. Ralph Reinhold hatte zehn Minuten warten müssen, aber es war ihm nur recht, daß Dr. Norden jetzt Zeit für ihn hatte.
»Wo drückt der Schuh?« fragte Dr. Norden, als er bemerkte, daß es Ralph sichtlich schwerfiel, einen Anfang zu finden.
»Mein Bruder hat mir gesagt, daß Stefanie krank ist«, begann Ralph stockend. »Ich möchte Sie fragen, was ihr fehlt.«
»Ich dürfte Ihnen keine Auskunft geben, Herr Reinhold, wenn es sich um eine richtige Erkrankung handeln würde«, erwiderte Daniel bedächtig. »Wenn Sie mich allerdings fragen würden, was Ihrem Bruder fehlt, da Sie der nächste Angehörige sind, könnte ich es verantworten, Ihnen eine Auskunft zu geben.«
Nervös strich sich Ralph das Haar glatt, was allerdings ein vergebliches Unterfangen war, denn er hatte sehr widerspenstiges Haar. Wenn man daraus auf den Charakter schließen wollte, mußte man ihn zumindest als einen schwierigen Menschen einstufen.
»Peter sprach davon, daß bei Stefanie die gleichen Symptome auftreten würden wie bei ihm, und ich mache mir Gedanken, ob er an einer ansteckenden Krankheit leidet.«
»Nein, es ist keine ansteckende Krankheit, und das Befinden von Fräulein Linden ist psychisch bedingt. Ich denke, daß es an der Zeit ist, Ihnen reinen Wein einzuschenken, zum besseren Verständnis, Herr Reinhold. Doch die Wahrheit könnte Sie erschrecken.«
Ralphs Augen richteten sich forschend auf ihn. »Erschrecken? Wollen Sie damit sagen, daß Peter sehr krank ist?«
»Es ist nicht einfach für mich, es Ihnen zu erklären. Es fällt mir immer schwer, einem Angehörigen zu sagen, daß…« Er unterbrach sich, weil Ralph aufgesprungen war, kreidebleich im Gesicht.
»Es ist eine unheilbare Krankheit?« flüsterte er tonlos. »Oh, mein Gott«, und dann sank er schwer auf den Stuhl zurück und legte die schmalen, sehnigen und kraftvollen Hände vor sein Gesicht. »Das ist entsetzlich. Damit hatte ich nicht gerechnet.«
Er war so tief erschüttert, daß kein Wort des Trostes etwas genützt hätte. Wie sollte man da denn auch wohl trösten!
Dr. Norden wartete, bis Ralph die Hände sinken ließ. »Aber ich muß es doch wissen«, murmelte er. »Einer muß es doch wissen.«
»Stefanie Linden weiß es auch«, sagte Dr. Norden leise.
»Was sagen Sie da?« rief Ralph bestürzt aus. »Aber Sie haben kein Recht, ihr so etwas zu sagen!«
»Sie hat es als Medizinalassistentin bei Professor Weissenberger zufällig erfahren. Selbstverständlich bewahrt auch sie Schweigen, und wie ich nun weiß, hat sie es auch Ihnen gegenüber gewahrt.«
»Aber warum? Warum hat sie es mir nicht gesagt? Warum ist sie sogar bereit, Peter zu heiraten?«
»Es gibt Mitleid und menschliche Entscheidungen, die darauf fußen. Ich denke, es ist gut, wenn wir jetzt dar-über sprechen, damit auch Sie das nötige Verständnis für eine verzweifelte Situation aufbringen, die auch uns Ärzte nicht unberührt läßt.«
»Nehmen Sie etwa an, mich würde das Schicksal meines Bruders ungerührt lassen, Herr Dr. Norden?« fragte Ralph mit erstickter Stimme. »Ich war Bruder und Freund zugleich für ihn und habe ihm auch manchmal den Vater ersetzen müssen. Mein Gott, ist denn Peter nicht zu