Marcus X. Schmid

Lago Maggiore Reiseführer Michael Müller Verlag


Скачать книгу

im Kurator auf), Spiritualismus und Eso­terik. Szeemann zieht Quer­ver­bin­dun­gen zur berühmten „Enzy­klo­pädie im Wald“ des Text-Künstlers Armand Schult­hess aus dem nahen Onsernone sowie zur legendären Baro­nesse de Saint-Léger, der zeitweiligen Be­sitzerin der Brissago-Inseln, die mit dem „Para­diso su Terra“ den Reigen ab­schließt.

      Man muss sich Zeit nehmen für die­se materialsatte Dokumentation und Inter­pretation, umfassender und geist­rei­cher wurde das Phänomen Monte Verità noch nie vorgestellt. „Die Brüste der Wahrheit“ ist oder sind Aus­stel­lungs­kunst vom Besten.

      ♦ April-Okt. Mi-Sa 14-18 Uhr, So 10-13 und 14-18 Uhr. Eintritt 12 €.

      Casa dei Russi (Russenhaus): Ein klei­ner, luftiger Holz-Glas-Bau im dichten Wäld­chen, der seinen Namen wohl den zahlreichen russischen Besuchern ver­dankt. Es ist das am besten erhaltene Exemplar der so genannten Licht-Luft-Bauten, ar­chi­tek­to­nischer Ausdruck des Lebensgefühls in der einstigen Bohème-Kolonie auf dem „Berg der Wahrheit“.

      Teehaus: Die einstige „Casa Loreley“ mu­tierte zu einem japanischen Tee­haus mit Labor und Dokumentation über die Teeblätterverarbeitung. Man kann das als Hom­mage an die Gründer des Monte Verità und deren Ge­sund­heits­philosophie in­ter­pretieren. Die Teil­nahme an der wöchentlichen, ein­ein­halbstündigen „Tee­zere­mo­nie“ mit fachlicher Ein­führung in die japa­nische Teekultur ernüchtert dann mit hap­pigen Eintrittsprei­sen. Gratis hin­gegen ist der Besuch des Teegartens mit sei­nem japanischen Pavil­lon, gleich ne­ben dem Teehaus.

      Casa Selma: Das „Haus der Vegetarier“ ist eine kleine Holzhütte mit zwei­ein­halb Räu­men und Waschbecken de­mons­triert, wie bescheiden die ersten Sied­ler auf dem „Berg der Wahrheit“ lebten. Eine Mini-Diashow doku­men­tiert die vergan­ge­nen Zeiten.

      ♦ April-Okt. tägl. 9-19 Uhr. Eintritt frei.

      Auf der Suche nach einer besseren Welt

      So wurde ich zu den Rohköstlern gesteckt und mir eine „Lufthütte“ als Be­hau­sung zu­gewiesen. Von früh bis spät kaute ich nun Äpfel, Pflau­men, Bananen, Fei­gen, Wal-, Erd- und Kokosnüsse - es war schauder­haft, und ich fühlte mei­ne Kräfte schwin­den. [...] Da ging ich ins Dorf hinunter, setzte mich in eine so­lide Osteria, ließ mir ein Beef­steak geben, trank einen halben Liter Wein da­zu und rauchte danach eine große, dicke Zigarre. Nie hat mir eine Mahl­zeit so ge­schmeckt, nie mich eine so gekräftigt und dem Leben gewonnen.

      So bilanzierte der deutsche Publizist und Anarchist Erich Mühsam seinen Auf­ent­halt auf dem „Berg der Wahrheit“, den er 1904 auf­suchte. Bei den Grün­dern der le­gen­dären Lebensgemeinschaft auf dem Asconeser Berg wur­de gesunde Er­näh­rung tat­sächlich groß­ge­schrieben. Henri Oeden­ko­ven, Spross eines Groß­indus­triel­len aus Ant­werpen, und Ida Hofmann, ei­ne Mün­chener Pianistin, erwarben 1900 den Monte Monescia von As­co­na, tauf­ten ihn kurz­ent­schlossen in „Monte Verità“ um und gründeten mit ei­ner Hand­voll Gleich- oder Ähnlichgesinnter eine „vegetabile Co­ope­ra­ti­ve“. Das re­for­merische Projekt wurde schnell bekannt, und bald trafen Künst­ler und In­tellektuelle oder einfach Individualisten, die ihre bür­ger­li­che Exis­tenz ge­gen eine libertäre Bohème eintauschen wollten, in Ascona ein, um mit Zu­rück-zur-Natur und anderen neuen Lebensformen zu ex­pe­ri­mentieren. Frei­kör­per­kultur und Ausdruckstanz standen hoch im Kurs, man­che plädierten für sexuelle Frei­heit, andere versanken in spirituellem Ge­dan­kengut, und ge­sundes Wohnen praktizierte man am besten in soge­nann­ten Licht-Luft-Hüt­ten. Weltverbesserer aller Schattierungen fan­den sich auf dem Monte Ve­rità ein. Die Idee von einem radikal ande­ren Le­ben war umso at­trak­ti­ver, als Eu­ropa auf einen Krieg zu­steuerte. Wäh­rend man in Berlin die Kriegs­trom­pete blies, lausch­te die Bohème von Ascona den Klängen der Frie­dens­schalmei.

      Die Liste illustrer Zeitgenossen, die den Monte Verità für einen kür­ze­ren oder län­ge­ren Aufenthalt aufsuchten, ist lang. Schrift­steller wie Gerhart Haupt­mann, Kla­bund, Else Lasker-Schüler, Fried­rich Glauser und allen vo­ran Hermann Hesse, der das Leben auf dem Berg direkt in seine Er­zäh­lung „Demian“ einfließen ließ, waren Gäs­te, auch Maler wie Hans Arp, Sophie Täuber, Paul Klee und Marianne von We­ref­kin sowie Aus­drucks­tän­zerinnen wie Isidora Dun­can und Mary Wigman. Zu den Politikern zähl­ten Lenin, Trotz­ki, Stre­se­mann, Chamberlain und Konrad Ade­nau­er, zu den Blau­blüti­gen der bel­gi­sche König Leopold. Der Psy­cho­ana­ly­tiker C. G. Jung besuchte den Berg, der Soziologe Max Weber, der Philosoph Ernst Bloch ... alle im Zeitraum von 20 Jahren.

      Das so viel Aufsehen erregende Projekt ging nach dem Ersten Welt­krieg zu En­de. Bereits 1917 - der oben zitierte Erich Mühsam hätte sich gefreut - wur­de wieder Fleisch gegessen. Mit der wirt­schaftlichen Rentabilität der Naturheilan­stalt stand es nicht zum Besten, und schließlich verließ das Grün­derpaar 1920 den Berg, um in Brasilien eine neue vegetarische Kolo­nie zu gründen.

      Piscina: Im Schwimmbad, einst Juwel des Heydt’schen Hotelkomplexes, fin­den heu­te kulturelle Veranstaltungen statt - eine wunderbare Open-air-Bühne.

      Elisarion „Chiaro nel Mondo dei Beati“: Seinen Namen verdankt der Bau Elisàr von Kupffer, einem deutschstämmigen Esten, dessen Wirken in die Zeit der ersten Sied­ler auf dem Monte Verità fiel. Er begründete den Klarismus, eine spiri­tuelle Be­wegung, die sich mit der Welt­anschauung seines Zeitgenossen Rudolf Steiner ver­glei­chen lässt. Dane­ben betätigte sich „Elisarion“, wie sich der umtriebige Mann nann­te, auch als Dichter und Maler. In den 1920er Jah­ren zog er ins nahe Minusio, wo er für sein Rundgemälde „Chiaro nel Mon­do dei Beati“ (Licht in der Welt der Se­li­gen) ein eigenes Sanktuarium bauen ließ.

      Der ruinöse Pavillon auf dem Monte Verità stammt aus dem Jahr 1987 und wurde ei­gens für eine Ausstellung von Elisarions Rundgemälde konzipiert. Aus­stel­lungs­ma­cher Harald Szeemann wollte damit die ideologische Ver­wandt­schaft der uto­pis­ti­schen Kolonie mit dem Ideengut der Klaristen unter­strei­chen. Nach Jahren der Res­tau­rie­rung soll das Elisarion 2020 wie­der­er­öff­net werden.

      Torre dell’Utopia: Wer der Be­schil­de­rung zum „Turm der Utopie“ folgt, fin­det am Ende des Wegs einen kleinen, aus grobem Stein gemauerten Rund­turm, gekrönt von einem trafo­ähn­li­chen Häuschen mit Antenne. Bei der gra­nitenen Wendel­trep­pe fehlen die untersten Stufen - kein Zutritt zu den utopischen Gefilden.

      Das Dorf im Schatten Asconas wirkt auf den ersten Blick etwas zer­sie­delt: Lo­sone ist gewachsen, und mittlerweile zählt man hier mehr Einwohner als im berühmten Nachbarort. Ein Dorfzentrum ist nicht auszumachen, weil Lo­sone gleich drei Ortskerne besitzt.

      Die drei Ortsteile San Lorenzo, San Rocco und San Giorgio (dieser mit einem kom­pak­ten Ortskern), jede mit eige­ner Pfarrkirche, sind längst zu­sam­men­gewachsen.

      Nicht zuletzt auch dazu beigetragen hat die touristische Entwicklung. Losone selbst ist zwar keine Desti­na­tion des Fremdenverkehrs, aber der Qua­dratmeter ist hier bil­liger als in Ascona, man ist schnell in Locarno, im Hinterland lockt das Cento­valli, und am Ortsrand findet man ein paar ein­la­dende Grotti.

      Sehenswertes

      Chiesa San Giorgio: Die Kirche des Orts­teils San Giorgio liegt am talseitigen Rand von Losone und zeigt eine rot-weiße Fassade. Im Inneren fällt erst der kühle Gra­nit­boden auf. Hinter dem Chor stößt man dann auf einen tiefer lie­genden Chor mit noch gut erhaltenen Fresken. Es sind Relikte einer Vor­gängerkirche, deren Fun­da­men­te man links des Altars unter den Glasplatten entdecken kann. Doch spiegelt das Glas dermaßen, dass man - wie der be­rühm­te Narziss von Caravaggio - erst ein­mal sich selber sieht.

      Chiesa San Rocco: Die kleine Kirche im Ortsteil San Rocco stammt aus dem 16. Jahr­hundert, der dreibogige Porti­kus kam im 17. Jahrhundert dazu. Sie ist Rochus, dem Schutzheiligen gegen die Pest und andere Seuchen, ge­wid­met. Rochus soll in den Pest­jahren 1576-1578 seine Hand