Don Joseph Goewey

Das stressfreie Gehirn


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repräsentiert ein Stadium in der Entwicklung des menschlichen Gehirns. Zusammengenommen bilden sie ein neurologisches Pantheon von drei Göttern mit einem Gefolge niederer Götter, die das alles zu einem funktionierenden Ganzen verknüpfen. Die drei Götter der Neurologie sind Apollo oder der Neocortex; Mars oder das emotionale Gehirn; und Drache oder das primitive Gehirn.

      Diese drei Götter der Neurologie sind allmächtig und ebenso wunderbar wie die Götter der alten Kulturen. Und sie können ebenso miteinander streiten und sich gegenseitig anfeinden, wie es die Götter des Altertums taten. Jeder hat seine klar identifizierbare Persönlichkeit und seine Begabungen, weshalb wir oft von dieser oder jener Seite unserer selbst sprechen. Sind die Götter der Neurologie untereinander uneins, dann wird das Gehirn auf Kosten der Intelligenz zu einem Sturm der Fehlfunktion.

      Arbeiten die Götter des Gehirns harmonisch zusammen, dann transzendieren wir unsere Persönlichkeit und unser Talent und finden uns an der Schwelle zum Genie, welches das charakteristische Kennzeichen unserer Spezies ist. Wie der große Philosoph Schopenhauer sagte: „Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eins trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehen vermögen.“ Wenn die Götter miteinander in Einklang sind, umgeht der Geist den Sturm des Stresses und der inneren Konflikte, betritt elysische Gefilde und verwirklicht das, was Abraham Joschua Heschel „das größte Wunder auf Erden“ nannte.

      In den folgenden Kapiteln werden wir erkunden, was diese drei Götter sind. Selbst ein rudimentäres Verständnis der Funktionsweise dieser drei Systeme sowie der Art und Weise, wie sie sich anfühlen und wie sie unsere Erfahrung erzeugen, kann uns helfen, den Weg in das Auge des Sturms zu finden.

       Der Unterschied zwischen dem, was wir tun, und dem, was zu tun wir fähig sind, würde ausreichen, um die meisten Probleme der Welt zu lösen.

       Mahatma Gandhi

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       Der Drache, das primitive Gehirn

       Ohne das Tier in uns sind wir kastrierte Engel.

       Hermann Hesse

      Der Drachen-Gott der Neurologie, der älteste und kleinste Teil des Gehirns, ist die Grundlage, auf der sich die anderen Teile entwickelt haben. Der Drache, oft das primitive Gehirn oder das Reptilienhirn genannt, ist der Körper und seine weitgehend automatische, unbewusste Funktion unter dem Kommando des Hirnstamms. Doch wie wir sehen werden, stattet das primitive Gehirn den Körper auch mit seinem eigenen Geist aus, der tiefgründig und reich an Weisheit ist. Es ist unsere wilde, animalische Natur, die auf die Erde eingestimmt ist. Das Wort „Drache“ kommt vom Griechischen drakein, was „klar sehen“ bedeutet. Und in der Tat ist die Fähigkeit, klar zu sehen, genau das, womit unser primitives Gehirn uns ausstattet.

      In der griechischen Mythologie bewachte der Drache gewöhnlich eine heilige Quelle, einen heiligen Hain oder einen Goldschatz. So wurde zum Beispiel das Goldene Vlies im heiligen Wald des Mars in Colchis von einem Drachen bewacht, der niemals schlief. Ein Paar geflügelter Drachen zog den Wagen von Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit und Wächterin der Jugend, welche die Jahreszeiten und vor allem den Frühling brachte. Diese griechischen Mythen stellen den Drachen vor den Schatz, den die Menschheit am höchsten schätzt, und erinnern uns damit daran, dass wir durch das Primitive hindurchgehen müssen, um zum Schatz zu gelangen. Außerdem gibt es den Mythos von Athena, die Drachenzähne in die Erde säte, um eine Armee von ausgewachsenen und voll bewaffneten Kriegern hervorzubringen. Dies repräsentiert die wilde Natur des Reptilienhirns.

      Die griechische Kultur war nicht die Einzige, die Drachen kannte. Die Eingeborenen Amerikas verehren den Drachen als die göttliche Manifestation aller Urkräfte der Natur und des Universums. In der asiatischen Mythologie ist der Drache ein wohlwollendes Wesen, während er in der abendländischen Mythologie bösartig ist. Die australischen Aborigines nennen ihren Reptiliengott Mangar-kunjer-kunja, der Gott, der die Menschen erschuf. Das primitive Gehirn ist das Gute und das Böse, aus dem die menschliche Rasse entspringt.

       Der unbewusste Körper

      Das primitive Gehirn ist der unbewusste Körper. Es kontrolliert die vegetativen Prozesse des Körpers, wie die Atmung, den Herzschlag und die Verdauung. Wenn es nicht funktioniert, dann sterben wir. Es hält die lebenswichtigen Funktionen des Körpers aufrecht, ohne einen einzigen Gedanken, eine Wahrnehmung oder ein Gefühl zu erzeugen. Es ist Instinkt, Sexualität und Reflexe. Das primitive Gehirn ist die einzige Gehirnstruktur, die wir mit allen Kreaturen auf der Erde gemeinsam haben, von den Säugetieren über die Fische bis zu den Insekten.

      Genau genommen bezeichnen wir eine Kreatur, die nur das primitive Gehirn besitzt, nicht als intelligent. Sie scheint keinerlei Erinnerung an ihre eigene Erfahrung zu besitzen. Sie scheint nicht zu denken, zu berechnen oder sich ihren Weg zu suchen. Es heißt vielmehr, dass sie dem Instinkt folgt. Wenn wir es genauer betrachten, zeigt sich allerdings, dass dieser unbewusste Körper klüger zu sein scheint, als wir glauben. Je mehr die Wissenschaft das animalische Verhalten erforscht, desto dünner wird die Trennlinie zwischen Instinkt und Intelligenz. In gewissen Situationen erreicht der Instinkt dieselben Resultate, die die Intelligenz erreicht, oder übertrifft diese sogar noch. Vögel, Fische und Insekten, die nur das primitive Gehirn besitzen, sind in der Lage ihren Weg zielgenau durch Ozeane oder das Firmament zu finden, um zu laichen oder zu überwintern. Hummeln besitzen ein unglaubliches Heimfindevermögen, das es ihnen erlaubt, aus Entfernungen von über 12 Kilometern nach Hause zu finden. Sie vermögen dem Magnetfeld der Erde Richtungshinweise zu entnehmen, können Koordinaten nach dem Himmel berechnen und vermögen ihre Reisedistanz zu erkennen.1 Unglaublicherweise sind Honigbienen zudem in der Lage, ihren Nestgenossinnen durch präzise Bewegungen ihres Hinterleibs Flugkoordinaten mitzuteilen und sie so zu Feldern zu dirigieren, auf denen Blumen blühen. Diese Koordinaten, die in Relation zum Sonnenstand angezeigt werden, berücksichtigen in der Tat Veränderungen des Sonnenstands aufgrund der Erdumdrehung unter Einbeziehung der Zeit, zu der die Biene zuletzt das Blumenfeld besucht hat.

      Der moderne Mensch hat sich immer mehr auf seinen Intellekt verlassen und neigt dazu, primitive Impulse zu verdrängen – und das nicht ohne Grund. Diese Impulse können uns nämlich in große Schwierigkeiten bringen. Wenn der Drache die Kontrolle über das menschliche Verhalten übernimmt, lässt er uns höchst territorial werden und allein auf das Überleben ausgerichtet. Er kann uns auch wild und primitiv werden lassen. Wenn eine militärische Einheit sinnlos wehrlose Menschen massakriert, so ist es wahrscheinlich, dass der Geist der Soldaten aufgrund von Furcht, Erschöpfung und Trauma die Gehirnfunktion so weit zurückentwickelt hat, dass primitive Instinkte die Kontrolle übernommen haben. Um zu überleben, tötet der Instinkt, ohne darüber nachzudenken. Es ist offensichtlich, dass wir es nicht gut fänden, wenn die primitive menschliche Natur im Weißen Haus säße und den Finger auf dem roten Knopf hätte. Der Verstand misstraut der primitiven Leidenschaft, weshalb die Mütter über Jahrhunderte in vielen Kulturen das Liebeswerben bei ihren Kindern beaufsichtigten. Aus demselben Grund knurrt ein Vater den gut aussehenden heißblütigen Burschen mit dem schicken Auto an, wenn dieser an der Tür klingelt, um seine Tochter abzuholen. Auch im täglichen Leben kann uns das primitive Gehirn impulsiv und übereilt reagieren lassen. Eine konservative, gut geführte Bank würde unserer primitiven Natur keine Kreditkarte ausstellen. Die Notwendigkeit gewisser Einschränkungen durch den Intellekt ist verständlich. Die Gesetzgebung, die Strafverfolgung und die Anstandsregeln sind Versuche Apollos, das wilde Tier zu zähmen. Indem wir das Primitive gezähmt haben, sind wir moderne Menschen zu der Ansicht gelangt, dass dieser Teil von uns krude ist und primitive Kulturen unterentwickelt sind. Wir neigen dazu, Botschaften aus dem primitiven Gehirn abzutun als etwas, das allzu unzuverlässig und unglaubwürdig ist, um intelligent sein zu können.

       Der Körper als Geist

      In Wirklichkeit waren unser Körper und unser