Coaches verstanden ihre Spieler nicht. Jack Farrell aber tat es, er wusste, dass er es hier nicht mit ein paar Chorknaben zu tun hatte, sondern mit ziemlich harten Kids.
„Er hörte bei vielen Dingen auf Joey“, erinnert sich Vontez Simpson, der damals als Teammanager bei Bartram tätig war. „Er hörte sich seine Ideen an. Farrell ließ Joe viele Freiheiten am Ball.“ Doch am wichtigsten war, dass er Jellybeans Talent bereitwillig akzeptierte und die ganze Bandbreite seines Könnens auszunutzen versuchte, nämlich auch als Center seine großartige Ballbehandlung einzusetzen, um die eigenen Aufbauspieler gegen die oft aggressive Verteidigung der anderen Teams im Angriff zu unterstützen.
Zudem gab Farrell Jellybean auch grünes Licht, selbst Würfe zu nehmen. „Er nahm niemals einen Wurf, den er nicht wollte“, lacht Simpson. „Er nahm immer den langen Wurf aus der Ecke. Wenn man ihn ließ, nahm er den Wurf.“
Bei den meisten anderen Teams wäre ein Center, der solche Würfe nimmt, sofort wieder auf der Bank gesessen. Heute, im 21. Jahrhundert, ist ein solcher Wurf ganz normal, doch 1972 wurde so etwas als Disziplinlosigkeit erachtet. „Joe hatte in Jack Farrell jemanden gefunden, der ihn weit genug im Griff hatte, um das Beste aus ihm herauszuholen, ihm aber auch genug Freiheiten ließ, um sich selbst zu verwirklichen“, meint Paul Westhead. Auch die anderen Schulen hatten Spieler seiner Größe, doch die waren nur zum Blocken da, während Joey selten am Block spielte. Dazu kam seine Spielintelligenz. Er hätte eigensinnig spielen und 40 Punkte machen können, doch das tat er nicht. Er war ein Teamspieler, er wollte gewinnen. Allerdings gab es auch immer wieder Spiele, bei denen er mehr für das Publikum spielte, anstatt sich für die einfachere Variante zu entscheiden. Dieser Ruf folgte ihm auch mit ans College und später in die NBA. „Da war schon etwas dran“, sagt Vontez Simpson. „Und Kobe hat das von ihm geerbt.“
Die Debatte
Viele Jahre später debattierten die älteren Hasen in Philadelphia oft darüber, ob Kobe oder Joe Bryant der bessere Highschoolspieler war und ergriffen dabei meist Joes Seite, aufgrund seiner Größe und seiner einzigartigen Fähigkeiten. Zurückblickend meint Julius Thompson, dass Joe wohl der erste Spieler des 21. Jahrhunderts war. „Ich liebe Kobe, keine Frage, doch ich sah Joe spielen, als er am Zenit war“, sagt Thompson. „Joe war 2,10 m und konnte alles, was Kobe mit 1,98 m konnte.“ Dazu kommt, dass Joe einen Erfolg hatte, den Kobe nie erreichte, nämlich ein Team zum Titel in der Philadelphia Public League zu führen. Genau das tat Jellybean im Jahr 1972 in seinem letzten Jahr an der Highschool mit der Rückennummer 23. Er wurde zum MVP des Public LeagueTurniers gewählt, nachdem er Bartram zu Siegen über die Gratz High (trainiert von John Chaney, knapp bevor er Collegecoach wurde) und Germantown, das vom späteren NBA-Spieler Mike Sojourner angeführt wurde, verholfen hatte. Nach diesem Erfolg war die ganze Stadt auf Jellybean aufmerksam geworden.
Die Auszeichnung als MVP der Public League war eine von vielen, die Bryant in diesem Jahr erhielt und die das Interesse vieler Collegetrainer im ganzen Land erregten. Big Joe musste sogar die Telefonnummer wechseln, da das Telefon nicht mehr aufhörte zu klingeln. In diesen Tagen war Sonny Vaccaro, der spätere Marketingmanager einer bekannten Sportschuhfirma, ein wuschelköpfiger Mittelschullehrer aus Pittsburgh, der das sportlich wertvollste und wichtigste Highschool All-Star-Game des Landes veranstaltete. Diese Veranstaltung, die sich das Dapper Dan Roundball Classic nannte, zog Trainer der besten Colleges in ganz Amerika an, die jeden Frühling nach Pennsylvania pilgerten, um sich die Crème de la Crème der Highschooltalente des Landes anzusehen. Und diesmal hatten auch Joe Bryant und Mo Howard eine Einladung bekommen, bei diesem Turnier mitzuspielen. Auch die Väter von Jellybean und Mo Howard konnten es kaum erwarten zu dem Turnier zu fahren.
Big Joe Bryants Brust wuchs an diesem Wochenende noch weiter, als sein Sohn zum wertvollsten Spieler des All-Star-Spiels gewählt wurde, was Jellybean noch mehr Aufmerksamkeit bei Collegecoaches bescherte. Das war aber auch ein zweischneidiges Schwert, schließlich wollte die Familie, dass Joey in Philadelphia Collegebasketball spielte, wo sie ihn alle hautnah bei seinem Aufstieg zu Ruhm und Reichtum begleiten könnten. Auch Jelly wollte so nahe wie möglich an seiner Heimatstadt spielen und so entschied er sich schließlich für die La Salle University, wo auch schon Kenny Durrett, eines seiner Idole, gespielt hatte.
„Das Jahr 1972 war ein ganz Besonderes für Highschoolbasketball in Philadelphia, mit Joe Bryant und Mike Sojourner – der schließlich für Utah spielen sollte – und Mo Howard, die alle in derselben Klasse spielten und die Großen Drei waren. Das waren die drei Spieler, hinter denen jeder her war“, erklärt Dick Weiss. Während Joe sich für La Salle entschied, ging Mo Howard nach Maryland, der „UCLA of the East“, wie Coach Lefty Driesell sein Programm nannte.
Explorers
Was Mo und Joe jedoch nicht mit ihrer spielerischen Brillanz umgehen konnten, war die National Collegiate Athletic Association. Der Dachverband für Collegesport hatte wieder einmal seine Regeln betreffend der Spielberechtigung geändert, dieses Mal um auch den akademischen Erfolg von neuen Spielern abzusichern. Die neue Regelung bedeutete, dass weder Bryant noch sein Freund Howard in ihrem ersten Collegejahr spielberechtigt waren.
Howard zog trotzdem gleich nach Maryland, während Joe Bryant in diesem verlorenen Jahr eine Menge Zeit mit Gilbert Saunders verbrachte. Auf der La Salle spielte er nur college-interne Spiele. Selbst in seinem zweiten Jahr am College war Joey noch immer sehr mager (er wog weniger als hundert Kilo). Sein erstes offizielles Spiel für die La Salle Explorers spielte er in der Saison 1973/74, wo er sofort eine deutliche Aufwertung für den Talentpool des Colleges darstellte. Coach Westhead, dem bereits der Ruf eines Experten für Shakespeare vorauseilte, wachte über die Spiele mit akademischem Gebaren.
Jellybean trug seinen Teil dazu bei, indem er so spielte, dass es der Basketballversion eines jambischen Pentameters gleichkam. Ein Studentenmagazin der La Salle University beschrieb ihn als „extravagantes Genie“. „Es lag nicht nur an seiner Größe“, erinnert sich Westhead. „Sein Spiel war geschmeidig. Er war immer in Bewegung, niemals statisch. Statisch gab es in seiner Welt nicht. Es ging immer nur links, rechts, vor, zurück. Da war immer eine Leichtfüßigkeit in seinem Spiel. Das galt auch in der Verteidigung. Er versuchte immer seinen Gegnern den Ball zu stehlen.“ Als junger Coach liebte Westhead das offene Spiel, was aber hieß, dass sein Team immer in Bewegung bleiben und Pressing betreiben musste.
„Bryant war der Typ, der einen defensiven Rebound fing und anstatt auf seinen Aufbauspieler zu passen, den Ball dank seiner Fähigkeiten selbst bis unter den gegnerischen Korb brachte“, erklärt Westhead. „Das war selten in den 70ern und auch in den Jahren danach.“ Fünf Jahre später erlangte ein 2,06 m großer Magic Johnson damit Berühmtheit, als er Michigan State zur nationalen Collegemeisterschaft führte und, einige Jahre später, die Lakers zu fünf NBA-Meisterschaftstiteln. Im Jahr 2015 war es Draymond Green, ein Power Forward mit ausgezeichneten Spielmacherqualitäten und sehr guter Konterspieler, der einen großen Anteil daran hatte, dass die Golden State Warriors den NBA-Titel gewinnen konnten. Doch 1974 war ein Center mit Spielermacherqualitäten ein absolutes Novum.
Bryants zweite Saison im College war von vielen großartigen Leistungen gekrönt, unter anderem Siege über die dominanten Teams des Ostens, wie etwa Clemson und das sechstgesetzte Alabama in der Sugar Bowl, welche La Salle dank eines späten Korbs von Bryant für sich entscheiden konnte. Zu dieser Zeit gab es noch keine Wild Cards im NCAA-Turnier und die einzige Möglichkeit ins große Finale zu kommen, war das eigene Conference-Turnier zu gewinnen.
Im Ligafinale traf La Salle dann auf das Lafayette College. Zwei Minuten vor dem Ende lag La Salle mit sieben Punkten voran, als Joe Bryant seinem Gegenspieler den Ball abnimmt und allein auf den gegnerischen Korb zieht. Bryant sprang so hoch er konnte und stopfte den Ball in den Korb. Als er sich umdrehte, hatte er ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Doch zu dieser Zeit waren Slam Dunks im Collegebasketball nicht erlaubt. Anstatt zwei weiteren Punkten für La Salle gaben die Schiedsrichter ein technisches Foul und zwei Freiwürfe für Lafayette. Noch immer grinsend ging Bryant zur Bank und sagte zu seinem Trainer: „Coach, ich konnte einfach nicht anders.“ „Ich glaube, er wusste genau was er tat“, erzählt Westhead. „Es muss im klar gewesen sein, dass wir das Spiel auf jeden Fall gewinnen würden und