Natalie Saracco

Zurück aus dem Jenseits


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Gefangene des Ungeplanten. Heute hatte die gemütliche Autobahn in Richtung Normandie für sie das Aussehen einer Leichenhalle angenommen.

      Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam! (Mk 13,35–37).

       Der Unfall

      Die Dinge des Lebens. Was für ein herrlicher Film! Ich erinnere mich, ihn als Kind gesehen zu haben. Er hat mich besonders beeindruckt! Romy Schneider und Michel Piccoli, davongetragen vom Wirbelsturm des Lebens. Sie sind schön, jung und stark und scheinen unsterblich zu sein.

      »Unsterblich?« Welche leichtfertige Einstellung bringt uns eigentlich zu der Ansicht, Unfälle, Krankheit und Tod gebe es immer nur bei den anderen? Man fühlt sich stark, man glaubt, nichts könne einen erschüttern, bis zu dem Tag, an dem … Genau wie in dem Film von Sautet oder auch in dem Gedicht von Prévert, Das Lied im Blut: »Ein Mann ist da mit seinem ganzen Blut in ihm, und plötzlich ist er tot und all sein Blut ist draußen.«

      Ich erinnere mich, wie ich an diesem Tag aus dem Meeting kam, mich von diesem wunderbaren Produzenten verabschiedete und auf einer Straße dahinflog, die ganz und gar mit Glück gepflastert war. Endlich sollte ich meinen ersten Spielfilm drehen können. Nichts konnte sich mir mehr in den Weg stellen. Nichts außer diesem verflixten Lastwagen!

      O vergänglicher Glanz, Kürze des Lebens …

      Der Apostel Jakobus vergleicht in seinem Brief unser Leben mit einem Rauch … den man eine Weile sieht; dann verschwindet er. Letztlich vergisst man das.

      Ich höre noch, wie meine liebe, gute Freundin zu mir sagt: »Wir kaufen eine Flasche Champagner und stoßen mit deiner Familie an!«

      »Eine Flasche pro Person!«, habe ich übermütig gekontert.

      Pläne, Leben, Lebenslust, ein gut gefüllter Terminkalender und dann plötzlich – zack! Alles bleibt stehen. Der Tod fragt uns nicht, ob wir noch warten möchten.

      Solche Autounfälle sind eigenartig: Alles geht sehr schnell und ereignet sich gleichzeitig im Zeitlupentempo. Die Geräusche verschwinden, als wollten sie uns von den Lebenden abschirmen und uns in eine flauschige, mit Watte gepolsterte Blase eintauchen, eine Art Filter zwischen zwei Welten.

      Bei dieser Art von Erfahrung sieht man die Dinge schlagartig aus einem anderen Blickwinkel.

      Das Erste, was meine stürmische und stolze Atheistin sofort nach dem Unfall zu mir sagte, klingt noch in meinen Gedanken nach. Im Auto eingeklemmt und vom Schock benommen hatte diese tapfere Lucy den Mumm, mich zu bitten, zu Gott zu beten und ihn um Hilfe zu rufen! Es stimmt, manchmal setzt Gott alles dran, um uns aufzuwecken. Auf jeden Fall hat er das mit uns getan. Mit mir. Obwohl ich damals schon gläubig war. Ich war eine praktizierende Katholikin. Ich »praktizierte« tatsächlich in weichen Pantoffeln und mit den Sicherheiten, die eine Religion gibt.

      Wir waren ziemlich lange im Inneren des Autos eingeklemmt oder vielmehr in dem, was von diesem Auto noch übrig war. Die Feuerwehrleute, die normalerweise sehr schnell sind, trafen erst nach einer Stunde ein. Das war Zeit genug, um unsere mit Angst erfüllten Seelen einzutauchen in eine Seelenqual, deren wir uns bewusst wurden. Wir waren allein, abgeschnitten vom Rest der Welt, Auge in Auge mit dem Tod, der sich aufdringlich an uns heranmachte.

      Lucy und ich erlebten den Unfall nicht auf die gleiche Weise. Als Fahrerin hatte sie den Aufprall kommen sehen und sich am Steuer festgeklammert. Ich dagegen hatte mich ihr zugewendet und war nur von dem Wunsch erfüllt gewesen, ihr Interesse für Gott zu wecken. Dreimal hintereinander wurde ich nach vorn geschleudert, mit dem Gesicht bis auf wenige Zentimeter vor die Windschutzscheibe. Die Tatsache, dass die alte Kiste, die ihr als Auto diente, überhaupt noch fuhr, grenzte schon an ein Wunder, wenn es außerdem noch Airbags gegeben hätte, wäre das zauberhaft gewesen! Aber Gott sei Dank funktionierten die Sicherheitsgurte noch. Wenn ein Sicherheitsgurt allerdings bei 130 Stundenkilometern blockiert, kann das Verletzungen verursachen, und sie tun sehr weh. Ein Feuerwehrmann hat mir verraten, dass die Heftigkeit durch das bei einer solchen Geschwindigkeit blockierte Gurtband dem Schlag eines professionellen Boxers entspricht. Im Klartext war es so, als ob Mike Tyson über die ganze Länge des Sicherheitsgurtes zugeschlagen hätte! Ich hatte schreckliche Schmerzen, bekam kaum Luft und konnte nur schwer atmen. Plötzlich begann ich, Blut zu spucken. Ein bisschen, viel, sehr heftig. Da ich die Medizin schon mit der Muttermilch eingesogen hatte, mein Vater war Allgemeinarzt und meine Mutter Krankenschwester, habe ich für mich eine Diagnose gestellt: innere Blutungen. Alles passte zusammen! Der Sicherheitsgurt hatte mich zwar zurückgehalten, mir aber dabei einige Rippen gebrochen, was erklärte, warum ich nur schwer atmen konnte. Und die Rippen hatten mir einfach die Lunge durchbohrt, daher das Blut, das ich spuckte. Ich erinnere mich übrigens an das hilfsbereite Eingreifen zweier Krankenschwestern in Zivil, die am Seitenstreifen der Autobahn angehalten hatten, um uns beizustehen und uns zu beruhigen, doch was mich betrifft, so wollte ich alles, nur nicht beruhigt werden. Ich wollte die Wahrheit wissen. Mit der mir eigenen Offenheit fragte ich sie direkt, ob sie nicht glaubten, dass ich eine innere Blutung hätte. Die eine drehte verlegen den Kopf weg, die andere antwortete: »Ja.« Sie fügte noch hinzu, wenn die Rettungskräfte kämen, sollte ich ihnen das als Erstes sagen.

      »Innere Blutungen …« Ich wusste nicht, dass diese beiden Wörter so enorm wehtun können. Eine Guillotine in Worten. Ich habe immer noch ihren bitteren Geschmack im Mund.

      Immer noch vor der Ankunft der Rettungskräfte rief ich meine Eltern an, um ihnen zu sagen, dass Lucy und ich einen kleinen Zusammenstoß gehabt hätten, nichts Schlimmes, und dass wir später als geplant kommen würden. Mit meinem Vater sprach ich vertraulich und erzählte ihm alles. Er bestätigte meine Vermutung, dass es sich um eine innere Blutung handelte, und er wies besonders darauf hin, dass die Zeit dränge und dass bei solchen Verletzungen innerhalb von zwei Stunden operiert werden müsse. Der einzige Haken: Es war schon mehr als eine Stunde her, seit der Unfall passiert war, und wir waren immer noch in dem Autowrack eingeklemmt. Ich nahm ihm das Versprechen ab, dass er meiner Mutter nichts davon erzählen sollte. Sie ist zu sensibel, zu sehr eine behütende Mutter … Bevor ich das Telefonat beendete, sagte ich zu meiner Mama: »Ich liebe dich.«

       Die Begegnung

      Die Scheinwerfer des Rettungsdienstes warfen ihr Licht auf unser Auto, das aufgeschnitten wurde, damit wir herausgezogen werden konnten: Lucy und ich waren die Schauspielerinnen in einer schlechten Comedy-Show, die uns das Leben spielte. Lucys Zustand gab keinen Anlass zur Sorge und deshalb wurde sie nach hinten geschoben. Von jetzt an waren die Scheinwerfer auf mich gerichtet und machten aus meiner armen Person die Heldin einer Szene, auf die ich gern verzichtet hätte. Die Rettungskräfte hatten mich dafür in einen »RoboCop«2 verwandelt, der mit einer Halskrause in einer Gipsschale verschwand! Mein kleiner schmerzender Körper musste unbedingt am Leben erhalten werden, jede Bewegung konnte zum Schlimmsten führen. Zur Krönung des Ganzen hatten sie mich mit einer Aluminiumdecke zugedeckt, was mich an die Schokoladentafeln erinnerte, die ich so gerne esse! Für die Experten dieses Dramas war es allerdings notwendig, mich warm zu halten.

      »Natalie, Natalie! Bleib wach. Du darfst nicht einschlafen«, rief mir der Feuerwehrmann zu.

      Aber trotz aller Bemühungen, mich am Leben zu erhalten, ging ich fort … Ruhig. Langsam … aber sicher.

      Das Erste, das mir in den Sinn kam, ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen: »Du wirst deine Seele zurückgeben müssen und du hast nicht gebeichtet!« Einer praktizierenden Katholikin wie mir konnte nichts Schlimmeres passieren! Wie sollte ich in den Himmel kommen, wenn die Schwere und der Schmutz meiner Sünden mich daran hinderten? Welch ein Schrecken! Im gleichen Moment antwortete mir der Herr: Ich kenne die Absicht deines Herzens, beunruhige dich nicht. Genau in diesem Augenblick spürte ich, wie das Leben aus mir wich. Ein merkwürdiges Gefühl: Die Energie, die intensive Wärme in mir schwanden nach und nach,