Natalie Saracco

Zurück aus dem Jenseits


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gelesen hatte. Aber ich wusste es ganz sicher, es gab nicht den geringsten Zweifel daran. Dies war die Stunde meines Gerichts, wie es auch für uns alle diese Stunde des Gerichts geben wird. Ich kann euch nur sagen, dass dies kein Scherz ist. Das Geschöpf muss bis zum letzten Cent Rechenschaft ablegen. Keine Chance, sich zu rechtfertigen oder seine Schuld loszuwerden. Den Spielplatz für die großen Kinder, die wir alle sind, gab es nicht mehr. Ich habe ihr die Zunge herausgestreckt, weil sie mich an den Haaren gezogen hat. Ich habe meine Waffe herausgeholt, weil er als Erster geschossen hat.

      Das entblößte Geschöpf steht in seiner ganzen Wahrheit vor seinem Schöpfer. Das ist dermaßen niederschmetternd, dass es unerträglich wird. Das Schlimmste ist die Vorstellung, dass »alles vollendet ist«. Du kannst nichts mehr wegnehmen und nichts mehr hinzufügen, was auch immer du getan hast. Die Würfel sind gefallen, nichts geht mehr.

      Das Irrwitzigste war, dass Jesus genau in diesem Moment, dem schlimmsten meines Lebens, in der schrecklichsten Stunde meines Gerichts, verschwunden war! Er, der in meinem Leben immer an meiner Seite gewesen ist, hatte sich verflüchtigt! Ein Gefühl von Schrecken, Angst und Seelenqual. Im selben Augenblick wurde mir klar, dass er mich nicht verlassen hatte. Er war Teil des himmlischen Gerichts, das aus Vater, Sohn und dem Heiligen Geist bestand. Alles, was Jesus in meinem Leben hatte tun können, um mich zu retten, hat er getan. »Alles ist vollbracht«, wie am Kreuz. Jetzt war ich allein vor dem unerbittlichen Gericht und befürchtete die schlimmste Strafe.

      Eine laute Stimme war zu hören: Ihr werdet nach der Liebe gerichtet, der wahren Liebe zu Gott und zu euren Geschwistern.

      Man soll Gott nicht aus Angst lieben, aus Tradition oder aus Gewohnheit, sondern mit seinem Herzen, mit seinem ganzen Inneren! Ihn soll man um seiner selbst willen lieben, unabhängig davon, was er uns gibt und was er uns zuteilt. Ihn soll man lieben wegen seiner liebevollen, schönen Augen und nicht wegen seiner Börse, so reich an Barmherzigkeit. Ihn soll man in aller Einfachheit lieben, in aller Wahrhaftigkeit. Wie jeder Liebende will der Herr um seiner selbst willen geliebt werden. Er gibt uns alles, aber er erwartet auch alles von uns. Die Liebe ist herausfordernd, die Liebe ist kompromisslos, Gott ist die Liebe.

      Unser Herr empfindet eine große Liebe für uns! Er liebt uns leidenschaftlich und ging bis zum Äußersten, bis zum Kreuz … so weit, dass er sich uns auch heute noch schenkt trotz des Leids, das man ihm antut, und dies besonders in der Eucharistie. Wenn man es sich überlegt, dann ist es etwas ganz Unglaubliches, dieses Verlangen Gottes nach uns und dieses Vertrauen, das er in uns setzt! Er glaubt an uns. Die Welt glaubt nicht an ihn, aber er glaubt glücklicherweise an uns, denn sonst wären wir alle erledigt! Jede Seele, die verloren geht, ist ein Blutstropfen Christi, der verloren geht.

      Und die Liebe zum Nächsten versteht sich von selbst. Der Herr will, dass unser Herz von einer ehrlichen Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern erfüllt ist. Wie der heilige Paulus sagt: Wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts (1 Kor 13,2). Was die Liebe angeht, sind wir alle Autisten. Wir wollen unseren Herrn bitten, dass er uns im Alphabet seines Herzens die richtigen Worte finden lässt, mit denen wir ihm die schönsten Sätze schreiben können im Einklang mit seinem Willen. Der Roman über unser Leben soll eine Liebesgeschichte mit ihm und mit unseren Brüdern und Schwestern werden. Darin besteht der ganze Sinn unserer Existenz. Liebe, Liebe, Liebe, alles andere sind nur literarische Worte.

      Und hopp! Zurück zum Absender. Ich bin zurückgeworfen in meinen armen Körper, der sich im Autowrack befindet. Ich erinnere mich, dass ich einen ziemlichen Satz machte. Ich spürte einen Elektroschock von seltener Stärke. Als ob ich aus einem warmen Bad gekommen wäre, hatte ich das Vergnügen, einen Stepptanz auf Hochspannungsdrähten zu vollführen. Und dann das umgekehrte Phänomen: Etwas Heißes stieg meinen ganzen Körper empor von den Füßen bis zu meinem Kopf. Ein Gefühl von intensiver Wärme erfüllte mein ganzes Wesen bis ins Innerste meiner Knochen, meines Blutes, meines Fleisches. Tatsächlich hörte ich auf, Blut zu spucken. Mein eisiger, gelähmter, marmorharter Körper begann, sich wieder zu bewegen. Die kalte Grabplatte, mit der das Böse mich hatte schmücken wollen, verwandelte sich in das Versprechen eines neuen Lebens.

      All das geschah, als wir im Auto eingeklemmt waren, in dem Augenblick, als die Feuerwehrleute die Windschutzscheibe aufbrachen, um uns aus unserem Gefängnis zu befreien.

      Wie lange hatte diese »mystische Reise«, »diese Erfahrung einer anderen Welt« gedauert? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht nur einige Sekunden, vielleicht länger. Bin ich wirklich im Jenseits gewesen? Habe ich das Bewusstsein verloren? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich eine leidenschaftliche Begegnung mit dem Heiligsten Herzen Jesu hatte, eine echte Begegnung von Herz zu Herz, in der Worte keinen Platz mehr hatten, so intensiv und intim war sie. Dasselbe gilt für das himmlische Gericht. Sicher ist, dass unser Gott ein Gott der Liebe und Barmherzigkeit ist, trotzdem auch ein Gott der Gerechtigkeit bleibt, dessen Gerichtsurteil unerbittlich ist. Zu diesem Zeitpunkt erschienen mir diese beiden »Erscheinungen, Begegnungen, Erfahrungen« – ich weiß noch immer nicht, welche Bezeichnung richtig ist – als nicht zusammenpassend, sogar als widersprüchlich. Wie kann unser Gott zugleich ein Gott der Barmherzigkeit sein, der sich in Liebe um seine Kinder verzehrt, und gleichzeitig ein unerbittlicher Richter, der keine Kompromisse macht? Weil Gott gerecht ist. Er ist genauso unendlich in seiner Barmherzigkeit wie in seiner vollkommenen Gerechtigkeit.

      Den Feuerwehrleuten gelang es endlich, uns aus der Klapperkiste zu befreien. In weiter Ferne sah ich flüchtig das Blaulicht des Krankenwagens am »Ufer der Lebenden«, das uns einlud, wieder festes Land zu betreten. Noah, gerettet vor den Fluten. Diese Ruhepause hat nur einen kurzen Augenblick gedauert. Alle Krankenhäuser waren belegt und wir steckten nun im Krankenwagen und warteten auf dem Standstreifen der Autobahn. Dabei handelte es sich um einen Notfall … Diese unglaubliche und surreale Situation zog sich lange hin. Diese weitere Wartezeit diente den Plänen des Widersachers bestens, um mich sterben zu lassen aufgrund meiner inneren Blutungen. Je mehr Zeit verging, desto weniger Chancen hatte ich davonzukommen. Ich war die Gans, die ihr Schlachter mästete.

      Das Weitere im Krankenhaus war das Übliche: jede Menge Untersuchungen, Röntgenaufnahmen, Ultraschalluntersuchungen des Herzens usw. bis ins letzte Detail mit einem kleinen Unterschied: Man fand weder die geringste Spur einer inneren Blutung noch einer Verletzung noch eines Bruchs.

      Aber wie kann man dann meinen todesnahen Zustand und all das Blut, das ich gespuckt hatte, erklären? Nur Gott weiß es.

      Das Pflegepersonal wollte mich vierundzwanzig Stunden lang zur Beobachtung behalten. Nach der Heftigkeit eines solchen Aufpralls und meinen klinischen Symptomen kann man niemals sicher sein: Ein kleiner tödlicher Spielverderber könnte doch noch seine Nasenspitze zeigen. Aber ich rief ein Taxi und fuhr weg. Zwar etwas durcheinander – ich hatte schreckliche Schmerzen –, aber ich war unbeschwert. Nichts konnte mir geschehen, der Herr hatte mich wieder ins Lot gebracht und nun lag es an mir, den richtigen Weg einzuschlagen.

      2RoboCop ist ein amerikanischer Science-Fiction-Film, in dem der Polizist Alex Murphy bei einem Einsatz brutal ermordet wird und im Körper eines Roboters zu neuem Leben erwacht (Anm. d. V.).

       Rückblende: ein Jahr vor der Begegnung

      Sacré-Cœur auf dem Montmartre, da gibt es keinen Einwand, ist top! Das heilige Altarsakrament wird rund um die Uhr ausgesetzt für alle, die es anbeten möchten – zu denen ich gehöre – und für die armen Sünder – zu denen ich auch gehöre. Die Möglichkeit der Beichte und der Teilnahme an der heiligen Messe, die eine nach der anderen gefeiert werden, gibt es bis spätabends, was ausgesprochen praktisch ist.

      Es war ein Montagmorgen – ich war sehr früh aufgestanden, oder war es nach einer schlaflosen Nacht?, wobei ich eher von der zweiten Hypothese ausgehe – und ich ging eher zufällig zur Beichte, als ob es bei Gott einen Zufall gäbe! Einstein hat gesagt, dass »der Zufall sich dann ereignet, wenn Gott inkognito bleiben möchte«. Es war sonst niemand da außer mir. So hatte ich nicht einmal Zeit, darüber nachzudenken,