»Wie bitte?«
Wendys Stimme fegte die rosarote Wolke fort, auf der Janine gesegelt war. Unsanft landete sie wieder auf dem Boden der Tatsachen.
»Immer mit der Ruhe«, versuchte sie, Wendy zu beschwichtigen. »Ich habe natürlich nein gesagt.«
»Aber?« Wendys Gesicht glich noch immer einer Gewitterwolke.
»Kein aber. Und ja, ich gebe zu, dass mir das Angebot schmeichelt«, räumte Janine ein. »Offenbar hält er viel von meinen Fähigkeiten.«
»Fragt sich nur von welchen«, platzte Wendy heraus. Ihre Laune war auf einem absoluten Tiefpunkt angekommen.
Janine überlegte kurz. Glücklich, wie sie war, wollte sie niemanden um sich herum traurig sehen. Schon gar nicht ihre Freundin. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf Wendys Arm.
»Komm schon! Bevor du platzt, erzählst du mir lieber von eurem Tanzkursus.«
»Da gibt es nichts zu erzählen. Ich bin froh, wenn der Zauber heute Abend vorbei ist.« Wendy stand auf. Auf dem Weg in die Küche fiel ihr Blick durchs Fenster auf den Wagen, der auf der Straße vor der Praxis parkte. »Dein Galan ist übrigens hier.«
»Arndt? Wirklich?« Mit einem Satz war Janine auf den Beinen. Sie fuhr sich durchs Haar, griff nach Handtasche und Jacke und schwebte zur Tür. »Ich bin pünktlich wieder zurück.«
Wendy hörte noch, wie sich der Schlüssel ein Mal, zwei Mal, drei Mal im Schloss drehte. Gleich darauf sah sie zu, wie Janine in die Arme ihres Liebsten flog. Mit dem Gesicht einer Bulldogge drehte sie sich um. Und stieß einen Schrei aus.
»Du liebe Zeit, Wendy! Was ist los? Sagen Sie bloß, Sie haben mich nicht gehört.« Wie vom Donner gerührt stand Dr. Daniel Norden vor seiner ehemaligen Assistentin.
Wendys Blicke flogen zwischen Fenster und Daniel hin und her.
»Aber Arndt und Janine … «, stammelte sie, noch immer kalkweiß im Gesicht.
»Janine kam zufällig gerade raus, als ich klingeln wollte. Sie hatte es eilig.« Er zwinkerte Wendy zu. »Ach, muss junge Liebe schön sein.«
»Geschmackssache«, knurrte sie. Ihre Miene gereichte einer Bulldogge zur Ehre. »Aber was kann ich für Sie tun? Bestimmt sind Sie nicht hier, um mit mir über Janine zu sprechen.«
»Stimmt auffallend.« Dr. Norden trat auf sie zu. Er deutete eine Verbeugung an und hielt ihr die linke Hand hin. »Darf ich bitten, gnädige Frau?«
Wendy starrte ihren ehemaligen Chef an, als hätte er den Verstand verloren.
»Wie bitte? Was wollen Sie von mir?«
Daniel legte die rechte Hand auf ihre Hüfte.
»Dieses Vortanzen heute Abend macht mich total nervös.«
»Wem sagen Sie das!«
»Dagegen gibt es nur ein Mittel: Üben, üben, und noch mal üben. Deshalb bin ich hier.«
Wendy legte den Kopf schief.
»Und Sie glauben, das nützt etwas?«
»Wir müssen es wenigstens versuchen.«
*
In dieser Nacht hatte Malte Stein kaum Schlaf gefunden. Das Gespräch mit Janine hatte ihn aufgewühlt. Doch nicht so, wie Janine selbst es vermutet hätte. Statt an seinen Vater dachte Malte vielmehr an Antonie. Bevor er sie fragte, ob sie mit ihm zusammen sein wollte, musste er ihr die Wahrheit sagen. Musste ihr die Möglichkeit geben, eine Entscheidung zu treffen. Alles andere wäre unfair gewesen.
Diese Gedanken kreisten unaufhörlich in seinem Kopf, während er im Café ›Schöne Aussichten‹ auf sie wartete. Er hatte gerade die dritte Tasse Tee geleert, als sich Antonie zu ihm gesellte. Sie begrüßte ihn mit einem Küsschen rechts und links auf die Wange. Wenn Malte den Kopf ein paar Millimeter gedreht hätte, wäre das Ziel ein anderes gewesen. Allein ihm fehlte der Mut dazu. So blieb es ein weiteres Mal bei der freundschaftlichen Begrüßung. Das war vielleicht auch besser so angesichts dessen, was er ihr zu sagen hatte. Das Gespräch mit Janine am vergangenen Abend hatte ihn nachdenklich gestimmt.
»Tut mir leid, dass ich so spät bin. Der Lehrer ist nicht fertig geworden.« Antonie ließ sich neben ihn in die weichen Polster fallen und leuchtete ihn mit ihren Scheinwerferaugen an. »Was ist? Warum machst du ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?«
Malte senkte den Kopf und kratzte den letzten Rest Zucker aus der Tasse.
»Ich muss dir etwas sagen.«
Antonie legte den Kopf schief. Wie ein Vorhang fiel ihr das Haar ins Gesicht. Ohne lange nachzudenken, strich sie es weg. Hätte Malte sie angesehen, hätte er den Schalk bemerkt, der in ihren Augen blitzte.
»Lass mich raten! Du gehst heute Abend mit einer anderen ins Konzert.«
»Bist du verrückt geworden?«, entfuhr es ihm.
Antonie rückte ein Stück weg.
»Schon gut. Das war doch nur ein Spaß!«
Malte atmete ein und wieder aus.
»Tut mir leid.« Er seufzte. »Es ist alles nicht so einfach zur Zeit. Mein Vater, der Unfall gestern. Und jetzt noch …« Er hielt inne. Wusste nicht, wie er weitermachen sollte.
Obwohl es warm war im Café, fröstelte Antonie plötzlich.
»Was ist denn los? Hast du dich gestern doch schlimmer verletzt?«
Malte gab sich einen Ruck. Hob den Kopf und sah ihr in die Augen. Wenn sie schon gleich aufspringen und davonlaufen würde, wollte er sie wenigstens noch einmal ansehen.
»Ich bin schon länger krank.«
»Was fehlt dir?«
»Dr. Norden weiß es noch nicht. Ich tippe auf Morbus Crohn. Das ist eine entzündliche Darmerkrankung.«
Antonie erinnerte sich.
»Diese unheilbare Krankheit, die deine Mutter hat?«
Die Serviette in Maltes Händen hatte sich in Konfetti verwandelt. Er nickte langsam.
»Genau die.«
»Aber dagegen kann man doch etwas tun. Oder nicht?«
»Zumindest ist es schwierig. Und wenn mein Vater das erfährt, flippt er aus. Er hat ja schon die Trennung von meiner Mutter kaum verkraftet.«
Antonie setzte sich kerzengerade auf.
»Mensch, Malte, es geht hier nicht um deinen Vater, sondern um dich. Du bist die Hauptperson in deinem Leben.«
Er presste die Lippen aufeinander und blickte hinab auf die Schnipsel in seinem Schoß. Auf der einen Seite wusste er, dass Antonie recht hatte. Aber da gab es noch den anderen Aspekt.
»Das verstehst du nicht. Du kennst Arndt nicht.«
»Na und? Dein Vater ist ein erwachsener Mann. Ich nehme an, dass er sich gut um sich selbst kümmern kann.« Antonie schnaubte wie ein Pferd. »Wenn du mich fragst, ist es ziemlich egoistisch, dass er seinen ganzen Kram bei dir ablädt.«
»Ich frage dich aber nicht.« Malte erschrak über sich selbst. Doch er konnte nicht anders.
Er sprang auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, humpelte er los. Er stieß mit dem verletzten Knie gegen einen Stuhl. Stolperte über eine Tasche, die die Besitzerin auf den Boden neben ihren Platz gestellt hatte. Doch all diese Hürden und Hindernisse hielten ihn nicht davon ab, seine Flucht fortzusetzen, während Antonies Blicke ein Loch in seinen Rücken brannten.
*
Nach dem gemeinsamen Mittagessen schlenderten Arndt und Janine Hand in Hand am Ufer der Isar entlang.
Den Bäumen war anzusehen, dass der Sommer vorbeiging. Ihre Blätter kräuselten sich an den Rändern. Ihr Grün wurde von Tag zu Tag blasser. Auch die klare