Tima Kurdi

Der Junge am Strand


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meiner Heimat Vancouver. Ich hatte mir angewöhnt, früh ins Bett zu gehen. So wachte ich vor Tagesanbruch auf und konnte mein Handy checken. Um meinen Mann nicht zu stören, der sich nach den Arbeitszeiten richten musste, ließ ich mein Handy abends in der Küche liegen. Morgens eilte ich dann gleich dorthin, um nachzuschauen, ob mir jemand geschrieben hatte. Wann immer mein Handy eine neue Nachricht signalisierte, setzte mein Herz aus. Einen ganzen Monat lang ging das so. Jeden Tag.

      Nur vier Kilometer trennten meinen Bruder und die Küste von Kos. So nah und doch so fern. Abdullah war in Bodrum, in der Türkei. Geflohen vor den Terrorgruppen, die unser Land Syrien fest im Griff hatten.

      Verarmt und illegal hatten er und seine Familie es zunächst bis Istanbul geschafft, wo sie jedoch kaum genügend zu essen hatten und nur mit Mühe ein Dach über dem Kopf fanden. Immerhin: Sie waren am Leben, trotz der Gleichgültigkeit der vielen Regierungen, die ihre Grenzen dicht gemacht hatten. Die Türkei bildete nun den Korridor auf dem Weg nach Griechenland, dem einzigen Land in der Region, von dem aus die Weiterreise in die wenigen nordeuropäischen Staaten, die noch syrische Flüchtlinge aufnahmen, möglich war. Das Leben im Norden gestaltete sich generell etwas leichter. In Deutschland und Schweden konnten Geflüchtete ganz legal Asyl beantragen und sich niederlassen, eine Chance, die die Türkei und andere Nachbarländer Syriens im Nahen Osten nicht boten.

      Doch wie sollte mein Bruder mit seiner Familie die griechische Insel erreichen? Dafür musste er seine Frau Rehanna und die beiden kleinen Söhne Ghalib und Alan unbemerkt über die von der griechischen Polizei und Küstenwache streng kontrollierte Ägäis bringen. Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen wurden, schickten diese zurück in die Türkei. Die Region war überdies berüchtigt für heftige Winde, die binnen Sekunden über dem Meer auffrischten, manchmal tagelang wehten und das Wasser zu einer reißenden Bestie machten. Abdullah konnte nur hoffen, dass es ihnen gelingen würde, sicher ans andere Ufer zu gelangen. Sie hatten schon etliche Gefahrenzonen durchquert, bis sie schließlich in der Türkei angelangt waren. Nun glaubten sie fest daran, dass sie die vier Kilometer, die noch vor ihnen lagen, auch noch schaffen würden, um auf der anderen Seite ein neues Leben zu beginnen.

      Eine Überfahrt war nur mit der Hilfe von Schleusern möglich. Abdullah hatte keine Wahl, als ihnen zu vertrauen. Ein legaler Transit auf einer der vielen großen Mittelmeerfähren stand außer Frage. Die türkischen Behörden verlangten gültige Papiere für die Ausreise aus der Türkei und die Einreise in die meisten Staaten Europas, einschließlich Griechenlands. Ihre Bedingungen konnten nur reiche Syrer erfüllen, die in der Lage waren, Kontoauszüge, Versicherungspolicen, Passfotos und weitere Dokumente vorzulegen. Zwar hatte Abdullah einen Pass, doch dieser war, wie der der meisten Flüchtlinge, abgelaufen. Der Krieg dauerte schon viele Jahre und es war ihm bislang nicht gelungen, ihn zu verlängern. Rehanna und die Kinder hatten nie einen Pass besessen.

      Für teures Geld verkauften Schleuser Plätze in Booten. Dabei war es gleichgültig, wie viel man bezahlte: Es war ihnen nie genug. In der Regel ließen sie deutlich mehr Menschen an Bord, als die zulässige Höchstlast erlaubte. Ihnen ging es nicht um Menschenleben. Ihnen ging es um maximalen Profit.

      In jenem Jahr kamen fast eine Million Flüchtlinge auf dem Seeweg via Griechenland nach Europa. Die meisten von ihnen waren Syrer. Im Juni hatte die griechische Küstenwache knapp fünfzigtausend Menschen gerettet, davon ein Viertel Kinder, mehrheitlich unter zwölf Jahren. Fünf Prozent der Flüchtenden waren Babys.

      Mein Neffe Ghalib war gerade vier geworden, sein kleiner Bruder Alan war erst 27 Monate alt, als die verzweifelten Eltern sich mit einem Boot auf die gefährliche Reise machten. Was bringt Menschen dazu, diese verwegene Passage zu wagen, das eigene Leben und das ihrer Kinder zu risikieren? Vermutlich kann man das nur verstehen, wenn man selbst auf der Flucht war.

      Vier meiner fünf Geschwister hatten sich mit ihren Familien in die Türkei gerettet. Sie besaßen kaum das Nötigste zum Leben. Im Sommer 2015, während der Krieg in Syrien in sein fünftes Jahr ging und kein Ende in Sicht war, wurde ihre Lage immer hoffnungsloser. Wie vielen Flüchtlinge schien ihnen der riskante Seeweg die einzige Lösung. Einige meiner Lieben hatten sich bereits nach Deutschland und Schweden durchgeschlagen, wo es ihnen deutlich besser ging.

      Besonders hart war es für die Flüchtlingskinder in der Türkei. Die Jüngeren durften nicht in die Schule gehen und liefen Gefahr, den Anschluss zu verpassen. Die Älteren arbeiteten in Sweatshops, damit ihre Eltern finanziell über die Runden kamen. Dieses Schicksal wollte mein Bruder Abdullah seinen beiden Söhnen ersparen. Was er für sie wünschte, war bescheiden: genug zum Essen, ein Dach über dem Kopf, Bildung und medizinische Versorgung. Diese Grundbedürfnisse konnte er in Syrien nicht befriedigen, und in der Türkei war es kaum leichter.

      Ich wusste, was für ein Leben meine Schwestern und Brüder führten, seit sie und ihre Familien 2012 aus Damaskus geflohen waren. Ich hatte ihre prekäre Situation in Istanbul mit eigenen Augen gesehen, als ich sie 2014 besuchte. Damals begann ich, Geld zu sparen, um ihnen zu helfen, die Türkei zu verlassen. Ich nahm Kontakt zu den Behörden auf, um für sie in Kanada Asyl zu beantragen. Mein Mann und ich erklärten uns bereit, die Familie meines ältesten Bruders Mohammad privat zu unterstützen, und auch für Abdullah wollten wir die notwendigen Schritte einleiten. Doch alle unseren Bemühungen waren zum Scheitern verurteilt, nicht zuletzt, weil es unmöglich war, die erforderlichen Papiere aus der kriegszerstörten Heimat zu bekommen. Die Unterstützung für zwei Familien konnten wir uns auch finanziell nicht leisten. Im Sommer 2015 hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, dass mein jüngerer Bruder und seine Familie in Kanada Zuflucht finden könnten. Ich überlegte, ihm fünftausend Dollar für einen Fluchthelfer zu schicken, damit er, seine Frau und meine beiden kleinen Neffen die Türkei verlassen könnten. Natürlich war ich unsicher, ob es der richtige Weg war. Sollte ich das wirklich tun? Andererseits war seine Lage verzweifelt und für ihn und die Familie auch gefährlich. Schließlich rang ich mich durch, ihre Reise zu bezahlen. Seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht gewünscht hätte, mich anders entschieden zu haben, kein Tag, an dem ich nicht gewünscht hätte, dass meine wunderbare Schwägerin und meine süßen Neffen noch lebten.

      Ende Juli schickte Abdullah mir eine SMS aus Istanbul: »Das Geld ist da. Nette Leute, deine Freunde.« Sie hatten ihm die letzte Rate für die Schleuserkosten übergeben. Am nächsten Tag machte er sich mit Rehanna und den Kindern auf den Weg nach Izmir, eine Hafenstadt auf halber Strecke zwischen Istanbul und Bodrum, die ein beliebter Treffpunkt für Flüchtlinge und Schleuser war, die hier problemlos »Kundschaft« fanden: Tausende von Flüchtlingen übernachteten in den Parks und öffentlichen Anlagen der Stadt. Sie versorgten sich gegenseitig mit Kontakten zu den Männern, die ihnen für Geld bei der Flucht behilflich waren, und tauschten Erfahrungen aus. Auch Abdullah ließ sich berichten, und er hörte wenig Ermutigendes.

      Viele erzählten von albtraumhaften Versuchen, auf winzigen Schlauchbooten das Meer zu überqueren. Mein Bruder und Rehanna waren entsetzt angesichts der Vorstellung, sie sollten in einem Schlauchboot reisen. Sie wollten ein Glasfaserschiff. Abdullah fand einen Fluchthelfer, der ihm allerdings sagte, für ein stabiles Boot würde ihr Geld nicht reichen. Sie sollten sich gute Schwimmwesten kaufen, riet er. Diese wiederum waren nicht einfach aufzutreiben. Ich hatte von Flüchtlingen gehört, die ertrunken waren, weil sich ihre Rettungswesten mit Wasser vollgesogen hatten und so schwer wurden, dass sie die im Meer Treibenden in die Tiefe zogen. Es gab jede Menge minderwertige Ware auf dem Markt. Abdullah wollte nichts falsch machen. Er rief mich von unterwegs an:

      »Wie erkenne ich den Unterschied zwischen einer echten Schwimmweste und einer gefälschten?«, fragte er.

      »Keine Ahnung. Besorg die teuersten. Wie geht’s den Kindern?« – »Sie sind erkältet. Und Alan bekommt Zähne. Ich habe ihm Beißkekse gekauft.«

      Ich erinnere jeden Anruf, jede Nachricht, die Abdullah mir in jenen Tagen schickte. Jede SMS habe ich gespeichert. Zusammen ergeben unsere Korrespondenzen einen detaillierten Bericht über die Ereignisse im Vorfeld der Tragödie. Zugleich sind sie Zeugnis eines Menschenlebens unter extremen Druck. Sie spiegeln unsere Hoffnungen und Ängste in jenen Wochen wider, unsere nagenden Zweifel und Befürchtungen angesichts der riskanten Reise, und natürlich dokumentieren sie unsere ersten Erinnerungen und unser eigenes Leben unmittelbar nachdem das Unfassbare geschah.

      11.