Tima Kurdi

Der Junge am Strand


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und meine Besorgnis wandelte sich in Frustration. Ich drängte ihn, er solle sich entweder auf die Reise begeben oder die Sache abblasen und nach Istanbul zurückkehren. Später, als ich meine eigenen Textnachrichten noch einmal las, hörte ich die nörgelnde Stimme der großen Schwester, die ihren kleinen Bruder bedrängte: Warte, kehr um, pass auf, na los, trau dich, nun mach schon!

      Ich übte so viel Druck auf Abdullah aus, dass er mir schließlich ein Video von den gewaltigen Wellen schickte, die ihn und seine Familie immer wieder von der Überfahrt abhielten. Sie machten mir Angst.

      21. August: »Schwerer Seegang. Nicht mitgefahren.«

      Meine Antwort am nächsten Morgen: »Wo seid ihr? Was ist los?«

      »Unterwegs. Gestern Nacht waren die Wellen zu hoch. Wenn der Oberschleuser seinen Männern sagt, sie sollen nicht raus, dann war’s das. Dann fährt keiner.«

      25. August: »Heute Nacht!« Das Wetter war perfekt. Sie waren am vereinbarten Ort. Der Schleuser kam, und mindestens vierzig weitere Flüchtlinge, die sich ins Boot zwängen sollten. Abdullah weigerte sich, an Bord zu gehen.

      27. August: »Heute ruhige See. Aber der Schleuser hatte nur ein Schlauchboot. Ich nehme kein Schlauchboot.«

      Textnachricht am Abend desselben Tages: »Das Meer ist friedlich. Rehannas und mein Herz sagt: Morgen.« Ich rief ihn sofort an. In der Türkei war es bereits der Vormittag des 28. August. Alan lachte im Hintergrund. Der Junge war immer fröhlich. Ghalib aber war nervös. »Tante«, sagte er, »ich habe gerade Opa Shikho angerufen.« Er hatte Rehannas Vater gebeten, ihn abzuholen: »Ich habe gesagt, ich will zurück in mein Zimmer mit den Spielsachen. Opa sagt, sie sind noch da. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht kommen und mich nach Hause bringen kann.«

      Ein solches Telefongespräch mit dem eigenen Enkel bricht einem das Herz! Wie erklärt man zwei Kindern, dass es ihr Zuhause nicht mehr gibt, dass es nie wieder so sein wird, wie es war? Alan war noch sehr klein. Er sprach noch keine ganzen Sätze. Wenn er etwas haben wollte – eine Banane, ein Stofftier, ein Segelboot am Horizont – zeigte er darauf. Seine Wünsche und Träume konnte er nicht einmal mit Worten ausdrücken. Um die Aufmerksamkeit seines Papas zu wecken, nahm er dessen Gesicht in seine Händchen und blickte ihm tief in die Augen. Dann lachte er oder steckte die Zunge raus. In diesen unsagbar anstrengenden Tagen war das so, als wollte er sagen: »Lächle, Papa. Alles wird gut.«

      Oft klangen Abdullahs Textnachrichten geradezu tröstlich. Rückblickend frage ich mich, ob er sich vielleicht selbst Mut machen wollte, dass Freiheit, Rechte und ein würdiges Leben in Reichweite wären, dass auch er eine Heimat finden könnte, und sei es auch nur eine provisorische.

      Am nächsten Morgen las ich eine weitere kurze SMS von ihm: »Nicht losgefahren.«

      Als Abdullah das nächste Mal schrieb – »Inschallah geht es heute Nacht los« – erwartete ich am Folgetag wieder eine Absage: »Nicht gefahren.«

      31. August: Kein Wort von Abdullah. Eine lange Serie von SMS endet mit mindestens einem halben Dutzend Fragen von mir: »Wo bist du?«, »Wo seid ihr?«, »Was ist los?«, und der Bitte: »Melde dich!«

      Meine Fragen, mein Flehen, meine Textnachrichten blieben ohne Antwort. Sie landeten auf dem Meeresgrund.

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      Am 2. September 2015 fanden Rehanna, Ghalib und Alan Kurdi im Mittelmeer den Tod. Seit jenem Tag habe ich mich tausendfach gefragt: »Warum sie? Warum wir?« Ich marterte mich ab dem ersten Moment, in dem ich es wusste. Unablässig. Ich war verzweifelt und tieftraurig. Dann wieder teilte ich aus, in alle Richtungen. Ich wütete gegen die Regierungen, die unzähligen Menschen einen sicheren Hafen versagen oder sich weigern, die Papiere auszustellen, die ihnen ermöglichen, ihr Recht auf die Erfüllung ihrer überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse geltend zu machen. Ich konfrontierte die Soldaten, die Rebellen und die IS-Terroristen, die unsere Heimat in Damaskus und Kobane in Blut baden, mit Fragen: »Warum? Wofür kämpft ihr? Öl? Politische Ideologien? Religion? Macht? Vergeltung?« Ich appellierte an die Behörden der Welt, im Nahen Osten, Westeuropa, Amerika und Kanada. »Wir sind keine Tiere. Wir sind Menschen wie ihr. Warum hört ihr nicht auf eure Herzen? Hört auf eure Vernunft und bereitet diesem Krieg ein Ende!« Ich nahm mir die Schlepper und Menschenhändler vor, die von all diesem Elend profitieren: »Warum ist euch Geld wichtiger als ein Menschenleben?«

      Immer wieder stellte ich mir die Insel Kos vor, die schroffen Felsen Griechenlands, die Wiege der westlichen Zivilisation, die meine Brüder und Schwestern von der Küste bei Bodrum aus sehen konnten. Eine kurze Reise nur. Vier Kilometer. Hätte die Insel nicht ein wenig näher sein können? Ich fragte das Meer, ich fragte den Wind: »Warum habt ihr uns unsere Liebsten genommen?« Die Medien fragte ich: »Warum habt ihr das Leid der Flüchtlinge so lange ignoriert? Bis jede Rettung für meine Neffen und meine Schwägerin zu spät kam. Und warum redeten einige von euch auch noch schlecht über Abdullah, nachdem er alles verloren hatte?« Ich rief zu Gott: »Warum?« Manchmal antwortete er nicht. Manchmal stellte er eine Gegenfrage. Manchmal konnte ich antworten. Manchmal blieb ich stumm.

      Die heftigste Kritik aber richtete ich gegen mich selbst, gegen eine einfache Frau mittleren Alters, die trotz allem weiterlebte: die Lebensmittel einkaufte, für die Familie kochte und am Ende des Tages ihren Kopf auf das Kissen bettete. Doch nur mein Körper agierte. Mein Kopf war anderswo. In einem grell erleuchteten Verhörzimmer saß ich mir selbst gegenüber. Ich starrte mich an und forderte Antworten: »Warum hast du Abdullah das Geld für den Schleuser geschickt? Warum gabst du ihm nicht mehr, damit er ein sicheres, seetüchtiges Boot hätte nehmen können? Warum bist du nicht nach Bodrum gefahren und hast als Touristin oder Urlauberin ein Motorboot gemietet, um deine Familie übers Meer zu bringen? Warum hast du dich nicht gleich, als der Krieg in Syrien begann, darum bemüht, sie nach Kanada zu holen? Warum warst du so dumm und naiv? So egoistisch?« Verloren trieb ich auf dem Meer. Oder ich sank wie ein Stein – und ertrank.

      Irgendwann vor der Tragödie begann meine Familie, von geborgter Zeit zu leben. Wann fing das an? Wie lange ist das her? Als der IS kam und die Heimat meiner Vorfahren in den Würgegriff nahm? Viele Jahre früher, als Rehanna mit Ghalib schwanger war, und die ersten Proteste gegen die Regierung laut wurden? Jahrzehnte zuvor, nachdem ich als junge Frau das Land verlassen und nach Kanada ausgewandert war? Bevor ich geboren wurde?

      Wenn du aus einem Alptraum erwachst, streckst du die Hand aus nach deinen Liebsten, suchst Trost, Wärme, Sicherheit. In der Familie diskutieren wir oft über unseren Wachtraum-Alptraum, und die Gespräche führen uns zurück in die Vergangenheit, zu den Erinnerungen, zu unserem früheren Leben als Familie, als Volk. Wir sprechen darüber, wie das Leben vorher war. Vielleicht suchen wir einen Ort, der uns ein Zuhause sein könnte, gleichgültig, ob wir dort oder anderswo schon einmal gelebt haben. Eine menschgemachte Katastrophe zwang uns, die Heimat zu verlassen. Einen kleinen Trost fanden wir im Wissen, dass wir unsere Geschichte tief in uns drinnen mitnahmen.

      Ich begann dieses Buch im August 2016, einen Monat vor dem Jahrestag der Tragödie. Abdullah lag auf der Intensivstation eines türkischen Krankenhauses, sein Leben hing am seidenen Faden. Oft fiel er ins Delirium, rief seine Frau und seine Söhne. »Ich muss Kleidung für sie besorgen, Wasser, Lebensmittel«, als würde er immer noch die Überfahrt vorbereiten. Die Ärzte sagten mir, er benötige eine Herz-OP. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sterben würde, betrug achtzig Prozent. Als unser Vater das hörte, sagte er: »Wie gern würde ich meinem Sohn mein Herz geben.«

      Dann wurde auch unser Vater ins Hospital von Damaskus eingeliefert. Er wollte nicht, dass ich mir Sorgen mache. Ich wusste nicht genau, was ihm fehlte, aber ich bin fest davon überzeugt, dass er krank wurde, weil sein Herz gebrochen war.

      Selbst in den Augenblicken tiefster Verzweiflung spürte ich, dass wir, die Lebenden, Glück gehabt hatten, dass wir noch einmal davongekommen waren. Wir hatten viele geliebte Menschen verloren, viel zu viele, und nichts würde sie zurückbringen, doch wir waren am Leben. Uns blieb die Erinnerung, uns blieben zahlreiche zauberhafte Kinder und Enkel, denen wir unsere Geschichte erzählen würden. Es war und ist uns eine Ehre und Pflicht, diese Erinnerungen an die nächste Generation weiterzugeben, sie aufzuschreiben, sie zu