zu sichern, damit sie nicht vergessen wird.
»Millionen Flüchtlinge sind in der gleichen verzweifelten Lage wie wir«, sagte mir Abdullah jedes Mal, wenn ich ihn drängte, mehr zu erzählen. Seine Geschichte ist ein Zeugnis. Sie belegt die Erfahrungen von Millionen Flüchtlingen und von den zahlreichen Opfern der Kriege und Genozide überall in der Welt.
Als Sie das Foto des kleinen Jungen sahen, das Bild meines lieben Neffen Alan, gestorben an einem Strand in der Ferne, wurden Sie Teil unserer Familie. Jetzt teilen Sie unseren Schrecken, unseren Herzschmerz, unseren Schock, unsere Wut. Sie wollen das Kind retten – und wissen, dass es zu spät ist. In Ihrer Trauer strecken Sie die Hand aus. Sie nehmen meine Hand und ziehen mich an sich. Gemeinsam mit meiner Familie stimmen Sie ein in den Trauergesang. Sie retten mich vor dem Ertrinken.
Ich hoffe, dass meine Worte dazu beitragen, uns einander näher zu bringen. Ich hoffe, dass meine Geschichte, so tragisch sie auch ist, die Saat der Hoffnung in Ihr Herz und Ihren Kopf pflanzen kann. Ich wünsche mir, dass meine Geschichte Sie aufweckt, damit Sie gemeinsam mit mir für all jene Menschen die Stimme erheben, die nicht gehört werden. Und für alle Kinder, die uns genommen wurden, bevor sie sprechen konnten.
In Syrien und anderen arabischen Ländern sagen wir zu den Älteren »Tante« und »Onkel«. Das gilt für Fremde wie für Freunde und Familie. Wenn Sie älter sind als ich, dann sind Sie meine Tante, mein Onkel. Sind Sie jünger, bin ich Ihre Tante. Jetzt sind unsere Schicksale miteinander verwoben. Jetzt sind wir alle eine Familie.
Kapitel 1
Stadt des Jasmin
Überall in Damaskus wächst wilder Jasmin, in jeder Nische, in jeder Ecke. Die Luft ist erfüllt vom süßen Duft der herrlichen Blume. Sie findet sich so häufig in Damaskus, dass wir die Stadt Yasmin al-Sham getauft haben: die Stadt des Jasmin.
Mehr als einmal versuchte ich, Jasmin auch in meinem Garten in Vancouver in Kanada zu pflanzen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Die Pflanze wuchs, doch ihr Duft erreichte nicht annähernd die Intensität, die ich aus Damaskus kannte. Mein Vater schickte mir eine Blumenzwiebel aus Sham, wie die Damaszener ihre Stadt liebevoll nennen. Im Frühling setzte ich sie aus, im Sommer blühte sie, doch man musste die Nase schon sehr tief in die Blütenblätter stecken, um einen leichten Hauch ihres sonst so starken Aromas zu erhaschen. Einen Winter überlebte das Pflänzchen in weiter Ferne von der ihr vertrauten Erde. Einen kurzen Winter, mehr nicht.
Seit 1992 war ich in Kanada, in Sicherheit. Eine halbe Welt entfernt, in Syrien, begann 2011 der Krieg, der meine Familie aus ihrer Heimat vertrieb. Wie die Blumenzwiebel mussten sie in fremdem Land neue Wurzeln schlagen. Wenn du verstehen willst, wohin du gehst, musst du zuerst verstehen, wo du zuvor warst, heißt es. Bevor ich vom bewegten Leben meiner Geschwister seit ihrer Flucht aus Syrien berichte, möchte ich daher erzählen, woher wir kamen und wie wir früher lebten.
Mein Vater, Ghalib, wurde 1942 geboren, kurz vor Beginn einer neuen Ära in unserem Teil der Welt. Auch in Syrien begann, nach jahrtausendelanger Unterdrückung, eine neue Zeit. Mein Vater war Kurde. Er kam in Hama zur Welt. Wie die meisten Syrer sind viele Kurden Sunniten. Zugleich ist ihr Volk für die größte religiöse Vielfalt der Welt bekannt: Die Kurden praktizieren einen Mix aus religiösen Glaubenssystemen, und ihre Region umspannt die ganz unterschiedlichen Kulturen Syriens, der Türkei, des Irak und des Iran. Ghalibs Vater, mein Großvater, war – wie viele in Hama – Bauer. Meine Großeltern waren arm. Als mein Baba geboren wurde, hatte die Familie bereits zwei Töchter und zwei Söhne. Meine Großmutter starb, als mein Vater drei Jahre alt war. In Syrien sagen wir: »Geht die Mutter, fällt die Familie auseinander.« Mein Großvater arbeitete viele Stunden am Tag auf dem Feld. Er kümmerte sich so gut er konnte um seine Kinder. Dennoch waren die Jungen oft hungrig und schmutzig, ihre Kleidung war verschlissen. Immer wieder nahmen sich die Nachbarinnen ihrer an, versorgten sie mit Essen, Schuhen und Anziehsachen, und gelegentlich ließen sie sie duschen.
Als mein Vater sechs Jahre alt war, zog die Familie nach Kobane. In dieser fruchtbaren Zone in der Nähe der türkischen Grenze, östlich des Nahr al-Furat, des mächtigen Euphrat, besaßen sie ein Stück Land. Auf seiner Parzelle baute mein Großvater Bulgur an. Er wohnte mit seinen Kindern in einer Einzimmerhütte aus Stroh und Lehm. Sie führten ein typisch bäuerliches Leben, doch es fehlte die Mutter, die sich um sie hätte kümmern können.
Baba und seine Geschwister waren von der Großzügigkeit der Verwandten und Nachbarn abhängig, die genug anbauten, damit alle auch über die Wintermonate etwas zu essen hatten. Mein Vater begleitete seinen älteren Bruder Khalid mit den Schafen auf die Weide und sammelte Wildkräuter, Gräser und Pflanzen. Er lernte schnell und recht bald wusste er, welche Gewächse giftig sind und welche einen Kranken heilen können.
Seine langen Wanderungen auf der Suche nach etwas Essbarem hat Baba nie vergessen. Oft lief er den ganzen Tag bergauf und bergab und kehrte doch mit knurrendem Magen ins Dorf zurück. Einmal lagen Schalen von Wassermelonen am Straßenrand. Er hob sie auf und aß sie. »Kinder überlegen nicht, was sie essen. Sie stecken einfach etwas in den Mund, wenn sie hungrig sind«, waren seine Worte, als er davon erzählte. Eine Nachbarin, die gerade ihren Gemüsegarten wässerte, rief ihm zu: »Warte! Iss das nicht!« Sie pflückte eine reife Tomate vom Strauch und gab sie ihm. »Nimm lieber dies hier«, sagte sie. Die Tomate wog schwer in der Hand meines Vaters. Sie war noch warm von der Sommersonne. Er biss in die Frucht, die so reif war, dass sie in seinem Mund geradezu explodierte und ihr Saft ihm am Kinn hinunterlief. Noch heute schwärmt er von diesem wunderbaren Moment. Er schließt die Augen und erinnert sich an die kräftige Farbe, die Wärme, den Geschmack. Seitdem hat mein Vater Tausende von Tomaten gegessen, doch keine schmeckte so gut wie jene, die die Nachbarin ihm geschenkt hatte, denn sie war erfüllt vom Aroma der menschlichen Güte. Diesen freundlichen Akt behielt er im Sinn und im Herzen, und was er damals lernte, gab er an seine Kinder weiter: »Du musst nicht reich sein, du brauchst kein Geld, um anderen zu helfen«, lehrte er mich. »Du musst nur ein Herz haben.«
Als junger Mann verließ mein Vater Kobane und kehrte nach Hama zurück, wo er arbeiten wollte. Dann leistete er seinen zweijährigen Wehrdienst bei der syrischen Armee. Kurz bevor er entlassen werden sollte, erkrankte er an Malaria. Man brachte ihn in ein Krankenhaus in Damaskus, wo er meine Mutter, Radiya, kennenlernte. Sie betrat sein Krankenzimmer und er behauptet noch heute, dass es Liebe auf den ersten Blick war. Das glaube ich ihm gern. Nach seiner Genesung zog er bei Radiyas Verwandten ein, und dort begann die Romanze meiner Eltern. Baba erholte sich und bald waren die beiden verheiratet.
Nach der Hochzeit lebten sie zunächst bei den Schwiegereltern. Sie sparten, um sich ein eigenes Haus zu kaufen. Ihr erster Sohn, mein Bruder Mohammad, kam 1968 auf die Welt. Ein männlicher erster Nachkomme gilt in vielen Gesellschaften und insbesondere in arabischen Kulturen als großes Glück. Der Erstgeborene genießt als künftiger Erbe die größten Privilegien, und alle in der Familie, auch der Vater, werden mit dem Namen des ersten Sohnes angesprochen. Mein Vater war jetzt Abu Mohammad, »der Vater Mohammads«, und meine Mutter Oum Mohammad, »Mohammads Mutter«. Der Name des Erstgeborenen bezeichnet auch die Adresse, die man angibt, wenn jemand nach dem Weg fragt. Wenn ein Besucher zu uns wollte, beschrieb ich ihm also, wie er »das Haus des Vaters von Mohammad Kurdi« findet. Der älteste Sohn hat die wichtigsten Pflichten in der Familie: Er sorgt dafür, dass die Eltern geachtet werden, er kümmert sich um sie – vor allem, wenn sie alt sind – und um seine Geschwister, insbesondere um seine Schwestern, ob denen das gefällt oder nicht.
Bald nach Mohammads Geburt starben die Eltern meiner Mutter. Ihre beiden großen Schwestern waren bereits verheiratet, doch fünf ihrer sechs Brüder, im Alter von vier Jahren bis zum Teenager, waren nun minderjährige Waisen. Meine Eltern nahmen sie bei sich auf und behandelten sie, als wären es ihre Kinder. Mein Vater legte sein Geld mit dem Verdienst der Brüder meiner Mutter zusammen. 1969 kauften meine Eltern ein Haus in Rukn al-Din. Es war nicht irgendein Haus. Es war das höchste Gebäude auf dem Berg Qasiyun. Oft neckten sie sich deshalb. Mein Vater sagte dann: »Ich habe dir ein Spitzenhaus gekauft«, und meine Mutter antwortete: »Irgendwann bekomme ich vom