Tima Kurdi

Der Junge am Strand


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wurde er zu einem jungen Akrobaten, der sich zu einer Volksweise bewegte, oder er tanzte wie ein Russe. Abdullah brachte uns zum Lachen, bis wir nicht mehr konnten.

      Abdullah widerfuhren überdies dauernd Missgeschicke. Als kleiner Junge stopfte er sich einmal Bohnen in die Nase und musste ins Krankenhaus gebracht werden, wo man sie wieder rausholte. Später, wenn er Erledigungen für andere machte, rannte er oft schneller, als ihn die Füße trugen. Einmal stürzte er die steile Treppe vor unserem Haus hinab und schlug mit dem Kopf auf dem Betonboden auf. Wieder musste er ins Hospital, wo er genäht wurde. Bei einem Besuch in Kobane stolperte er rückwärts gegen eine Kerosinlampe, die unter seinem Gewicht zerschellte. Dieses Mal brauchte er zwölf Stiche. Wann auch immer er sich verletzte, sagte meine Mutter: »Dauernd passiert ihm etwas, aber er überlebt immer. Dieser Junge genießt mala’ekah, den Schutz der Engel.« Meine Mutter mit ihrer Gabe schien da bereits etwas zu sehen, was wir nicht sehen konnten.

      Kapitel 2

       Heimweh

      Unsere Familie wuchs, unser Haus wurde größer. Meine Eltern stockten das Gebäude um eine weitere Etage und eine Dachterrasse auf, von der wir einen noch besseren Blick auf die Stadt hatten. Wir waren gern dort oben, spielten oder saßen mit Freunden und Bekannten zusammen. Im Sommer, wenn es im Haus zu warm wurde oder viele Verwandte zu Besuch waren, schliefen wir bei frischer Luft unter dem Sternenhimmel. Tagsüber hingen wir unsere Kleidung und die Bettlaken auf der Terrasse zum Trocknen auf oder klopften Teppiche aus. Im Radio wurden Songs der libanesischen Sängerin Fairuz gesendet. Abends lauschten wir den Klängen von Umm Kulthum aus Ägypten.

      Die beiden zusätzlichen Etagen sollten später Mohammad und Abdullah als Wohnraum dienen. Nach ihrer Hochzeit würden sie mit ihren Familien dort leben. Das ist in Syrien und im Nahen Osten so üblich: Die Töchter ziehen, wenn sie verheiratet sind, in der Regel zur Familie des Mannes. Die Söhne wiederum kümmern sich – meist mit Hilfe ihrer Eltern – um eine Wohnung für ihre Frau und Kinder.

      Nach wie vor werden Ehen in vielen muslimischen Familien arrangiert. Dabei schließt der Mullah die Ehe nur, wenn die Frau einverstanden ist. Manche Mädchen werden bereits mit vierzehn Jahren verheiratet. In der Regel haben sie dann die neunte Klasse vollendet und ihren Schulabschluss gemacht. Für mich meldete sich kein heiratswilliger Verehrer. Ich galt als das hässliche Entlein der Familie. Im Gegensatz zu meinen Schwestern, die blond und hellhäutig waren und mit haselnussfarbenen beziehungsweise grünen Augen die attraktivsten Schönheitsattribute im Orient aufwiesen, war ich dunkel. Als Jugendliche hatte ich es nicht leicht. Die Jugend ist ja grundsätzlich und in allen Kulturen eine schwierige Lebensphase. In meinem Fall kam hinzu, dass ich nicht einmal hübsch war. Nicht wenige meiner eher traditionell denkenden Verwandten machten sich gnadenlos über mich lustig.

      Meine Idole waren damals die Stars aus dem Westen: Ich schwärmte vor allem für Madonna und Prinzessin Diana. Und dann gab es diese elegante Flugbegleiterin in unserer Nachbarschaft, von der ich ebenfalls begeistert war. Mit Mitte zwanzig lebte sie allein und unabhängig und erzählte immer tolle Geschichten über ihre Reisen zu fernen Orten überall in der Welt, von denen sie mir Jeans und andere angesagte Geschenke mitbrachte.

      Syrien war in jener Zeit ein säkulares Land. Nur wenige Frauen verschleierten ihr Gesicht, trugen den Niqab oder die Abaya, ein locker fallendes, den ganzen Körper bedeckendes Gewand. In den kleineren Städten sah man generell mehr konservativ gekleidete Frauen, während viele meiner Freundinnen in Sham sogar ohne Hidschab aus dem Haus gingen. Auch ich trug ihn nicht. Mein Vater forderte mich erst auf, den Hidschab zu tragen, als ich in die Pubertät kam und einige unserer Nachbarn ihn darauf ansprachen. Nun sei es an der Zeit, sagte er. Ich aber beklagte mich bei meiner Mutter. »Ich bin noch jung«, argumentierte ich. »Keine meiner Freundinnen trägt den Hidschab. Warum soll ich mir dieses Teil anziehen? Reicht es nicht, ein guter Mensch zu sein?« Mama war eine liberale Frau. »Du musst nicht, wenn du nicht willst«, sagte sie.

      Der Besuch der Oberschule war in Syrien in den 1980er-Jahren nicht verpflichtend, und mit dem Abschluss der neunten Klasse konnte man in Damaskus durchaus einen guten Job finden. Viele Jugendliche begnügten sich daher mit dem nationalen Examen am Ende der Pflichtschulzeit. Angesichts der Bedeutung der Prüfung schränkten die Familien der Schulabgänger ihre gesellschaftlichen Aktivitäten während der einmonatigen Prüfungsphase drastisch ein. Gemeinsam sorgte man dafür, dass der künftige Absolvent oder die Absolventin wirklich lernte. So war das jedenfalls normalerweise. Bei uns allerdings nicht. In unserem Haus herrschte weiterhin ein ständiges Kommen und Gehen, sodass ich kaum zum Lernen kam. Gewiss, ich schaute in die Bücher, aber es blieb nicht viel hängen. Meinen Tagträumen widmete ich dagegen viel Zeit: Ich sah mich darin als freie Frau, die durch die Welt reist.

      Kein Wunder, dass ich die Abschlussprüfung nicht bestand und das Schuljahr auf der Realschule wiederholen musste. Das machte die Sache nicht leichter, denn dort ging es strenger zu als in der Hauptschule. Mit ihrer hohen Betonmauer, die uns den Blick auf die Welt draußen gänzlich versperrte, erschien sie mir als wahrhaftiges Gefängnis. Auch im zweiten Anlauf scheiterte ich und fand mich zum dritten Mal als Schülerin der neunten Klasse wieder. Meine Eltern waren enttäuscht, doch mir war das damals nicht wichtig. Mama sorgte sich, dass ich nie einen Ehemann fände. Ich dagegen dachte an Mohammad, der die Schule schon nach der achten Klasse verlassen hatte. Er war Friseur geworden und hatte in Dubai und Saudi-Arabien gearbeitet, wo er gut verdiente. Während seiner Zeit am Golf lebte er überdies bescheiden und konnte so eine größere Summe Geld ansparen. Mir schwebte für mich ein ähnliches Leben vor. Könnte ich es nicht genauso machen wie mein großer Bruder? Ich drängelte und quengelte, und schließlich gelang es mir mit Hilfe von Onkel Mahmoud, meine Eltern zu überzeugen: Sie erlaubten mir, als zertifizierte Friseurin teilzeit im Geschäft einer Nachbarin tätig zu werden.

      Es war eine fantastische Erfahrung. Ich lernte, meine Haare aufzudrehen und trug nun einen modischen Chelsea Cut. Mit Lockenwicklern zu schlafen war zwar unbequem, doch diese tollen Wellen waren es allemal wert. Im März wurde ich sechzehn und gab eine große Party bei uns im Haus. Ich trug eine Seidenbluse, die je nach Licht in unterschiedlichen Farben schimmerte, einen bunten Bauernrock und einen breiten, gelben Gürtel. Ich sah aus wie Wonder Woman. Nachmittags kamen meine sechs besten Freundinnen, wir legten unsere Lieblingskassetten in den Stereo-Recorder und tanzten im Wohnzimmer. Mein Lieblingssong war »Rasputin« von Boney M. Für meine Freundinnen und mich war es der neueste Hit, obwohl das Stück schon 1978 erschienen war. Es dauerte immer Jahre, bis populäre Popsongs bei uns ankamen. Wir standen auf den Mix aus Disco und folkinspirierten arabischen Beats. Und natürlich auf den coolen Chor. Immer wieder spielten wir das Stück und gröhlten »Rah rah rah …«, bis wir heiser waren. Nicht, dass wir gewusst hätten, was wir da sangen …

      Ich fühlte mich super: gerade mal sechzehn Jahre alt und schon Friseurin. Bald darauf wechselte ich in den Haarsalon meiner guten Freundin Lina. Wir nannten ihn »Sandra«, Linas Lieblingsname aus dem Westen. Tatsächlich war unser Laden ein kleines Zimmer im Erdgeschoss des Hauses ihrer Familie, in das wir einen Stuhl stellten und einen Spiegel hingen. Was fehlte, war das professionelle Waschbecken. Wenn wir unseren Kundinnen die Haare wuschen, gab es daher immer ein ziemliches Fußbad.

      Unsere ersten »Versuchskaninchen« werde ich nie vergessen. Da war zum Beispiel eine Frau, die blonde Highlights in ihre sehr langen, sehr dunklen Haare wollte. »Aber gerne doch, gnädige Frau«, sagten wir, obwohl wir kein richtiges Rezept für den Aufheller hatten. Wir rührten ein Bleichmittel an, setzten ihr eine Kappe auf und färbten die Strähnen. Während der Aufheller einwirkte, bereiteten wir uns einen Mate-Tee mit Zucker, setzten uns zu unserer Kundin und plauderten mit ihr. Offenbar war es ein anregendes Gespräch, denn ihren Haaren schenkten wir kaum noch Beachtung. Irgendwann führten wir sie zum Waschbecken und nahmen die Kappe ab. Zu unserem Entsetzen lösten sich die gebleichten Strähnen von der Kopfhaut. Die Dame sah in den Spiegel und sagte: »Ich sehe kein Blond?« – »Wahrscheinlich war der Aufheller nicht stark genug«, antworteten wir. »Wir versuchen es noch einmal.« Beim zweiten Mal mischten wir deutlich weniger Bleiche in die Farbe, achteten auf die Zeit, und die Highlights waren perfekt. Wie gut, dass sie sehr dichtes Haar hatte. Die Frau verließ unseren Laden als zufriedene Kundin. Kaum war sie außer Reichweite, prusteten