daher leider nicht möglich.
Mein Mann hatte ein schönes Apartment für uns gemietet. Es befand sich in North Vancouver, einem in den Bergen gelegenen Vorort, gegenüber vom Hafen und dem Stadtzentrum. Ich fand es wundervoll. Die Stadt glitzerte und glänzte, mit ihren Hochhäusern, umgeben von Wasser und grünen Hügeln. Anders als unser Domizil auf dem Berg in Syrien lag mein neues Zuhause am Fuß eines Berges. Es war eine Erdgeschosswohnung mit einem kleinen Hof, von dem aus man ein Stück der Lions Gate Bridge sehen konnte.
Am nächsten Morgen – mein erster in Kanada – sprang ich aus dem Bett, um meine neue Welt zu erkunden. Ich rief meine Eltern an, um ihnen zu sagen, dass ich gut angekommen war. Kaum hörte ich die Stimme meiner Mutter, kamen mir die Tränen. »Versprich mir, dass du jedes Jahr zu Besuch kommst«, bat sie. Ich versprach es. »Ich komme jedes Jahr. Nichts wird mich davon abhalten.« Ich sagte ihr auch, dass ich es nicht abwarten könnte, Mutter zu werden.
Ich verbrachte viel Zeit im Haus einer kurdischen Freundin von Sirwan, die am Rand des Stadtzentrums lebte. Sie war freundlich und gab mir das Gefühl, willkommen zu sein, doch sie sprach nur wenig Arabisch. Sie und ihr Mann hatten sechs Kinder zwischen zwei und dreizehn Jahren. Bald waren sie meine Ersatzfamilie. Jeden Tag war ich bei ihnen, und manchmal übernachtete ich sogar dort. Mein Mann arbeitete lange Schichten im Restaurant, und nach Feierabend ging er oft mit seinen kurdischen Freunden aus.
Tatsächlich waren die ersten Jahre in Vancouver nicht einfach. Es fiel mir schwer, Englisch zu lernen, und ich konnte anfangs mit kaum jemandem kommunizieren. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Familie: nach dem Kaffee am frühen Morgen mit meiner Mutter, nach meinem Vater, seinen Kräutermischungen und seinen weisen Worten, nach den großen Familienmahlzeiten und dem köstlichen Essen, nach den wöchentlichen Tanzpartys mit meinen Tanten, Schwestern und Cousinen. Ich vermisste Abdullahs Scherze und Geschichten, die uns zum Lachen brachten. Mir blieben nur die kurzen wöchentlichen und immer gehetzten Telefonate. Ich hatte ungeheures Heimweh. Ghorbah ist das arabische Wort für dieses Gefühl der Entfremdung, das Gefühl, man hat dir die Wurzeln gekappt, das Gefühl, du hättest ein riesiges Loch im Herzen, das nie mehr gefüllt oder geflickt werden kann.
Bald nach meiner Ankunft in Kanada wurde ich schwanger, was meine ghorbah noch steigerte. In den ersten Schwangerschaftsmonaten war mir häufig übel. Obwohl ich hätte zunehmen sollen, verlor ich an Gewicht. Ich aß kaum noch, bis ich die Pommes Frites bei McDonald’s entdeckte, die erstaunlicherweise das Einzige waren, was ich bei mir behielt. Vermutlich übertrieb ich nun, denn in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten wurde ich richtig dick. Ich hatte auch kaum noch Bewegung – kein tägliches Treppensteigen oder Erklimmen steiler Berge auf dem Heimweg mehr.
Der Herbst kam, und es regnete viel. Ich verbrachte die meiste Zeit im Haus. Das feuchte Wetter Vancouvers zog mir in die Knochen, und die Wolken wie der endlos graue Himmel schlugen mir aufs Gemüt. Der Frühling war eine höchst willkommene Abwechslung. Die mächtigen Ahornbäume und Eichen schmückten sich mit leuchtend grünen Blättern, der Rhododendron und die Tulpen erwachten aus langem Schlaf und explodierten in bunter Farbe. In meinem leuchtend gelben Regenmantel wirkte ich so schwanger, dass es aussah, als würde ich ebenfalls jeden Moment platzen.
Mein Sohn Alan wurde im April 1993 geboren. Wir nannten ihn Alan nach dem Alana-Tal, der alten Heimat meines Mannes im irakischen Kurdistan. Ich fand es wundervoll, Mutter zu sein. Gleichzeitig sehnte ich mich noch mehr nach meiner Familie. Ich wollte meine Mama sehen. Jetzt, wo ich ein eigenes Baby hatte, meinen Sohn, fühlte ich mich ihr noch näher. Meine schönste Erinnerung aus dieser Zeit ist meine erste Heimreise nach Damaskus. Im Sommer 1994 machte ich mich auf den Weg. Meine Lieben in Syrien sollten endlich meinen Sohn Alan kennenlernen.
Kapitel 3
Du bist mein Leben
Das Flugzeug überflog die Bergkette, die Lichter meiner Heimatstadt schienen unter uns auf. Mein Herz klopfte heftig.
»Ich kann gar nicht erwarten, dass wir landen und du deine Familie kennenlernst«, sagte ich zu Alan.
Die Flugzeugtüren wurden geöffnet, und ich roch es sofort: Jasminduft lag in der Luft. Kaum hatten meine Füße den Asphalt auf dem Rollfeld berührt, wollte ich mich niederwerfen und den Boden küssen. Bei der Zollkontrolle strahlte ich, als der Beamte zu mir sagte: »Herzlich willkommen in Ihrem Land.« Die Wartezeit am Gepäckband erschien mir unendlich lang, wusste ich doch, dass meine Familie mir so nah war. Als ich sie schließlich sah, konnte ich die Freudentränen nicht mehr zurückhalten. Ich stürzte auf sie zu und warf mich in ihre Arme.
Verdutzt nahm Alan hin, dass mehr als ein Dutzend Verwandte ihn herzten und küssten. Wir quetschten uns ins Auto und fuhren los. Der achtzehnjährige Abdullah hatte Alan auf dem Schoß und plapperte in seinem Pidgin-Englisch auf ihn ein. Völlig sinnloses Zeug, das niemand verstand, außer dem kleinen Alan, der mit seinem süßen Stimmchen in seiner eigenen Babysprache antwortete.
»Alan bringt mir Englisch bei«, sagte Abdullah auf Arabisch. Sie wurden schnell Freunde.
Als wir Damaskus erreichten, steckte ich den Kopf weit aus dem Wagenfenster. Endlich atmete ich wieder das magische Aroma meiner Stadt: Jasmin und Rosen, Gewürze auf dem Herd, Berge im warmen Licht der Sonne und das süßliche, kühle Nass des Barada-Flusses, der sich durch die ganze Stadt zieht. Zu Hause erfasste mich dann dieser andere betörende Duft – der Zauber des Zuhauses, des Heims der Familie, einzigartig wie ein Fingerabdruck. Ich spürte Liebe und Zusammengehörigkeit. Ich öffnete jede Tür, ging in jedes Zimmer, weidete mich an den Bildern und Fotografien, an den Möbeln, und genoss vor allem den Blick auf die Nachbarschaft. Jedes Fenster war ein Rahmen für ein lebendes Kunstwerk. Meine Liebsten ließen mich nicht eine Sekunde aus den Augen. Sie lachten. Alan hatte gerade Laufen gelernt. Abdullah nahm ihn bei der Hand und führte uns in die Küche: »Teta, deine Großmutter, hat das Lieblingsessen deiner Mama gekocht. Riech mal: warak inab, gefüllte Weinblätter.« Danach stiegen wir alle aufs Dach und bewunderten das Panorama.
»Das ist einmalig«, sagte ich. Ich fühlte mich, als schwebte ich auf seidenen Wolken.
Abdullah hatte sich nicht verändert. Er liebte immer noch derbe Scherze. Mein Mitbringsel für ihn bei meinem ersten Besuch in der alten Heimat war ein Furzkissen.
»Lass uns Baba einen Streich spielen«, flüsterte er Alan ins Ohr. Sobald sich die Gelegenheit bot, legte er das Kissen auf den Platz unseres Vaters. Erschrocken sprang dieser auf, als es plötzlich laut unter ihm hervortönte. Wir konnten uns kaum halten vor Lachen, als wir sein Gesicht sahen.
Nach sechs wunderbaren Wochen in der Heimat hieß es Abschied nehmen. Alan und ich kehrten nach Vancouver zurück, in unser ungleich tristeres Leben. Es gab zunehmend Spannungen in meiner Ehe. 1996 trennte ich mich von meinem Mann. Es war meine Entscheidung. Er war ein großartiger Vater für Alan und hatte auch versucht, ein guter Ehemann zu sein. Doch unsere Beziehung funktionierte nicht. Mein Vater war empört, als ich ihn anrief und sagte, ich würde mich scheiden lassen.
»Komm sofort zurück nach Damaskus«, befahl er.
»Das geht nicht«, antwortete ich. »Alans Vater möchte nicht, dass ich mit dem Kind so weit fortgehe, und ich gebe meinen Sohn nicht auf.«
Das wollte mein Vater auch nicht. Rückblickend ist mir klar, dass er sich um mich als alleinstehende Mutter sorgte. Damals jedoch verstand ich seine Order als autoritäres Ultimatum. Die Scheidung provozierte einen Riss zwischen mir und meiner Familie, der uns fünf lange Jahre trennte. Die Entfremdung von meinen Liebsten machte mir das Leben als frische Immigrantin noch schwerer. Von Zeit zu Zeit telefonierte ich mit meiner Mutter, doch es waren knappe, wenig entspannte Gespräche.
Ich lebte in einem heruntergekommenen Mietshaus in East Vancouver, zusammen mit mehreren anderen Alleinerziehenden und ihren Kindern. Meine Englischkenntnisse waren nach wie vor dürftig. Trotzdem suchte ich Arbeit. Ich brauchte einen Job. Kurdische Freunde meines Ex-Mannes trugen Zeitungen aus. Sie rieten mir, ich sollte mich beim Verlag bewerben, und tatsächlich bot man mir die Nachtschicht in der Druckerei an. Meine Aufgabe war die Platzierung der Anzeigen im Blatt. Wenn ich nicht zu Hause war, schlief