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      Bald nach meiner Reise erkrankte meine Mutter schwer und wurde bettlägrig. Es folgten viele Monate, die sie abwechselnd im Krankenhaus und zu Hause verbrachte. Meine Geschwister besuchten sie täglich. Abdullah war ihr näher als alle anderen. Er saß permanent an ihrem Bett. Ich litt an jedem Millimeter der zehntausend Kilometer, die uns trennten. Wir telefonierten jeden Tag. Ich nutzte Telefonkarten für Ferngespräche, sodass ich sowohl von der Arbeit als auch von zu Hause anrufen konnte.

      Eines Morgens vor der Arbeit erreichte ich niemanden im Haus meiner Eltern. Also rief ich Onkel Mahmoud auf dem Handy an. »Ich kann jetzt nicht. Ich rufe zurück«, sagte er und beendete das Gespräch. Sein Ton verriet nichts, aber ich hatte das schreckliche Gefühl, dass etwas mit meiner Mutter war. Ich war dem Weinen nah. Doch ich riss mich zusammen, drängelte Alan ungeduldig, sich für die Schule fertig zu machen, und fuhr zur Arbeit.

      Im Haarsalon hatte ich eine Kundin nach der anderen. Es ergab sich nicht einmal eine zehnminütige Pause. Erst am Nachmittag konnte ich mich in die privaten Räume im hinteren Teil des Geschäfts zurückziehen und brach in Tränen aus. Mein Chef und meine Kollegin fragten, was los sei. Ich gestand ihnen, dass ich mir Sorgen um meine Mutter machte und nicht arbeiten könnte. Sie waren sehr verständnisvoll und erlaubten mir, Onkel Mahmoud noch einmal anzurufen.

      »Onkel, sag die Warheit: Was ist los mit Mama?«, schrie ich ins Telefon.

      »Wir sind alle in Gottes Hand«, antwortete er.

      »Was meinst du? Ist Mama tot?«

      »Möge Gott ihrer Seele Frieden geben.«

      Ich sank auf den Boden und jammerte laut. »Wartet mit der Beerdigung«, bettelte ich. »Ich will dabei sein. Ich will noch ein letztes Mal ihre Hand halten und ihre Wange küssen. Ich will mich verabschieden.«

      »Das geht nicht, Fatima«, sagte Mahmoud sanft. »Komm zur Einjahresfeier an ihrem ersten Todestag.«

      Ich wartete keine Sekunde. Ich verließ den Salon und ging nach Hause. Von dort rief ich meine Familie in Damaskus an. Baba meldete sich. Im Hintergrund hörte ich jemanden den Koran rezitieren. Ich weiß nicht mehr, ob wir überhaupt sprachen. Ich glaube, wir weinten nur. Irgendwann gab mein Vater das Telefon weiter an Abdullah.

      »Wie soll ich weiterleben? Ich fühle mich so verloren«, sagte Abdullah. Ich versuchte, ihn zu trösten, doch das Guthaben auf meiner Telefonkarte war aufgebraucht und die Verbindung wurde unterbrochen.

      In Syrien sagen wir, dass Allah zwischen den Toten und den Lebenden eine Mauer errichtet, die im Laufe der Zeit höher wird, damit die Familie ihr Leben fortsetzen kann. Doch das ist leichter gesagt als getan. Nach Mamas Tod fiel Abdullah in eine tiefe Depression. Um meines Vaters willen versuchte er, sie so weit wie möglich zu verbergen, und meine anderen Geschwister bemühten sich nach Kräften, Baba nicht allein zu lassen. Mohammads Familie wohnte ja im gleichen Haus wie er, Hivron und Shireen kamen jeden Freitag und verbrachten viele Stunden mit ihm. Doch meine Geschwister hatten auch noch ihr eigenes Leben und viel zu tun. Es war für Abdullah und meinen Vater eine einsame und schwere Zeit: zwei Männer allein in diesem Haus, beide bemüht, tapfer zu sein, wenn sie zusammen waren, und doch jeder für sich um die geliebte Frau und Mutter trauernd.

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      Im folgenden Sommer reiste ich nach Sham, um das Grab meiner Mutter zu besuchen und ihr die letzte Ehre zu erweisen. Das Haus war voll anlässlich meines Besuchs, und gleichzeitig war es leer ohne sie. Ein riesiges Loch gerissen mitten in unser Leben. Mein Vater hatte ein großes Foto von Mama rahmen lassen. Es hing so an der Wand, dass er und Abdullah sie bei jeder Mahlzeit sehen konnten. »Probier mal das Kibbeh«, sagte Abdullah dann zu ihr. »Ist aber nicht so lecker wie deines.«

      Wenn ein geliebter Mensch stirbt, erwartet man in islamischen Kulturen, dass die Trauernden im Namen des Verstorbenen ein wohltätiges Werk tun und jemandem in Not helfen. Bei meinem Besuch in Sham bestellte ich beim Metzger vor Ort einhundert Hähnchen. Am nächsten Tag sollten die Kinder von Tür zu Tür gehen. Wenn jemand öffnete, würden sie sagen: »Unsere Tante schickt uns mit diesem Hähnchen zu Ihnen. Im Namen der Seele unserer Großmutter.« Die Beschenkten würden in aller Bescheidenheit das Geschenk entgegennehmen und antworten: »Möge die Seele eurer Großmutter in Frieden ruhen.«

      Ich besuchte auch den Olivenhain unserer Familie in Kobane. Mein Vater und meine Brüder hatten ihn ein paar Jahre vor dem Tod meiner Mutter gepflanzt. Baba sagte damals: »Olivenbäume werden Hunderte von Jahren alt, sie sind winterhart und widerstehen der Trockenheit. Wenn wir Oliven anbauen, kann jeder von uns ein Jahr vom Ertrag leben.« Gewiss, es dauert gute fünf Jahre, bis ein Olivenbaum groß genug ist, um Früchte zu tragen. Doch mein Vater kann, wenn er will, sehr geduldig sein.

      Zwischen 2000 und 2010 kehrte ich mindestens jeden zweiten Sommer nach Damaskus zurück. Die Stadt wuchs und veränderte sich, doch oben auf dem Berg, auf unserer Dachterrasse, schien die Zeit stillzustehen. Jeden Morgen weckte mich der Gebetsruf. Jeden Tag lief ich, nachdem ich meinen arabischen qahwah – Kaffee – getrunken hatte, ans Fenster, um die Händler und Verkäufer zu hören, die auf der Straße unterwegs waren, während Sham erwachte. Bei meinem Besuch im Sommer 2005 weckte mich überdies jeden Morgen der Klingelton meines Handys. Rocco rief an, ein italienischstämmiger Kanadier, den ich im Jahr zuvor kennengelernt hatte. Wir waren in den vergangenen Monaten mehrmals miteinander ausgegangen. Meine Kolleginnen spielten jeden Sonntag Volleyball am Kits Beach, und irgendwann kam Rocco regelmäßig vorbei. Er war ein ebenso schlechter Volleyballspieler wie ich, aber mein Sohn und er wurden bald Freunde. Alan war erst zwölf, aber weitaus reifer als andere Kinder in seinem Alter. Überdies verfügte er über eine grandiose Menschenkenntnis. Dass er Rocco mochte, war ein gutes Zeichen. Es war verführerisch, als Rocco mich kurz vor meinem Abflug nach Damaskus um ein Rendezvous bat. Doch meine Familie wollte mich lieber mit einem netten Syrer sehen. Meine Schwestern hatten ein paar Kandidaten im Kopf, die ich treffen sollte, wenn ich im Land wäre. Ich sagte Rocco, dass es sein könnte, dass ich vielleicht nicht mehr Single wäre, wenn ich nach Kanada zurückkäme. Doch er gab nicht auf.

      »Darf ich dich in Syrien anrufen?«, fragte er. Ich sagte, das könne er tun. Rocco arbeitete im Verkauf, und bei unseren täglichen Telefongesprächen erwies sich, dass er ein Meister seines Fachs war.

      Wir heirateten 2006 in seiner Heimatstadt Toronto. Es war eine große italienische Hochzeit. Leider konnte meine Familie nicht dabei sein. Der Weg nach Kanada war zu weit. Alan führte mich zum Altar, und meine liebe Freundin Iris war meine Brautjungfer. Damit wir einen Hauch von Sham bei der Feier hätten, heuerte ich eine Bauchtänzerin an. Ich vermisste meine Liebsten, doch ich genoss ein Stückchen Heimat während unserer Flitterwochen in Montreal. Die Stadt war der erste Ort in Nordamerika, der mich an Damaskus erinnerte: alte Gebäude, enge, mittelalterlich wirkende Sträßchen, soziales Leben im öffentlichen Raum, Cafés, Bars und all die fantastischen Restaurants, die köstliches Essen aus dem Nahen Osten servierten!

      Zurück in Vancouver zogen wir in ein hübsches Terrassenhaus in Coquitlam, mit einer von der Küche aus begehbaren hinteren Veranda und einem Garten, in dem ich Gurken und saftige Biotomaten anbauen konnte. Ich fügte einen Hauch Damaskus hinzu und pflanzte Wein. Die Trauben sollten sich an einem großen Zedernholz-spalier emporranken, und ich wollte in ihrem Schatten sitzen, Kaffee trinken und mit meinen Freundinnen plaudern. Rocco und ich planten auch gemeinsame Kinder, doch es sollte nicht sein. Wir versuchten es immer wieder, letztlich sogar mit künstlicher Befruchtung. Vergebens. Ich war verzweifelt und traurig, dass ich keine weiteren Kinder bekommen konnte, doch ich musste es hinnehmen.

      Mein Mann war viel unterwegs. Häufige Geschäftsreisen führten ihn quer durch Kanada und auch nach Fernost. 2011 kündigte ich meinen Job im Salon, um Rocco nach Shanghai zu begleiten, wo wir bis 2013 lebten. Zeitlich war ich in jenen Jahren flexibel, und ich genoss unsere zahlreichen Trips zu den exotischsten Orten dieser Welt – Philippinen, Hongkong, Singapur, Bangkok.

      Vor unserem Umzug nach Shanghai hatte ich fast jeden Sommer in Syrien verbracht. Manchmal kamen Alan und Rocco mit, andere Male reiste ich allein. Meist blieb ich vier bis sechs Wochen. Zwischen