das Gefühl, fremd in einem fremden Land zu sein, als in der Zeit, als ich noch bei meinem Mann gelebt hatte. Ich war einsam, mittellos und müde. Mit meinen Kolleginnen sprach ich kaum. Die meisten waren Einwandererinnen wie ich. Sie kamen von den Philippinen, aus Indien oder Pakistan. Ihr Englisch war nicht besser als meins.
Nacht für Nacht stand ich am Montagetisch und sehnte mich nach dem Ende meiner Schicht. Es drängte mich nach Hause, zu Alan. Ich war für mein Leben gern Mutter, und jede Stunde, die ich von meinem Jungen getrennt verbrachte, erfüllte mich mit Schmerz, Angst und Schuldgefühl.
Eines Nachts überwältigten mich der Stress und die Müdigkeit. Ich begann zu weinen. Meine Tränen tropften auf die Zeitungsseiten, und die Druckerschwärze verwischte. Linda, die Schichtleiterin, sah es. Sie kam zu mir, und ich fürchtete, dass sie mich rausschmeißen würde. Doch sie stellte sich schweigend neben mich und arbeitete an meiner Seite weiter. Am nächsten Abend das Gleiche. Doch dieses Mal brachte sie mir ein neues englisches Wort bei und sagte, das würde sie von nun an immer machen: jede Nacht ein neues Wort.
Fast zwei Jahre lang blieb ich im Werk. Linda wurde eine gute Freundin und meine Verbündete. Manchmal kam sie mich zu Hause besuchen und brachte Spielsachen für Alan mit. Ein anderes Mal zeigte sie uns die Stadt. Bei einem ihrer Besuche erzählte ich ihr, dass ich in Damaskus Friseurin gewesen war.
»Ich brauche einen guten Haarschnitt«, sagte sie. »Kannst du mir die Haare schneiden?« Ich nahm sie mit in mein winziges Badezimmer.
»Wow«, sagte sie, als sie sich im Spiegel sah. »Hast du Zeugnisse?« – »Ich bin in Damaskus zur Schule gegangen und habe dort in einem Haarsalon gearbeitet«, antwortete ich. »Doch ich habe keinen offiziellen Abschluss in Kanada.«
Das sollte ich nachholen, schlug mir Linda vor. Mit ihrer Hilfe bewarb ich mich bei einem Ausbildungszentrum für Friseure in Vancouver, damit ich das nötige Zertifikat bekäme. Nachdem ich ein paar Monate den Einführungskurs besucht hatte, sprach mich eine der Dozentinnen an.
»Sie vergeuden Ihre Zeit und Ihr Geld hier«, sagte sie. »Ich kenne einen Italiener, der eine Mitarbeiterin für seinen Salon sucht. Sprechen Sie mit ihm. Vielleicht stellt er sie ein.«
»Ich habe keinen kanadischen Abschluss«, antwortete ich.
»Mit Ihren Fähigkeiten und Ihrer Erfahrung sollte das kein Problem sein. Rufen Sie ihn an«, empfahl sie und gab mir seine Telefonnummer.
Das war 1998. Ich bekam die Stelle bei ihrem Bekannten in einem schicken Friseursalon in der Robson Street in Vancouver. Die Kundschaft war edel und die Trinkgelder großzügig. Oft fragte man mich, woher ich käme. Wenn ich »Syrien« sagte, wussten die meisten nicht, wo das ist. Nur wenn ich ergänzte »das Land neben dem Libanon«, hatten sie eine Ahnung, wo sie meine Heimat auf der Karte finden könnten. Vielen fiel es auch schwer, meinen Namen – Fatima – auszusprechen. Als mein Chef neue Visitenkarten bestellte, kam er auf die Idee, dass ich mich Tima nennen könnte. Das gefiel mir, und seitdem bin ich für die meisten Englischsprechenden Tima. Mittlerweile nennen mich sogar meine Geschwister so.
Das Team im Salon war eine eingeschworene Gemeinschaft, die mich und meinen Sohn schnell in ihren Kreis aufnahm. Bald waren meine Kolleginnen und ich beste Freundinnen, und ich entwickelte mich zu der unabhängigen Frau aus dem Westen, die ich als Kind immer sein wollte. Ich war beliebt, und manch einen Freitagabend verbrachte ich in netter Gesellschaft in Restaurants und Cafés. Mir begegneten auch einige Männer, die sich gern mit mir verabredet hätten. Doch sie interessierten mich nicht. Mein Sohn war mein Ein und Alles, und ich wollte mich nie wieder mit jemandem zufriedengeben, den ich nicht liebte, und mich auch nicht auf einen Mann einlassen, der sich nicht ernsthaft und liebevoll meinem Sohn gegenüber verpflichtet fühlte.
Mein Gehalt war passabel und ich sparte einige Jahre, bis ich es mir schließlich 2002 leisten konnte, wieder nach Damaskus zu fliegen. Alan war mittlerweile neun Jahre alt. Diese Heimreise werde ich nie vergessen. Seit ich Syrien verlassen hatte, war meine Familie enorm gewachsen. Ich sah jede Menge fremde Gesichter in der Menge, die uns am Flughafen erwartete. Mohammad hatte Ghouson geheiratet, eine schöne, große, schlanke Frau aus Rukn al-Din. Sie lebten mit ihren zwei kleinen Kindern – ein Mädchen namens Heveen und ein Baby namens Shergo – in der dritten Etage unseres Hauses auf dem Berg. Maha reiste mit ihren sechs Kindern – Rodeen, Adnan, Barehan, Fatima (nach mir benannt), Mahmoud und Yasmeen – aus Kobane an. Meine Schwester Shireen hätte ich fast nicht wiederkannt. Sie war jetzt 23 Jahre alt und Ehefrau eines Zimmermanns namens Lowee. Die beiden wohnten ganz in der Nähe meines Elternhauses, auf halber Strecke zwischen unserem Domizil am oberen Ende und dem Fuß der steilen Straße, die ins Tal führte. Ihr Heim war perfekt für einen Zwischenstopp mit einem Glas Tee, wenn man sich mit schweren Taschen bepackt auf dem Rückweg vom Lebensmittelmarkt befand. Shireens und Lowees zwei kleine Söhne hießen Yasser und Farzat.
Und dann meine kleine Spionin Hivron. Jetzt war sie zwanzig, eine erwachsene junge Frau. Ahmad, der gleich nebenan wohnte, hatte ein Auge auf sie geworfen. Onkel Mahmoud war skeptisch: »Er ist so jung; er hat nichts. Du bist jung und schön«, warnte er meine Schwester vor ihrem Verehrer. »Du kannst jeden haben.« – Doch Hivron kämpfte für Ahmad: »Ich bin verliebt. Er oder keiner!«, waren ihre Worte. Sie war entschlossen, und wenn Hivron etwas will, dann bekommt sie es auch. Bei unserem Besuch 2002 hatte Hivron drei kleine Kinder, zwei Töchter mit Namen Rawn und Ghoufran und einen Sohn namens Abdulrahman.
Abdullah war längst nicht mehr der tolpatschige, unbekümmerte Junge, den ich von früher erinnerte. Mit 26 Jahren und Bartstoppeln in seinem fein gezeichneten Gesicht war er jetzt ein echter Mann. Sein freundliches und humorvolles Wesen hatte sich jedoch nicht verändert. Sein breites Lächeln war ansteckend wie eh und je. Abdullah hatte mehrere Länder im Nahen Osten bereist, aber Syrien war ihm das liebste. Jetzt arbeitete er in Mohammads Salon. Noch war er unverheiratet und lebte nach wie vor in der zweiten Etage des Hauses unserer Eltern.
Ein großer Schock für mich war jedoch meine Mutter. Meine schöne, lebhafte Mutter war alt geworden. Sie war erst 51, doch sie wirkte viel älter. Ihr Gesundheitszustand hatte sich über die Jahre dramatisch verschlechtert. Sie litt unter einer schweren Diabetes und hatte, wie viele Mitglieder ihrer Familie, Herzprobleme. Am Flughafen in Damaskus kniete ich vor ihr nieder und küsste ihre geschwollenen Füße. »Vergib mir, dass ich so lange fort war«, schluchzte ich. Doch meine Mutter antwortete auf ihre übliche liebevolle Art: »Du bist ein Teil meines Herzens. Du bist mein Leben.«
Wir fuhren nach Hause, in unser Heim, das immer noch seinen eigenen, uralten Duft verströmte. Meine Mutter war von ihrer Krankheit gezeichnet. Doch das hielt sie nicht davon ab, meine Lieblingsgerichte zu kochen: Dolma mit Rindfleisch, Mahshi (gefüllte Zucchini und Auberginen) und vor allem Kibbeh, eine mit köstlichen Zutaten gefüllte Bulgurteigtasche. Ich aß viel bei diesem Besuch, aber ich trainierte es mir gleich auch wieder ab bei meinen Spaziergängen durch die Stadt, die ich neu kennenlernen wollte. Und natürlich tanzte ich viel bei unseren abendlichen Partys. Ich filmte zahlreiche Stunden dieser Reise mit meiner Videokamera. Die Bilder zeigen uns, wie wir durch die Straßen von Damaskus schlendern, Kaffeepausen einlegen in den Cafés, und wie wir tanzen, immer wieder tanzen. Mohammads Frau Ghouson bewegt sich so anmutig, dass die Kamera ständig auf sie schwenkt. Hivron präsentiert sich stolz mit dem weißen Hausanzug aus Seide, den meine Freundin Iris mir in Vancouver gegeben hatte. Mahas Tochter Fatima ist noch nicht einmal in der Pubertät, und Alan noch ein kleiner Junge, doch er überragt seine Cousine Heveen und seinen Cousin Abdulrahman. Yasser und Shergo sind pummelige Knirpse mit dicken, rosa Bäckchen. Der einzige Unterschied zu der Zeit, in der wir jung waren, ist, dass mehrere von uns jetzt beim Tanzen ihre eigenen Kinder trugen.
Wir hatten eine wunderbare Zeit, doch der sich verschlechternde Gesundheitszustand meiner Mutter warf einen dunklen Schatten auf meine Wochen in Syrien. Bevor ich nach Vancouver zurückflog, hatten wir ein ernstes Gespräch. Sie hielt meine Hand und sagte: »Versprich mir, dass du dich um Abdullah kümmern und ihm helfen wirst, eine gute Frau zu finden.«
Ich wollte das nicht hören. »Du wirst eine Frau für Abdullah finden«, sagte ich. Traurig blickte sie zur Seite.
Den gleichen traurigen Blick hatte sie, als ich sie am Flughafen zum Abschied küsste und sagte: »Wir sehen uns nächstes