Aufsicht meiner Familie hätte entziehen können. Meine Lieben achteten streng auf alles, was ich tat. Vor allem Hivron gerierte sich als Aufpasserin und Spionin. Eines Nachmittags war ich in Linas Salon und wir gaben uns unserer neusten Gewohnheit hin: Wir rauchten Zigaretten, die besonders gut schmeckten, weil wir sie heimlich konsumierten. An jenem Tag war es sehr heiß im Salon, und ich stand auf, um die Tür zu öffnen. Draußen im Schatten lungerte Hivron herum, ihre Augen tellergroß. Sie drohte mir mit dem Finger und sagte: »Erwischt! Du rauchst. Das sage ich Mama.« Dann rannte sie fort. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich in nervöser Anspannung. Ich fürchtete, dass meine Mutter mir verbieten würde, bei Lina zu arbeiten, wenn Hivron mich verpetzte. Ich hätte sie umbringen können!
Als ich nach Hause kam, rief Mama mich in die Küche. »Rauchst du?«, fragte sie mich. – »Natürlich nicht«, antwortete ich mit zitternden Knien. – »Warum lügst du?«. Ich weiß nicht, warum ich nicht die Wahrheit sagte. Sie gab mir eine Zigarette aus Babas Schachtel und forderte mich auf, sie anzuzünden. »Ich rauche nicht«, wiederholte ich. – »Du rauchst«, entgegnete sie. »Ich will nicht, dass du es vor mir verbirgst, und dann erfahre ich es von Hivron oder von den Nachbarinnen. Ich will nicht, dass du etwas hinter meinem Rücken tust, was du sehr wohl vor meinen Augen tun kannst.« Ich gestand alles, und von dem Tag an verheimlichte ich ihr nicht mehr, wenn ich rauchte.
Kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag änderte sich mein Leben grundlegend. Meine kleine Schwester Maha bekam einen Heiratsantrag. Sie nahm ihn an und zog nach Kobane, eine Zweitagesreise von Sham entfernt. Bald darauf wurde sie schwanger. Gelegentlich besuchte sie uns zu Hause. Ich vermisste sie sehr. Ihr ganzes Leben lang hatten wir ein Zimmer und ein Bett geteilt. Jetzt erschien mir dieses viel zu groß. Meine Situation war ohnehin verwirrend. Einerseits träumte ich davon, als unabhängige Frau eine grandiose Karriere als Friseurin zu machen. Andererseits wollte ich mich verlieben, wollte heiraten und irgendwann Kinder haben. Mit knapp siebzehn saß ich quasi zwischen allen Stühlen. Ich nahm eine Teilzeitstelle in einem eleganten Damensalon an. Er lag strategisch günstig im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, in dem mehrere syrische TV- und Soap-Stars wohnten. Wenn sie von ihren Touren erzählten, hing ich an ihren Lippen. Die Welt gehörte ihnen, schien mir, und genau das wollte ich auch für mich.
Ich war zwanzig, als meine Chance kam. Eines Tages stand eine junge Frau in Linas Friseursalon und musterte mich von oben bis unten. »Sind Sie die Tochter von Abu Mohammad Kurdi?«, fragte sie. Ich nickte. »Ich wohne hier in der Nähe«, fuhr sie fort. »Meine Schwester kennt einen Kurden aus dem Irak, der jetzt in Kanada lebt. Er heißt Sirwan. Er ist für einen Monat hier, und er sucht eine kurdische Braut. Er möchte Ihre Eltern besuchen.« Gemeint war, dass er um meine Hand anhalten wollte. Ich war nicht sicher, was ich davon halten sollte, aber dieser geheimnisvolle Mann, der auf der anderen Seite der Erde lebte, reizte mich durchaus. Ich dachte an meinen Traum: Ein Leben im Westen hatte ich mir immer gewünscht. Wir vereinbarten einen Termin für den Besuch Sirwans.
Ein paar Tage später stand er vor unserer Tür. Wir folgten dem traditionellen muslimischen Protokoll, das vorsieht, dass die zukünftige Braut erst auftaucht, nachdem sich der Heiratswillige und andere Gäste mit den Eltern im Wohnzimmer niedergelassen haben. Sie kommt auch nur dazu, um arabischen Kaffee zu servieren.
Ich betrat das Zimmer mit einem silbernen Tablett, auf dem ich Kaffee und Gläser mit Wasser servierte, hoffend, dass meine zitternden Hände nicht meine Nervosität verraten würden. Ich versuchte, so viel wie möglich mitzubekommen. Schnell und diskret gelang es mir, einen Blick auf Sirwan zu werfen, bevor ich den Raum wieder verließ. Er war wesentlich älter als ich. Tatsächlich trennen uns elf Jahre. Kaum draußen lauschte ich an der Tür, um zu hören, was drinnen gesagt wurde. Doch mein Herz klopfte so heftig, dass ich kaum etwas verstand. Zum Glück spionierte Hivron an diesem Nachmittag für mich. Immer wieder ging sie ins Wohnzimmer und wenn sie rauskam versorgte sie mich mit Lageberichten.
Baba befragte Sirwan. »Was für eine Ausbildung haben Sie?«, wollte er zum Beispiel wissen. – »Ich habe im Irak Jura studiert, konnte mein Studium aber nicht beenden, bevor wir nach Kanada gingen.«
»Wie wollen Sie für meine älteste Tochter sorgen?« – »Zurzeit bin ich Koch in einem Restaurant. Ich werde uns eine schöne Wohnung suchen. Ich kann ihr ein gutes Leben in Kanada bieten.«
Ehrlich gesagt waren mir die finanziellen Arrangements ziemlich gleichgültig. Es war mir auch egal, ob ich mich unsterblich in meinen künftigen Mann verlieben könnte. Mir ging es um den Traum vom Leben im Westen, der endlich wahr werden würde. Mein Vater bestand darauf, dass wir die Ehe in Damaskus schlössen, und das auch erst, wenn die Einwanderungspapiere vollständig vorlägen. Man hörte nämlich immer wieder Geschichten von Männern, die aus dem Ausland nach Syrien kamen, um eine Syrerin zu heiraten, von der sie sich gleich nach der Hochzeit wieder scheiden ließen, und zwar noch bevor die Frauen ein Recht auf Einbürgerung in ihrer neuen Heimat hatten. Diese Frauen wurden dann wie eine Kiste voller Scherben zurück zu ihren Eltern geschickt. Mein Vater wollte alles tun, um mir dieses Schicksal zu ersparen.
Nachdem Sirwan gegangen war, setzte sich meine Mutter zu mir, nahm meine Hand und sagte: »Er scheint ein guter Kerl zu sein. Was hältst du von einem Umzug nach Kanada?« – »Es ist aufregend. Ich möchte unbedingt dorthin«, antwortete ich.
»Es ist sehr weit weg«, sagte Mama. Doch sie lächelte und drückte meine Hand, damit ich ihre Besorgnis nicht sähe.
Mein Vater kehrte ins Zimmer zurück. »Du bist ein Teil meines Herzens. Du bist etwas Besonderes für mich«, sagte er. »Ich weiß nicht, was die Zukunft dir bringen wird. Dieser Mann kann sich als guter oder schlechter Mann entpuppen. Doch du entscheidest.«
Damit begann eine höchst spannende Zeit in meinem Leben. Wenige Tage später holte Sirwan mich ab, und wir gingen ins jüdische Viertel, um Goldringe zu kaufen. In der Woche darauf feierten wir unsere Verlobung. Ich trug ein pinkfarbenes Prinzessinnenkleid mit glitzernden Perlen, und ich sorgte dafür, dass meine Haare einen schicken Fransenschnitt hatten. Dann folgte das bürokratische Prozedere für mein kanadisches Visum. Das Büro in der kanadischen Botschaft wurde mir bestens vertraut. Die Beamten dort waren ausgesprochen freundlich und nett. »Vancouver ist sehr schön«, machten sie mir Mut.
Nachdem wir die Behördengänge erledigt hatten, kehrte Sirwan für die Hochzeit zurück nach Syrien. Die Trauung organisierten wir auf unserer Dachterrasse. Mein Hochzeitskleid hatte ich selbst entworfen: Eigentlich sollte es wie eine Blüte wirken, aber am Ende sah ich eher aus wie ein Marshmallow. Unsere Hochzeitsnacht verbrachten wir im Sheraton. Wir blieben dort zwei Tage. Am Vorabend unserer Abreise nach Kanada verabschiedeten sich meine Familie und meine Freundinnen von mir mit einer Party bei uns zu Hause.
Die Reise nach Kanada war mein erster Flug. Für diesen Anlass wollte ich bestens gekleidet sein: Ich trug ein elegantes weißes Kostüm, mit maßgeschneidertem Rock und einer Schößchen-Jacke mit Rüschen. Ich fühlte mich ungemein stylisch und erwachsen. Die ganze Familie kam zum Flughafen, um Abschied zu nehmen, und mir wurde langsam klar, dass ich tatsächlich dabei war, meine Familie zu verlassen, ohne zu wissen, wann ich sie wiedersehen würde.
»Ich werde euch unendlich vermissen«, rief ich meinen Geschwistern und vor allem Mama und Baba zu, die ich vermutlich hundert Mal küsste und umarmte, bis wir aufgerufen wurden, an Bord zu gehen.
»Melde dich, sobald du angekommen bist«, sagte Mama, ihr Gesicht tränenüberströmt.
»Komm wieder und besuch uns so bald und so oft du kannst«, sagte Baba und kämpfte mit den Tränen.
Im Flugzeug weinte ich. Stundenlang und wenig zur Eleganz meines weißen Kostüms passend. Vor der Landung ging ich mich frischmachen. Ich legte neues Makeup auf und dann – ich erröte noch heute bei der Erinnerung an das, was ich tat – setzte ich mir mein Hochzeitsdiadem auf. Als ich aus der Flugzeugtoilette trat, mit dem Diadem im Haar, applaudierten die anderen Passagiere. Anmutig schritt ich durch den Gang. Ich kam mir vor wie eine Prinzessin, auf deren Weg man Rosen gestreut hat.
Nach der Landung wurden wir von Sirwans zahlreichen Freunden begrüßt. Sie hatten uns am Flughafen erwartet, in traditioneller kurdischer Tracht, damit ich mich willkommen fühlen würde. Allerdings sprachen die meisten von ihnen