Micha Krämer

Sand im Dekolleté


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… darf ich fragen, was Sie im Zimmer von Frau Kolchowsky machen?“, hörte Onno eine ihm unbekannte Stimme hinter sich sagen. Der Mann, zu dem sie gehörte, war groß. Sehr groß. Seinen Kopf, der den von Onno gut und gerne um 20 cm überragte, zierten dunkelblonde Locken. Im Arm vor der Brust trug er eine Akte.

      „Nein, das dürfen Sie nicht!“, beschied Onno ihn. Wo käme er denn hin, wenn er jedem Hinz und Kunz bei der Ermittlung in einem Mordfall Auskunft geben würde.

      „Dürfen wir erst einmal erfahren, wer Sie sind?“, mischte Lotta sich ein.

      „Ähm ja natürlich … Schneider mein Name … Ulli Schneider vom Reisebüro Seezeit. Ich bin der Reiseleiter der Reisegruppe, zu der Frau Kolchowsky gehört“, stellte er sich vor und machte mit ausgestreckter Hand an Onno vorbei einen Schritt auf Lotta zu.

      „Halt. Hier ist kein Zutritt“, bremste Onno den Hünen und schob ihn ziemlich rabiat zurück in den Flur.

      „Ja, aber … das ist doch das Zimmer von Frau Kolchows­ky … Sie können doch nicht einfach … wie sieht das hier eigentlich aus? Wurde etwa eingebrochen?“, schien der Reiseleiter nun auch die Unordnung im Zimmer bemerkt zu haben.

      „Das ermitteln wir noch, Herr Schneider“, vertröstete Onno ihn. Es wäre ihm am liebsten, wenn der Mann schnellstens wieder verschwinden würde, damit er und Lotta endlich ihrer Arbeit nachgehen könnten. Wie immer die auch aussehen mochte.

      „Wo ist denn Frau Kolchowsky? Ist ihr etwas passiert? Wurde sie verletzt?“, stellte er nun Fragen, die Onnos kriminalistischen Spürsinn erwachen ließen.

      „Wie kommen Sie darauf, dass Frau Kolchowsky etwas zugestoßen sein könnte?“, hakte er sofort ein. Der Reiseleiter stutzte.

      „Ja hallo? Ihr Zimmer scheint zerwühlt, die Polizei ist da und sie ist gerade nicht anwesend“, erklärte der.

      Onno musste zugeben, dass diese Argumente schon plausibel klangen.

      „Herr Schneider, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Frau Kolchowsky Opfer eines Verbrechens wurde“, ließ Lotta nun die Bombe platzen. Reiseleiter Schneider war sichtlich entsetzt. Was allerdings auch gut geschauspielert sein konnte.

      „Um Gottes willen … wie geht es ihr? Wurde sie verletzt?“, erkundigte er sich besorgt.

      Onno blickte zu Lotta, die nach Worten suchte.

      „Ja … nee … jetzt nicht wirklich verletzt“, stammelte die Kollegin herum. Onno wusste, dass Lotta im Überbringen schlechter Nachrichten nicht besonders gut war. Sie ging das immer viel zu zaghaft an. Bei solchen Dingen musste man als Polizist sachlich bleiben.

      „Was die Kollegin sagen möchte, ist, … ist, dass Frau Kolchowsky verstorben ist“, erlöste er Lotta deshalb.

      Reiseleiter Schneider starrte sie beide nun abwechselnd an. Sein Mund öffnete und schloss sich tonlos, als wolle er etwas sagen. Unweigerlich fiel Onno der Besuch in dem chinesischen Restaurant in Hamburg ein, das Tine und er mit Martin und Annemarie im letzten Jahr aufgesucht hatten. Während des durchaus opulenten Mahles hatte ihn die ganze Zeit einer der großen Zierkarpfen in dem Aquarium an der gegenüberliegenden Wand genauso angeguckt. Gerade so, als hätte das Tier den Fisch auf dem Teller, den sie gerade verspeisten, persönlich gekannt. Das war ihm so richtig auf den Magen geschlagen. Ja, er hatt sich in diesem Moment ertappt gefühlt. So als wäre er ein Mörder.

      *

      Obwohl er demnächst siebzig wurde, waren seine Augen noch immer wie die eines Luchses. Heribert Wolf und er standen gut und gerne einhundert Meter vom Tatort entfernt auf dem Holzbohlenweg. Dennoch hatte Hans Peter Thiel das Dirndl, das die Tote trug, sofort erkannt. Dass Erna Kolchowsky das Zeitliche gesegnet hatte, stand für ihn somit außer Frage. Die Kriminaltechniker und der Traktor mit dem Totenkarren daran sprachen eine deutliche Sprache.

      „Tja, das war es dann wohl mit unserem ruhigen Urlaub auf der Insel“, stellte er jetzt erst einmal fest.

      „Und du bist wirklich sicher, dass das unsere Erna ist?“, fragte Heribert, deutete mit einer Kopfbewegung zum Ort des Geschehens und hielt ihm das Päckchen mit seinem Tabak und den Zigarettenblättchen hin. Hans Peter überlegte kurz und lehnte dann dankend ab, obwohl es ihn in den letzten Tagen wieder einmal heftig nach einer Zigarette verlangte. Doch er war auch ein Mensch mit Prinzipien. Er hatte aufgehört, weil ihm seine Gesundheit wichtig war. Die letzte Kippe hätte ihn damals nämlich fast ins Grab gebracht – und das wortwörtlich. Zum Glück war er im Krankenhaus aus den Latschen gekippt, wo sofort ein Arzt zur Stelle gewesen war.

      „Ja, das ist unsere Erna“, sinnierte er so in Gedanken, dass ihm das Wörtchen „unsere“ erst auffiel, als er es bereits ausgesprochen hatte.

      „Um Gottes willen, wie tragisch“, fand Heribert und blies den Rauch seiner Selbstgedrehten in den Wind.

      „Sag mal, Heri … wo warst du eigentlich, als wir das Lokal gegen halb eins heute Nacht verlassen haben?“, interessierte es Hans Peter.

      Heribert drehte den Kopf und sah ihn einen Moment fragend an.

      „Das ist aber jetzt nicht dein Ernst?“

      „Doch, wieso? Ich hab’ dich nirgends gesehen, als Inge, ich und einige der anderen zurück zum Hotel gegangen sind“, erwiderte Thiel und tat, als wäre dies eine ganz belanglose Feststellung. Ja, mit dem Rauchen hatte er aufhören können. Aber Bulle … Bulle würde er bleiben, bis sie ihm eines Tages die Kiste zunagelten.

      *

      „Du, Annemariechen. Dat war gerade der Willi am Telefon. Du weißt doch, der von der Kripo. Der meint, ich müsste dem noch ein paar Fragen wegen der Frau Erna beantworten tun“, erklärte Martin seiner Liebsten, die davon so gar nicht begeistert zu sein schien.

      „Und wann machst du die defekte Klospülung im Süder­dünenring?“, kam es auch prompt sehr vorwurfsvoll zurück.

      „Wenn ich der Polizei Rede und Antwort gestanden hab. Dat is ja quasi eine Bürgerpflicht, dat man da helfen muss“, erwiderte er.

      Annemarie blickte ihn über den Rand ihrer Lesebrille an.

      „Dann beeil dich. Der Gast hat schon zweimal angerufen und gefragt, wann endlich jemand vorbeikommt“, gab sie klein bei.

      Martin nickte, gab Lumpi einen Wink ihm zu folgen und sah dann eiligst zu, dass er davonkam. Eine Hektik war das bisher heute gewesen. Zum Glück wirkten die Tabletten, die Jan Martin ihm vorhin gegeben hatte, endlich. Seine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Dafür war sein Appetit wiedergekommen.

      Keine drei Minuten später stoppte er mit quietschenden Bremsen sein Rad vor dem Fischimbiss in der Barkhausen­straße, der zum Glück nicht nur Fisch im Angebot hatte. Von Kriminalhauptkommissar Willi Bogner war weit und breit noch nichts zu sehen. Nun gut, von der Stelle am Strand, wo Martin morgens die Tote entdeckt hatte, bis hierher war es zu Fuß auch ein gutes Stück zu laufen. Man vertat sich schnell bei den Entfernungen auf der Insel.

      „Ich hätte dann gerne eine Currywurst mit Pommes“, bestellte er deshalb schon einmal eine seiner Leibspeisen, die direkt nach der kölschen Version von Himmel und Ääd kam. Wobei … nein … an die gebratene Kölner Blutwurst mit Speckzwiebel, Apfelmus und Püree kam so schnell gar nichts ran. Leider gab es diese Köstlichkeit aber nicht auf der Insel, weshalb er mit Currywurst vorliebnehmen oder sich selbst bekochen musste. Zumindest so lange, bis er das nächste Mal seine Heimatstadt Köln besuchen würde. Überhaupt verhielt es sich ja mit traditionellen Gerichten so, dass die am besten da schmeckten, wo sie auch heimisch waren. Schweins­haxe aß man am besten in Bayern und bestimmt nicht auf Malle, dafür schmeckte die Paella am besten in Spanien. Und eine Pizza, wie die damals im italienischen Paestum, die gab es auch nirgends anders. Currywurst mit Pommes hingegen konnte man überall essen. Genau wie die Burger im Restaurant zum goldenen M. Die schmeckten auch überall gleich nach Pappe.

      Gerade als Martin die erste goldgelbe Pommes frites mit der Gabel aufspießte, entdeckte er Willi Bogner, der zielstrebig auf ihn zusteuerte.

      „Moin,