Micha Krämer

Sand im Dekolleté


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gab es nun Holzbänke für die Passagiere. Der ehemalige Laderaum, der ihm und Lotta eine Zeit lang als Wohnung gedient hatte, war nun ein richtiger kleiner Salon mit Minikombüse, wo die Fahrgäste sich aufwärmen, ihren Tee schlürfen und Fischbrötchen, Bockwurst oder Kuchen essen konnten. Der alte Dieselmotor glänzte wie eine Speckschwarte, und auch an die Sicherheit der Passagiere hatte Krischan gedacht. Es gab Schwimmwesten und aufblasbare Rettungsboote für mehr Personen, als er überhaupt auf dem kleinen Kahn jemals transportieren könnte. Die Abnahme durch das Amt war eine reine Formsache gewesen. Der Prüfer hatte nichts zu meckern gehabt.

      Morgen würde er nun zum ersten Mal ganz offiziell mit einer Gruppe Touristen in See stechen dürfen, um den Leuten die Schönheit des Wattenmeeres zu zeigen. Schnapsprobe und Landgang auf Spiekeroog inklusive.

      Hmm, ob er heute nicht doch noch eine Probefahrt unternehmen sollte?, kam es ihm in den Sinn.

      Schaden würde es nicht. Natürlich war er sich zu einhundert Prozent sicher, dass mit dem Schiff alles in Ordnung war. Der wahre Grund, weshalb er erwog in See zu stechen, war auch, wenn er ehrlich zu sich selbst war, ein anderer. Krischan konnte es einfach nicht mehr abwarten, dass es endlich losging. Er schloss die Augen und dachte daran, wie er Lotta zum ersten Mal hier auf dem Schiff geküsst hatte und musste lächeln.

      Genau, er würde jetzt gleich Lotta fragen, ob sie und der kleine Eike ihn zu einer letzten Probefahrt begleiten wollten. Wobei er Eike nicht lange fragen musste. Sein Sohn war sofort und ohne zu zögern dabei. Aus Eike würde später einmal ein großer Kapitän werden, das war so sicher wie dass nach Ebbe immer wieder die Flut kam. Vielleicht lag das auch daran, dass Eike sogar auf der ANNE II geboren worden war. Und wenn Krischan sich recht erinnerte, war er vermutlich auch hier gezeugt worden. Wobei das nicht ganz sicher war, da Lotta und er sich zu der Zeit eigentlich ständig und an den unmöglichsten Orten geliebt hatten. Ja, er würde jetzt Lotta anrufen und sie zu einem Ausflug einladen. Gerade als er ihre Nummer wählen wollte, begann das alte Mobiltelefon in seinen Händen zu vibrieren. Auf dem Display stand „Mein kleiner Seehund“. Lotta mochte es eigentlich gar nicht, wenn er sie so nannte. Zumindest nicht, wenn Leute dabei waren. Abends zu Hause in ihrem Schlafzimmer hatte sie sich aber noch nie darüber beschwert. Lächelnd und voller Vorfreude nahm er den Anruf seiner Liebsten entgegen.

      „Huhu, Lotta, das is ja nu ma ein Zufall. Gerade wollte ich dich anrufen“, begrüßte er sie freudig. Doch er merkte auch sofort, dass irgendetwas nicht stimmte.

      Lotta wirkte irgendwie abgehetzt. Hektik mochte Krischan überhaupt nicht. Er war jemand, der die Dinge mit Ruhe anging. Den Grund für Lottas Unruhe erfuhr er während des Telefonates. Aus dem heutigen Testausflug zu den Seehundbänken würde wohl nichts werden. Lotta musste arbeiten, weil eine Frau ermordet worden war. Krischan hatte davon schon von Onkel Piet gehört, der vorhin auf einen Schnaps bei ihm auf der ANNE II vorbeigesehen hatte. Na klar, dass Lotta unter diesen Umständen keine Zeit für ihn und Eike hatte. Da hätte er Dummerjan doch eigentlich mit rechnen können. Enttäuscht versprach er ihr, dass er heute den kleinen Eike in der Kita abholen und sich am Nachmittag um den Haushalt kümmern würde. Eigentlich erledigte Lotta das immer, da der Kindergarten ja quasi auf ihrem Nachhauseweg von der Dienststelle lag, und ihm bei der Hausarbeit ständig etwas in die Brüche oder etwas schiefging. Kochen und das ganze Drumherum waren so gar nicht sein Ding. Deshalb waren die Aufgaben bei ihnen zu Hause auch klar definiert. Jeden Tag der gleiche Ablauf. Krischan brachte Eike morgens in die Kita und Lotta holte ihn wieder ab. Sie arbeitete vormittags bei der Polizei. Er kümmerte sich derweil um die ANNE II und die mittlerweile sehr gut laufende Schnapsbrennerei im Schuppen hinter dem Haus. Zum Glück lag ihm das Schnapsbrennen besser als die Hausarbeit. Sein Birnenbrand nach einem Geheimrezept von Vater Hein war der absolute Renner.

      Nachmittags, wenn Lotta dann zu Hause war, arbeitete Krischan immer noch stundenweise für Tante Annemarie in deren Ferienhausvermietung. Das war er ihr nach allem, was sie für ihn getan hatte, schuldig.

      Tante Annemarie war nämlich schon ein wenig traurig gewesen, als er vor einem halben Jahr seinen Ganztagsjob bei ihr gekündigt hatte. Es gab ja, zumindest sagte sie das immer, kein ordentliches Personal mehr heutzutage. Doch sie hatte auch verstanden, dass die Selbstständigkeit Krischan wichtig war. Dass es schon immer sein Traum gewesen war, seine Brötchen als Kapitän zu verdienen. Die Fahrten mit interessierten Menschen hinaus auf die Nordsee zu seinen geliebten Seehunden waren das Tollste überhaupt und kamen direkt nach seiner Lotta und dem kleinen Eike. Und wer wusste das besser als Tante Annemarie. Mehr noch … sie hatte ihm sogar die ANNE II geschenkt. Da war es doch eine Selbstverständlichkeit, dass er ihr in der Saison, wenn es viel zu tun gab, immer noch zur Hand ging. Annemarie war für Krischan wie eine Mutter. An seine richtige Mama konnte er sich auch kaum noch erinnern. Die war, als Krischan gerade mal sieben war, bei Nacht und Nebel mit einem Urlauber durchgebrannt. Zuerst hatte sich Onkel Piet um ihn gekümmert, dann Tante Annemarie und ihr Mann Onkel Heiner. Onkel Heiner war ihm mehr ein Vater gewesen als sein richtiger Papa, den er erst vor einigen Jahren durch Zufall kennengelernt hatte und der weit weg in Kanada lebte.

      Nachdem Lotta aufgelegt hatte, machte Krischan sich unverzüglich auf den Weg, um Eike abzuholen.

      *

      Als Hans Peter Thiel zurück ins Hotel kam, war es bereits kurz nach Mittag. Die Zeit an diesem Morgen war vergangen wie im Flug. Obwohl er zuerst überlegt hatte, direkt zum Hotel zurückzugehen, war er dann doch noch ein wenig durch den Ort gelaufen, hatte sich umgesehen und seinen Gedanken dabei freien Lauf gelassen. Dass sein alter Kumpel Heribert Wolf etwas mit dem Tod von Erna Kolchowsky zu tun haben könnte, glaubte er mittlerweile überhaupt nicht mehr. Nein, das war totaler Unsinn. Die Frage nach einem Alibi tat Hans Peter im Nachhinein nun sogar leid. Wie so oft in den Jahren nach seiner Pensionierung waren wieder einmal die Pferde mit ihm durchgegangen. Genauer gesagt die Polizeipferde. Aber nach über vierzig Jahren als Kriminalbeamter konnte er sich einfach nicht mehr daran gewöhnen, dass er nun nur noch ein Zivilist war. Zivilisten fragten ihre Freunde nicht nach Alibis. Nein, so etwas ging gar nicht. Er würde wohl oder übel über seinen Schatten springen und sich bei Heribert für seine Frage entschuldigen müssen. Ja, genau das würde er tun.

      „Hans Peter … Liebling … wo warst du denn so lange?“, hörte er die Stimme seiner Inge, die an der Rezeption stand und sich mit den beiden uniformierten Beamten unterhielt. Inge sah wie immer gut aus. Womit er zugegebenermaßen heute Morgen gar nicht gerechnet hatte. Im Gegenteil. Es hätte ihn nicht gewundert, sie ein wenig zerknautscht oder sogar noch schlafend im Bett anzutreffen. Immerhin hatte sie, als er morgens das Zimmer verließ, noch den Mülleimer im Bad umarmt. Kein schöner Anblick. Aber nein, seine bessere Hälfte schien nun putzmunter und topfit. Hans Peter musste ihr auch keine Antwort auf ihre Frage geben, die vermutlich eh mehr rhetorisch zu sehen war. Nein, Inge plapperte bereits weiter wie ein Wasserfall.

      „Hans Peter, stell dir vor, Erna ist tot. Sie wurde am Strand gefunden. Ist das nicht schrecklich?“

      Er nickte. Ja, das war in der Tat schrecklich. Obwohl er diese Erna nicht hatte ertragen können, so fand er es doch jedes Mal tragisch, wenn ein Mensch aus dem Leben gerissen wurde. Wobei … nein, fand er nicht. Es hatte auch schon einige Typen gegeben, deren Ableben er eher mit Genugtuung als mit Trauer zur Kenntnis genommen hatte. Zumeist waren diese aber schwerkriminelle Subjekte gewesen, um die es weiß Gott nicht schade war. Erna Kolchowsky hingegen war einfach nur nervig gewesen. Solche Leute konnten ja zumeist nichts dafür. Nervigkeit war, zumindest glaubte er das, angeboren und nicht strafbar. Auch nervige Bälger blieben dies ihr Leben lang.

      „Guten Morgen, Kriminaloberkommissar Hans Peter Thiel“, stellte er sich erst einmal den beiden Beamten vor und reichte zuerst Lotta und dann dem anderen Uniformierten die Hand. So viel Höflichkeit unter Kollegen musste schließlich sein. Das kleine Kürzel a. D. für „außer Dienst“ verschwieg er wie so oft geflissentlich, weil er es einfach nicht mochte. Polizeimeisterin Lotta Dönges ergriff seine Hand, lächelte und nannte noch einmal brav ihren Namen und Dienstrang, obwohl er ihr ja bereits im Frühjahr einige Male begegnet war. Diese Lotta Dönges gefiel Hans Peter. Die kleine Polizistin war eine wirklich freundliche, zuvorkommende Persönlichkeit. Er, ihr Kollege und wohl auch Vorgesetzter, hingegen war ein Stoffel. Das erkannte Hans Peter sofort. Der machte noch nicht einmal Anstalten, seine Hände aus der Jacke zu ziehen, um Hans