dann, nach einem Blick auf Martins Teller, angewidert das Gesicht.
„Och nein … Maddin … wer so etwas zum Frühstück isst, der frisst auch kleine Kinder.“
Martin ließ die Gabel sinken und blickte dann auf seine Armbanduhr.
„Wieso, dat is doch schon Mittach. Wat kann ich dafür, dat ihr bei der Polizei so lange schlafen tut?“, gab er kontra, obwohl es tatsächlich bis Mittag noch gut und gerne etwas über eine Stunde war.
Willi erwiderte nichts, sondern orderte derweil ein Matjesbrötchen mit extra viel Matjes und Zwiebeln.
„Und, Maddin, wie geht’s dir denn? Onno und Lotta meinten, dich hätte es heute Morgen ziemlich aus den Schuhen gehauen“, erkundigte er sich nach seinem Wohlbefinden.
Martin winkte ab.
„Nä, Willi. Is alles wieder tuti pallettus … ich hatte ja auch gar keine Schuh an … ich wollte ja baden gehen tun“, erklärte er den Sachverhalt, legte dann die Gabel ab, öffnete die beiden Schnallen seiner Latzhose und zog sein T-Shirt am Halsausschnitt so weit runter, dass die beiden roten Flecken zutage kamen.
„Schon gut, Martin, ich glaub es dir auch so“, flüsterte Willi, verzog das Gesicht, sah sich suchend um und machte eine Geste mit der Hand, die wohl bedeuten sollte, dass Martin sich wieder anziehen sollte.
„Also wenn du mich fragen tust, hatte die Olle nit mehr alle Latten am Zaun“, stellte Martin noch einmal klar und rückte seine Kleidung wieder zurecht.
„Sie behauptet, du hättest der Toten an die Brüste gegriffen“, sagte Willi und legte den Kopf schief.
Martin merkte, wie seine Kinnlade nach unten klappte und sein Hals zu schwellen begann.
„Die sagt wat? Die spinnt ja wohl … die … die“, fehlten ihm jetzt tatsächlich die Worte. Aber anstatt sich weiter aufzuregen, wie er es früher in so einem Fall getan hatte, schloss er einfach die Augen, faltete die Hände, atmete tief ein und ließ ein langes Ommmmmmmm … erklingen. Sofort merkte er, wie sein Puls sich zu beruhigen begann. Als er nach einigen Sekunden die Augen wieder aufschlug, starrte Willi ihn an, als habe er sie nicht mehr alle.
„Dat hab’ ich von meinem Mariechen gelernt, die macht neuerdings mit ihrem Mann, dem Herrn Doktor Heitschi … oder wie man dat nennen tut. Solltest du auch mal probieren tun, Willi“, gab er dem Kriminalen einen guten Tipp und widmete sich dann dem ersten Stück Currywurst.
„Ahh ja … werde ich mir merken. Aber jetzt noch mal zu der Frau, die dich heute Morgen am Strand mit dem Elektrosch …“, weiter kam Willi nicht, da Martin wütend mit der Faust auf den Tisch hieb.
„Willi, willst du unbedingt, dat ich mich wieder aufregen tu und mir der Appetit vergeht? Mir tun doch grad so schön essen“, schimpfte Martin so laut, dass Lumpi unter dem Tisch ebenfalls ein lautes und sehr zorniges Knurren zum Besten gab. Martin nahm eine Pommes und gab sie dem Hund zur Beruhigung. So etwas tat er allerdings auch nur, wenn Annemarie nicht dabei war. Die regte sich nämlich immer total auf, wenn er dem Hund etwas vom Tisch gab.
Martin hatte keine Lust, über den Vorfall am Morgen zu reden. Zumindest nicht mit Willi und schon gar nicht, solange wie er noch am Überlegen war, was er dem Kriminalbeamten überhaupt sagen konnte, ohne einen Verdacht auf sich selbst zu legen. Ja, er hatte der toten Erna ins Dekolleté gefasst. Aber dies war ja nicht aus niederen sexuellen Beweggründen geschehen, sondern weil er wissen wollte, ob das Los noch da war, wo sie es in der Nacht vor aller Augen hatte verschwinden lassen. Wenn er dies allerdings Willi gegenüber zugäbe, könnte der gewiefte Polizist aber auch schnell ganz falsche Schlüsse ziehen. Nachher würde der noch behaupten, Martin hätte Erna erwürgt, um an das Los zu kommen. Nein, nein. Das Beste würde sein, er hielt sich an seine erste Geschichte. Er hatte fühlen wollen, ob das Herz der Frau noch schlug, um diese dann zu reanimieren. Wozu es ja nicht mehr kam, da just in dem Moment die bekloppte rosa Tante mit ihrem Elektroschocker dazwischenging. Zum Glück war Willis Fischbrötchen nun auch fertig und der erst einmal anderweitig beschäftigt. Einen Freund wie Willi anzuflunkern, fiel Martin nämlich auch nicht eben leicht.
*
Hans Peter Thiel hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und ging gemütlich und mutterseelenalleine über den Holzbohlenweg am Strand entlang, der sich langsam mit Urlaubern füllte. Das Meer brandete heftig an den Strand und obwohl die Sonne von einem unbewölkten Himmel brannte, war ihm in seinem Sakko und den langen Hosen nicht zu warm. Vermutlich dank des Windes, der kräftig von See her wehte. Ob er es wollte oder nicht, seine Gedanken kreisten um Erna Kolchowsky, die vorhin von einigen Männern in einer Zinkkiste in den Bestattungsanhänger gewuchtet wurde. Was war da heute Nacht passiert? Er und Inge hatten das Lokal gegen halb eins gemeinsam mit einem guten Dutzend Rumkugeln und den befreundeten Insulanern verlassen. Ungefähr die Hälfte der Truppe war noch geblieben. Darunter Erna Kolchowsky und sein alter Schulfreund Heribert Wolf. Heri war eben, als Thiel ihn darauf ansprach, förmlich explodiert. Reagiert so etwa jemand, der nichts zu verbergen hatte? Andererseits war Heribert aber auch nicht der Typ, der aus Habgier eine Frau erwürgte. Wobei … war es denn überhaupt ein Mord aus Habgier? Wie kam Hans Peter eigentlich darauf? Natürlich … er nahm es an. Wegen des Loses, das Erna um kurz nach Mitternacht freigerubbelt hatte. Dies musste aber auch nicht sein. Überhaupt stand ja noch gar nicht fest, ob Erna tatsächlich ermordet worden war. Auch dies war nur eine Vermutung von ihm. In Wahrheit könnte die Gute auch einfach betrunken ins Meer gefallen, ertrunken oder an einem Herzleiden gestorben sein. Das Aufgebot der Kriminalpolizei war sehr überschaubar gewesen. Wenn er sich nicht verzählt hatte, fünf Leute in Zivil mit weißen Schutzanzügen darüber. Als Heribert und er vorhin das Hotel verließen, waren ihnen auch noch zwei Uniformierte begegnet. Ein Mann und eine Frau. Die junge Frau hatte Hans Peter erkannt. Es war die Freundin seiner Stieftochter Nina Moretti gewesen. Die, die im Frühjahr mit ihrer Familie in Betzdorf zu Besuch gewesen war. Lotte oder Lotta hat sie geheißen. Das Mädchen war so schnell mit ihrem blauen Elektrorad an Hans Peter vorbeigeschossen, dass die ihn bestimmt nicht erkannt hatte. Hans Peter kam an eine Weggabelung, überlegte kurz und bog dann nach rechts in Richtung des großen Wasserturms ab, der hoch aus dem Dünenmeer herauslugte. Den konnte man auch vom Hotel aus sehen, weshalb die Richtung dorthin wohl grob stimmen müsste. Er schüttelte den Kopf, so als wolle er die lästigen Gedanken abschütteln. Er musste den Fall Erna Kolchowsky vergessen. Es ging ihn schlichtweg nichts an, ob die jetzt tot umgefallen oder ermordet worden war. Hans Peter hatte die Frau weder näher gekannt noch gemocht. Nein, hier waren die norddeutschen Kollegen zuständig. Schlimm genug, dass Heribert nun sauer auf ihn war. Wobei der sich auch wieder beruhigen würde.
*
„Komischer Typ … so hilfsbereit … hm … sehr, sehr verdächtig“, knötterte Onno, als die Tür des Seminarraums hinter Reiseleiter Ulli Schneider ins Schloss fiel und Lotta und der Kollege wieder unter sich waren.
Lotta ließ die Teilnehmerliste der Kegelclubgesellschaft sinken und blickte Onno irritiert an.
Was, zum Kuckuck, ist dir denn an dem Mann verdächtig?“, verstand sie jetzt mal ganz und gar nicht.
Onno wackelte mit dem Kopf hin und her.
„Der ist mir einen Tick zu freundlich.“
„Das ist doch Käse, Onno. Ich fand den einfach nur nett und hilfsbereit. Da ist doch nichts Verdächtiges dran“, erwiderte Lotta.
„Genau das ist es ja, was ich meine. Was, wenn der uns nicht helfen, sondern uns lediglich auf eine falsche Spur bringen möchte?“
Lotta antwortete ihm nicht. Onnos Thesen und Schlussfolgerungen waren manchmal derart abstrus, dass es ihr einfach zu dumm war, darauf zu antworten. Stattdessen widmete sie sich der Liste mit den Teilnehmern der Kegelclubtour. Insgesamt handelte es sich um zweiundzwanzig Namen inklusive dem des Reiseleiters. Einer war der von der verstorbenen Erna Kolchowsky. Laut Reiseleiter Ulli Schneider waren Erna und gut die Hälfte der anderen gestern Abend noch zum Feiern in der „Düne 13“ gewesen. Die Namen derer, von denen er annahm, dass sie dabei waren, hatte er mit einem gelben Textmarker markiert.
„Schau mal, Hans Peter Thiel