Erwin, dieser durchtriebene Loder?«
Sepp grunzte unwillig: »Wir müssen irgendwas übersehen haben!« Er war doch Polizist und kein unbedarfter Schaukelbursch – doch ihm war nichts Ungewöhnliches, nichts Verdächtiges aufgefallen. Der Schafkopfabend in der »Linde« war »heilig«. Einmal im Monat ging es ausschließlich um Ober, Unter und Säue. Ihr »vierter Mann«, der Grasmaier Luggi, war gestern vom Radl und somit kurzfristig ausgefallen. Ehgartner hatte als Ersatzmann Fichtner angeschleppt und vorgeschlagen, bei dem schönen Wetter im Biergarten zu bleiben. Wie also hätte jemand die Tat planen und vorbereiten sollen? Was lief zwischen Ehgartner und Fichtner? Kannte der Tiroler den Täter? Und von welcher Art war diese »Bekanntschaft«? Sonnleitner wusste es nicht, er wusste nur, dass bei solch unübersichtlichen Gemengelagen höchste Vorsicht geboten war.
Fichtner war offenbar noch in der Nähe. Unter dem Japsen-Jeep mit dem Kennzeichen IL-TF 2 hatte sich ein Ölfleck gebildet. Diese Umweltsau, dachte Sepp unwillkürlich. Vom Parkplatz aus war der Hügel samt Kirche und Friedhof außer Sichtweite. Der Hang stieg auf der Nordseite steil an, von dichtem Gestrüpp bedeckt. Nach oben hin wurde das Terrain flacher, das Buschwerk wuchs sich zu einem Wäldchen aus. Die jungen Bäume standen dicht an dicht. Sepps Talente als Fährtenleser waren eher rudimentär ausgeprägt. Es konnte indes auch ein Laie erkennen, dass sich unlängst jemand durchs Gebüsch geschlagen hatte, um den Abhang zu erklimmen. Für einen Moment blitzte es am Rand des Dickichts auf. Die schräg einfallenden Strahlen mochten eine Glasscherbe oder ein Stück Metall gestreift haben. Sonnleitner vermutete allerdings, dass es sich um das Ziffernblatt eines Tag-Heuer-Chronometers handelte, der sich um Fichtners Handgelenk spannte. Was hatte der Tiroler vor? Wollte er in Wildwest-Manier die Sache selbst in die Hand nehmen? Oder bewegten ihn andere, finstere Motive? Sepp deutete auf eine Gruppe dicht stehender Fichten: »Das wird nix, da kommt er nicht weit, wenn er den Mörder aufhalten will.«
Vitus riss die Heckklappe auf. »Durch die Brennnesseln und Brombeerbüsche, mia gangst. Wir nehmen den Jägersteig, hinten rum.«
Sonnleitner fiel ihm in den Arm. »Moment. Was machen wir, wenn uns der Kerl auflauert? Oder wir ins Kreuzfeuer geraten.«
Rabensteiner wischte seine Bedenken beiseite: »Ah was, ich war zehn Jahr’ bei einer Spezialeinheit. Wir checken erst die Lage, dann schlagen wir gezielt zu. Wo hast deine Walther?«
»Wie jetzt, bin ich im Dienst?«
Rabensteiner winkte verächtlich ab. »Mei o mei, die Polizei! Stets für den Ernstfall gerüstet.« Wie ein Zauberer in der Manege schlug er eine graue Plastikplane zurück.
Sonnleitner staunte: »Saxendi, da schau hi!« Ein nagelneues Gewehr, Vollautomatik. So etwas bekam man nicht im Shotgun-Shop, noch nicht einmal im hintersten Redneck-Revier Texas.
»Gell, so etwas habt ihr Grünspargel ned. Da kommst du nur über Beziehungen ran.« Als SEKler a.D. wusste Rabensteiner, wo der Hammer hing.
Rabensteiners Waffenarsenal war beeindruckend: die Vollautomatik, ein Karabiner mit noblem Nussbaumschaft, eine doppelläufige Jagdflinte, stapelweise Notfallrationen, ein »Survival-Kit« zum Überleben in der arktischen Wildnis, inklusive Kampfmesser, Axt und Hackebeil. Veitl vollführte eine einladende Geste: »Keine falsche Bescheidenheit, bedien dich. Weißt, wir leben heute in unsicheren Zeiten. Wenn mir so ein Messerstecher an die Gurgel geht, dann putz ich den weg – und aus die Laus!« Genüsslich ließ Vitus die Verschlüsse eines Stahlkoffers aufschnappen – randvoll mit Patronen verschiedenen Kalibers. Genügend Munition, um gegen eine ganze Armee ins Feld zu ziehen. Fröhlich pfeifend stopfte sich Veitl die Taschen voll. »Stahlmantel, Bleispitze, Full Metal Jacket, wie die Amis sagen. Damit wuchtest du jeden Angreifer aus den Galoschen.«
»Sag mal, was machst du eigentlich abends in deiner Gartenlaube – lustige, lehrreiche Tierfilmchen anschauen, ha?«
»Ah, na! Ride or Die, Medal of Honor, Battle Heroes, dazu ein paar Halbe. Kulturprogramm für harte Hund’«, bekannte Rambo Rabensteiner freimütig.
Mit andächtiger Ehrfurcht strich Sepp über den kalt gewalzten Lauf der Präzisionswaffe, einer SIG 550: »Sauber, Schweizer Qualitätsarbeit.« Ein mokanter Unterton war nicht zu überhören: »Wozu brauchst du ein Infrarot-Nachtsichtgerät? Geht’s nachts auf Hasen-Hatz?«
Rabensteiner gluckste: »Bist neuerdings bei Pax Christi? Frieden schaffen ohne Waffen!« Bester Laune feixte er: »Alter Greenpeace-Groupie! Den Granatwerfer lassen wir da. Gegen weiche Ziele braucht’s des ned – aber mit so einer Sprenggranate knackst du jede Panzerlimousine.«
Sonnleitner wog das Gewehr in der Hand: »Ganz schön schwer. Eine handliche Glock hast ned«, motzte er.
Rabensteiner ließ nicht mit sich handeln. »Glock gibt’s ned. Da, nimm – Mauser 98. Oldie but Goldie. Damit hat schon mein Großvater die Gämsen aus der Wand gesäbelt.« Wie ein Lagerist bei der Inventur warf er ihm den dazugehörigen Ladestreifen zu: »Da, fang. Fünf Schuss Munition. Das muss fürs Erste langen!« Mit missmutigem Gesichtsausdruck schob Sepp die zylindrischen, flaschenförmigen Patronen ins Magazin des Karabiners. »Auf geht’s, Zugriff!« Veitl schulterte das Schweizer Schießeisen, die Jagd hatte begonnen.
Der Pfad mäanderte um das Dornengebüsch herum auf den Hügel. »Wir müssen weiter am Waldrand lang«, gab Vitus die Marschrichtung vor. »Der Tiroler is’ nirgends zu sehen.« Dieser Umstand bereitete Sepp allerdings Kopfzerbrechen. Dem hinterlistigen Zirben-Zipfel traute er alles zu. Und wenn sich der Mörder im Gebüsch herumdrückte? Vollgepumpt mit Adrenalin und zu allem entschlossen. Wie ein Trapper auf Puma-Pirsch schnaufte Rabensteiner vornweg, er hinterdrein. »Siehst schon was?«, japste Sonnleitner.
»Na. Da ist niemand, die hocken bei dem Wetter alle im Biergarten!« Wie im Lehrfilm für angehende Guerilla-Kämpfer hoppelten sie in geduckter Haltung durch den dunklen Tann. Die kurzläufige Waffe baumelte wie ein überdimensioniertes Amulett vor seiner Brust. Sepp war schweißgebadet, die schüttere Haarpracht klatschnass.
»Wieso ziehst du eigentlich das kracherte Trikot vom SV Tacherting nicht aus? Der Fetzen leuchtet doch wie eine Signalrakete«, stichelte Sonnleitner.
»Rot wirkt auf Frauen anziehend, du Bauernrammel. Eine männliche Farbe, die Mut, Opferwille und Macht ausstrahlt.« Mut und Macht – Sepp hätte am liebsten losgelacht. Wieso machte er nicht einfach kehrt – und überließ dem »Full Metal Man« das Feld? Rabensteiner war reif für Gabersee. Für die Diagnose brauchte man kein Psycho-Diplom.
Zugegeben: Rabensteiners Schlachtplan war simpel, aber hatte Hand und Fuß: von der Flanke her attackieren, den Gegner einkesseln und eliminieren. »Wir machen das wie der Napoleon bei Austerlitz«, hatte er vollmundig posaunt. Sepp hegte indes Zweifel bezüglich der taktischen Umsetzung. Ein Hohlweg trennte das bewaldete Gelände hinter, von der Viehweide vor ihnen. Die üppig wuchernden Büsche am Feldrain gewährten ihnen vorerst Sichtschutz. Rabensteiners Blick war nach vorne, auf ihr Angriffsziel gerichtet: »Da hockt der Feind. Zumindest ist er da gesessen.« Die Greinbacher Kirche machte sich auf einem lang gezogenen Wiesenbuckel breit. Bis zur Umfassungsmauer des Friedhofs, die, einer keltischen Wallanlage gleich, das Hügelplateau umgab, waren es 150 Meter. Durch offenes Gelände wohlgemerkt. Die Sonne verabschiedete sich langsam in den Feierabend, die Holzpflöcke des Weidezauns warfen lange Schatten. Ein friedliches Idyll: dottergelbe Frühlingsblumen, eine weichselbraungescheckte Rinder-Rotte, die sich durchs grüne Gras mümmelte. Die Glöckchen unter den faltigen Hälsen der Muh-Madonnen bimmelten vergnügt. Sepps Mund verzog sich zu einem schmalen Strich: »Du kennst doch den Film ›Gettysburg. 1863 – Pickett’s Charge‹. So kommt mir das hier vor. Jeder Blinde mit Ladestock nietet uns da draußen um.«
Rabensteiner entblößte eine Reihe fleckiger Zähne, die in maroden Molaren endete. In puncto Dentalhygiene lag da einiges im Argen. Kein Wunder, dass die Mädels nicht so recht anbissen. »Wir sind in Grainbach, nicht in Gettysburg. Wirst sehen, das klappt.« Rabensteiner strich sein rotes Laiberl glatt. Zur Not würde er selbst einem wütenden Stier die Stirn bieten.
Sonnleitner war ein gewiefter Hund, ein körndlgefütterter Isar-Irokese. Um ihr Ziel ungesehen zu erreichen, bediente er sich einer alpenindianischen Kriegslist. Auf leisen Sohlen schlichen sie durch die friedlich