Intuition, die vielleicht so weiblich nicht war. Sie sprühte förmlich vor Tatendrang: »Guten Abend, Chef. Tatort Friedhof – mal was Neues. Ich möchte nicht pietätlos erscheinen, aber eigentlich könnten Sie den Toten gleich da drüben aufbahren.« Kommissarin Duroc neigte ihr blondgelocktes Haupt in Richtung Leichenschauhaus.
»Nun, erst mal muss unser Kunde noch unters Messer. Auch wenn Todesursache und Todeszeitpunkt ja festzustehen scheinen.« Es sollte jovial und zupackend klingen – kam aber eher abschätzig und von oben herab daher – so schob er hastig nach: »Den Meldedaten nach kommt das Opfer aus einem Nachbarort, Rauholzen. Er wird also kaum hier beerdigt werden, das wäre dann doch ein wenig, hm, makaber.« Die Kriminalkommissarin nickte mechanisch – schien ihm aber nur mit einem Ohr zugehört zu haben. »Der diensthabende Gerichtsmediziner Doktor Bruckmann hat die Leiche untersucht. Tödliche Schussverletzung, unzweideutig. Das Projektil hat, wie sagt man, ins Schwarze getroffen und das Herz perforiert, ja zerfetzt.«
Zwei dunkelblaue Augen mit einer Schattierung ins Grünliche blickten ihn fragend an. »Und die Spurensicherung, haben die schon was für uns?«
Seine Untergebene musste ein hämisches Grinsen unterdrücken. »Ein Biergarten als Tatort, das ist für unseren Ober-SpuSi doch ein gefundenes Fressen. Optimale Arbeitsbedingungen, massig Spuren, noch frisch und bestens konserviert. Ein wahres Schlaraffenland, wenn ich ihn zitieren darf.« Orterer, den Leiter der KTU, würde er sich später noch vorknöpfen.
Reimers blickte sich misstrauisch um, so als ob er jeden Moment einen Angriff aus dem Rückraum befürchtete. Nun, es half alles nichts, er musste das leidige Thema anschneiden: »Was ist mit dem Staatsanwalt, hat er schon das Go gegeben? An einem Tod durch Fremdeinwirkung kann wohl kein berechtigter Zweifel bestehen.« Über Durocs weichgezeichnete Wangen huschte ein Schatten. Wie jeder aufrechte Kripo-Beamte stand sie auf Kriegsfuß mit den Herren und Damen in ihren mit Samt besetzten, schwarzen Roben. »Ehe ich’s vergesse, Doktor Knittelbeck wünscht Sie umgehend zu sehen – offenbar besteht Gesprächsbedarf.« Seine Gesichtszüge verhärteten, seine Haltung versteifte sich. Ausgerechnet Knittelbeck – dieser überkorrekte, pedantische Korinthenkacker. Das bedeutete zweierlei: Ärger und Überstunden. »Und die Fahndung ist raus, nehme ich an? Haben wir schon eine konkrete Spur?«
Duroc hatte ihre Hausaufgaben gemacht und schnarrte wie ein bretonischer Polizeioffizier: »Fahndung läuft, mon Commissaire. Wir suchen nach drei verdächtigen Personen – mögliche Tatzeugen! Und nach einem Wagen – wahrscheinlich mit Tiroler Kennzeichen! Überdies haben wir einen anonymen Hinweis aus der Bevölkerung erhalten.«
Reimers blickte überrascht auf – das war weit mehr als erwartet. Wieso hatte Duroc nicht gleich erwähnt, dass es eine heiße Fährte gab? »Wissen wir, nach was wir suchen, Marke, Modell?«
»Die Ringfahndung steht – aber wir haben verdammt wenig. Nur den vagen Hinweis, dass es sich bei dem gesuchten Fahrzeug um einen Geländewagen handeln … könnte.«
Sein Jagdinstinkt war nun vollends erwacht. Reimers schielte aufs goldumrandete Ziffernblatt seiner Armbanduhr. »Wann kam der Notruf rein? Vor einer Stunde?«
Durocs Blick war hellwach – sie hatte verstanden. »Moment, Chef.« Sie wischte auf dem Display ihres Tablet-PCs herum. »Hmm, per Teamwire kam nichts rein, komisch.«
In Momenten wie diesen nervte Reimers die stets um penible Korrektheit bemühte Art seiner Kollegin. Ungeduldig knurrte er: »Vergiss die exakte Uhrzeit! Seit wann wissen wir von der Karre – und von wem kommt die Info?« Duroc blätterte hektisch in ihrem Notizblock, schlagartig entspannte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht: »Da, ich hab’s. Um 17 Uhr 52 kam der erste Notruf rein. Es hat immerhin 15 Minuten gedauert, ehe die erste Streife vor Ort war.«
»Scheißfeierabendverkehr«, warf Reimers ein.
»Einer der Zeugen will einen Offroader gesehen haben, der mit quietschenden Reifen davonfuhr. Da könnte durchaus eine Koinzidenz bestehen.«
Und ob es da einen Zusammenhang gab – Reimers war sich sicher. »Woher wissen wir das mit dem Tiroler Nummernschild?«
Eine tiefe Querfalte furchte Durocs Alabasterstirn – ihre Miene glich der eines asiatischen Denkers, der nach einer Antwort auf die Frage nach dem finalen Sinn des Lebens suchte. »Das ist merkwürdig, Chef.« Die junge Kommissarin blätterte eifrig in ihrem Stenoblock: »Das ist hier nirgends vermerkt. Die Kellnerin, Irmi irgendwie, hat die Leitstelle kontaktiert und einen Schusswechsel gemeldet. Dass es einen Toten gegeben hat, haben erst die Kollegen von der Streife bemerkt.« Langsam langte es ihm.
»Gut, das können wir alles später klären. Pföderl wird die Tatzeugen eingehend befragen! Kommen wir zum Punkt, bitte!« Duroc hob den Blick – und er meinte darin so etwas wie Unverständnis und Missfallen zu lesen. Doch sein rüder Befehlston zeigte Wirkung, seine Assistentin fasste sich kurz: »Sorry, Chef, aber die Geschichte ist reichlich verwirrend und kompliziert. Die beiden Polizisten haben als Erstes die Kellnerin und die vier anwesenden Stammgäste zum Tathergang befragt. Offenbar hat das Opfer mit drei anderen Männern Karten gespielt. Schafskopf, sagt man so?« Reimers seufzte – Poker, Blackjack oder Schafskopf, das war für die Ermittlungen wohl ohne Belang. »Zwei der Mitspieler waren so etwas wie Stammgäste und mit dem Opfer befreundet, ein Polizeihauptmeister aus Oberaudorf und sein Spezl, bis vor einigen Jahren bei einer Spezialeinheit, SEK oder so. Namen und Adressen haben wir. Der dritte Mann ist dagegen namentlich nicht bekannt – das ist der mit dem Tiroler Kennzeichen.« Reimers rang die Hände, doch die Kommissarin räusperte sich ausgiebig, ehe sie in verschwörerischem Ton fortfuhr: »Jetzt wird es dubios, ja mysteriös, Chef. Wieder fünf Minuten später, um …« Duroc holte sich in ihrem Notizblock die letzte Gewissheit: »… um 18 Uhr 13 erhielt die Leitstelle einen anonymen Anruf. Mit verstellter Stimme und in abgehackten Sätzen hat der Anrufer etwas von einem Amokschützen am Greinbacher Friedhof gefaselt. Der Täter sei mit einem SUV in silberner Metalliclackierung – einem Audi Q3 oder einem BMW X3 – unterwegs. Ohne Angaben zur Person zu machen, hat unser Informant, oder soll ich sagen Denunziant, das Gespräch beendet.«
Reimers blickte erneut auf die Uhr, das war vor einer Dreiviertelstunde gewesen. »Woher kam der Anruf, wissen wir das wenigstens?«
»Aus einer Telefonzelle am Bahnhof in Raubling.« Raubling? Das war mindestens 10 Kilometer von Grainbach entfernt. Der Kommissar fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durch sein noch dichtes, mahagonibraunes Haupthaar. Langsam wurde es kompliziert: ein Geländewagen unten am Gasthaus, ein SUV oben bei der Kirche. Wie passte das zusammen? Es war unwahrscheinlich, dass ihnen der Nobelhobel oder der Furchenflitzer ins Netz ging – dafür war die Beschreibung zu unpräzise. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, brummte er: »Und – haben wir eine Meldung hereinbekommen?«
Duroc hob ihre schön geschwungenen, rostbraun gefärbten Brauen: »Rien, Chef, malheureusement. Sämtliche Streifenwagen wurden umgehend alarmiert, Kontrollstellen an den Ausfallstraßen eingerichtet, die Verkehrsüberwachungscams im fraglichen Bereich haben alles aufgezeichnet. Nur ist nirgends ein SUV, auf den die Beschreibung passt, aufgetaucht. Und Tiroler Kennzeichen, nun ja, die sind bei uns zu Hunderten unterwegs.«
Reimers zuckte mit den Achseln: »Merci, Duroc, gut gemacht. Am Ende rast unser Freund in eine Radarfalle.«
Ein spöttisches Lächeln lag auf den nur leicht geschminkten Lippen seiner Junior-Partnerin. »Schön wär’s! Laisser pisser le mérinos.« Er würde Knittelbeck vorschlagen, die Errichtung einer Soko »Friedhof« oder »Kastanien-Killer« in Betracht zu ziehen. Sollte sich der Staatsanwalt darum kümmern, die notwendigen richterlichen Beschlüsse einzuholen und einige Leute zusätzlich auf den Fall anzusetzen. Arbeit würde es genug geben, sie würden das Zentrale Fahrzeugregister, das ZFZR des Kraftfahrt-Bundesamts, nach einem metallic-silbernen SUV der Marken BMW und Audi durchkämmen müssen. Knittelbeck würde auf der Suche nach einem in Tirol zugelassenen Allrad-Kübel bei den österreichischen Kollegen um Amtshilfe nachsuchen müssen – die würden sich bei den Piefkes bedanken. Doch der Staatsanwalt konnte warten. Ganz oben auf der Prio-Liste stand jemand anders: Fritz Orterer, der Herr der Unterwelt.
Die Ortsnetzstation mit der TH-Nummer 408158 hatte den Netzbetrieb eingestellt. Der Strom war weg – und mit ihm das