nicht lebensgefährliche Schnittverletzungen zugefügt. Akte zu, Klappe dicht. Ein Verfahren, mit dem sich keine Lorbeeren ernten ließen. Die Sackgesichter würden zu zwei, drei Jahren Haft verurteilt werden – und ihr Anwalt Berufung einlegen. Wenn alles so lief wie üblich, wären die beiden in gut einem Jahr wieder frei. Rechtsstaat nannte sich das – Reimers hatte den Gedanken verdrängt und sein Büro im dritten Stock des Polizeipräsidiums Oberbayern-Süd hinter sich verriegelt. Reimers war eben auf sein Rennrad gestiegen, als sein Handy läutete. Er hatte sich mit einem alten Freund von der Uni in einem Café in der Innenstadt verabredet – und sein erster Gedanke war, dass ihn Dirk um Absolution bitten würde, weil es »mal wieder etwas später« werden würde. Die im Fünfvierteltakt groovenden Triolen brachten ihn auf die richtige Spur. Das Dave-Brubeck-Quartett swingte in der Gesäßtasche seiner Cordhose. Da gehörte es definitiv nicht hin – und es bedurfte einiger spastischer Verrenkungen, bis er das Klingelteil am Ohr hatte. Ein schneller Blick aufs Display hatte ihn vorgewarnt – es war nicht Dirk, es war schlimmer: »Haberl ruft an!« Seine Miene hatte sich schlagartig verdüstert. Er mochte Magdalena Haberl, er schätzte sie als Mensch und als zuverlässige, wenn auch manchmal etwas hyperaktive Mitarbeiterin. Nur hier und jetzt war er nicht sonderlich erfreut, ihre immer etwas überdreht klingende Stimme zu hören. Er musste sich mächtig zusammennehmen, um nicht loszupoltern. »Ach nee, ein Mord, ein Attentat? Nach Feierabend, wie schön«, hatte er ins Telefon geknurrt, als er erfahren hatte, dass es »Arbeit« für ihn gab. Dabei hatte sich Reimers auf einen entspannten Abend gefreut – Dirk war ein echter Kumpel, mit dem man ein paar Bierchen zischen, sich genüsslich das Maul über den Werdegang früherer »Freunde« zerreißen und über die Absurditäten einer immer kränker werdenden Gesellschaft philosophieren konnte. Doch aus dem sozialphilosophischen »Kolloquium« würde zumindest heute nichts werden.
Sechs steinerne Stufen führten zur schmiedeeisernen Eingangstür hinauf. Er drückte dagegen und ein Flügel des Türchens schwang mit gequältem Quietschen auf. Der Friedhof von Grainbach war – wenn man das so sagen durfte – ein nettes, sonniges Plätzchen. Die Bewohner waren jenseits von Gut und Böse und schienen keinerlei Anstoß daran genommen zu haben, dass der Mordschütze ausgerechnet hier, an einem Ort des Todes, zur Tat geschritten war. Das Opfer, die persönlichen Daten hatte er gerade nicht parat, war nicht hier, sondern unten im Biergarten des Gasthofs »Zur Linde« gestorben. Die Befragung der Zeugen hatte er seinem Stellvertreter, Kriminaloberkommissar Pföderl, überlassen. Pföderl, den seine Freunde »Barthl« nannten, sprach dieselbe, ihm zum Teil unverständliche, Sprache der Einheimischen. Barthl war ein durchaus fähiger Kriminalbeamter, etwas störrisch, stur und eigensinnig, das ja, aber seinem Vorgesetzten gegenüber verhielt er sich loyal. Da hatte Reimers in seiner Zeit beim LKA in München ganz andere Fälle von Intrigantentum, Mobbing und Heuchelei erlebt. Mit seinen dunkelbraunen Locken, dem markanten Quadratschädel und einem fast südländischen Teint zählte Pföderl zu einem bestimmten Typus Mann, mit dem man verwegenes Draufgängertum und kaltblütige, kühne Entschlusskraft assoziierte. Wäre da nicht die sich unter der Trachtenjoppe abzeichnende Weißbier- und Schweinsbraten-Wampe gewesen, hätte man Pföderl durchaus die Rolle des unerschrockenen Wildschützen und Weiberhelden abgenommen. Reimers musste einräumen, dass der Mundart-Ausdruck »wuider Hund« respektive »Hundling« die Persönlichkeit seines zu unkonventionellen Ansichten neigenden Kollegen treffend charakterisierte. Sein Stellvertreter war in irgendeinem Kuh-Kaff aufgewachsen und wusste, wie die alteingesessenen Bewohner dieses Landstrichs tickten. Ein harter, rauer und verschlossener, wie es hier hieß »hinterfotziger« Menschenschlag, der sich nicht in die Karten schauen ließ. Bartholomäus Pföderl wusste diese dickköpfigen Kerle zu nehmen, er würde erfahren, was zu erfahren war.
Der Kommissar ließ sich Zeit. Um die besondere Atmosphäre des Orts, den Genius loci, einzufangen, schlenderte er mit der ruhigen Gelassenheit eines Friedhof-Flaneurs durch die sich vor ihm ausbreitenden Gräberreihen. Mit einem stummen Nicken grüßte er einen der Beamten des Erkennungsdiensts, der sich anschickte, im Umfeld eines frischen, mit Kränzen, Gebinden und Gestecken überhäuften Grabes nach einem Hinweis auf den Täter zu suchen. Sein Kollege stocherte derweil mit der Penetranz eines Penners in den Müllbehältern herum. Ihm fiel auf, dass der Kies bei jedem Schritt unter seinen Ledersohlen knirschte. Heimlich, still und leise konnte hier niemand herumschleichen. Reimers versuchte zu rekonstruieren, welchen Weg der Schütze genommen hatte, um möglichst unbemerkt zur Nordwestecke des Friedhofs zu gelangen. Dort war er hinter der halbhohen Einfriedungsmauer in Stellung gegangen, um den Biergarten der »Linde« ins Visier zu nehmen. Nummerntafeln kennzeichneten die wichtigsten Fundstellen. Die Spurensicherer hatten bereits jeden Quadratzentimeter abgegrast – nun war ein Fotograf dabei, jedes noch so winzige Detail auf den Speicherchip seiner teuer aussehenden Digitalkamera zu bannen. Nachdenklich strich er sich mit dem Zeigefinger über den dünnen Bartflaum auf seiner Oberlippe. Hatte der Täter das Gewehr dabeigehabt oder hatte er es bereits in der Nacht zuvor hier irgendwo deponiert? Keine 30 Meter entfernt erhob sich die Aussegnungshalle, ein schmuckloser Klinkerbau – und das ideale »Zwischenlager« für die Tatwaffe. Er rief einen der ED-Beamten zu sich: »Moser, sei so gut und schau dir das Gebäude genau an. Meine Vermutung geht dahin, dass der Täter die Waffe in Einzelteile zerlegt und da drin versteckt hat. In einer Abstellkammer, hinter einem Gemälde, unter einer Leichenbahre, was weiß ich. Schau dir auch die Holzverkleidungen und Paneele an.«
»Herr Kommissar, wenn es da drin etwas zu finden gibt, finde ich es.« Moser, ein Mann von mittlerer Größe und rundlicher, untersetzter Statur, watschelte von dannen. In seinem unförmigen Schutzanzug sah er aus wie ein Michelin-Männchen.
Bei einem Schwerverbrechen ging man nach dem erprobten Muster vor – einem hundertmal durchexerzierten Ablaufplan. Das Prozedere war immer das gleiche. Die Aufgaben waren klar verteilt, die Zuständigkeitsbereiche fest umrissen, die Arbeit weitgehend Routine. Ein Schauspiel, das stets in derselben Besetzung über die Bühne ging: Da war der Gerichtsmediziner, der mit kühler Distanziertheit die Leiche auf Spuren von Gewaltanwendung hin untersuchte, der Staatsanwalt, der mit genervter Miene auf und ab stolzierte und per Handy Rücksprache mit dem ermittelnden Richter hielt, die Mitarbeiter der Kriminaltechnik, die Sessellehnen, Bierkrüge und zur Not auch Grabsteine mit Rußpulver bepinselten, um anschließend die Fingerabdrücke per Klebefolie abzunehmen. In gebührendem Abstand zu den Hauptdarstellern war die Komparserie im Einsatz: Sanitäter, Feuerwehrler oder die Jungs vom THW vermittelten stets den Eindruck geschäftiger Betriebsamkeit. Einzig und allein die vom Büro der Kripo verständigten Bahrenschubser hatten es nie sonderlich eilig. Ihr Fahrgast lief ihnen nicht davon. Als leitender Ermittler erteilte Reimers die Regieanweisungen, um die ganze Szene so realistisch und überzeugend zu inszenieren, als ob ein Filmteam mit von der Partie wäre. Unvermittelt musste er grinsen. Jeder »Tatort«-Kommissar hatte sein Script, seine Dialogzeilen, nur er musste sein Drehbuch erst noch schreiben.
»Ah, da sind Sie ja, Monsieur Le Commissaire!« Eine schlanke, schlaksige Gestalt hechelte im Triathleten-Tempo den Steilhang an der Nordseite des Hügels herauf und hüpfte mit der etwas hüftsteifen Eleganz einer aus der Übung geratenen Hürdensprinterin über das Friedhofsmäuerchen. Trotz der modischen, mit einigen Abstrichen in der B-Note nahezu perfekt sitzenden Wanderkluft wirkte ihre Junior-Kommissarin stets so, als ob sie nur notgedrungen »Räuberzivil« trug und einer schick geschnittenen Ausgehuniform eindeutig den Vorzug gegeben hätte. Ihr Blondschopf war kurz geschnitten, die kurzärmelige Outdoor-Bluse und die eng anliegende Stretchhose betonten ihre sportliche, aber durchaus weibliche Figur. Marie-Rose Duroc umgab eine burschikose und doch feminine Aura, die sie auch heute mit einer feinen Parfumnote betonte. Mit ihren weich modellierten Gesichtszügen und dem kleinen neckischen Grübchen am Kinn sah »Rosi« aus wie das flotte, vielleicht noch etwas naive Mädel vom Land. Doch der erste Eindruck täuschte gewaltig. Die Co-Produktion eines auf Eichenholz-Restaurierungen spezialisierten bretonischen Schreiners und einer aus dem Inntal stammenden Vergolderin und Fassmalerin hatte es faustdick hinter den Ohren. In einer lässigen Geste erhob sie ihren Arm zum Gruß. Kriminalkommissarin Duroc war seit knapp zwei Jahren Teil der Abteilung K 1 der Kriminalpolizeiinspektion Rosenheim. Reimers hatte keinen Grund zur Klage, seine »Neue« war weder launenhaft noch kapriziös. »Rosi« war die Gewissenhaftigkeit und Beharrlichkeit in Person, diszipliniert, zielstrebig und umsichtig. An ihrer fachlichen Kompetenz war nichts auszusetzen. Mit ihr hatte er eine akribisch arbeitende Ermittlerin an seiner Seite, die mit unermüdlichem Bienenfleiß