Doch auf den letzten Metern gab es keinerlei Deckung, keinen Baum, keinen Strauch, keine Kuh. »Und was machen wir jetzt, du Schlauberger?«, knurrte Rabensteiner.
Sepp suchte sein Heil als »Büffel«-Beschwörer: »Da vorn, schau, das grüne Graserl. Mmmh, fein, gutti, da gehst hin, gell!« Ein bayerisches Rindvieh ließ sich jedoch kein X für ein U vormachen. Das kurze, kümmerliche Gras, von Unkräutern und Disteln durchsetzt, lockte keine Kuh hinterm Heuballen hervor.
Rabensteiner knuffte den glücklosen Fleckviehflüsterer in die Weichteile: »Lass gut sein. Die Rindviecher sind so blöd ned, wie du Hornochs meinst. Ich sag: Riskieren wir’s!«
»Da rüber, ohne die geringste Deckung? Na, ohne mich. Taktischer Rückzug, sag ich.«
Rabensteiner bedachte ihn mit einem vernichtenden Seitenblick: »Von mir aus, checken wir erst die Lage.« Er warf sich der Länge nach ins Gras und lugte unter den prall gefüllten Eutern durch: »Da drüben rührt sich nix, schau selber.«
»Das ist ja gerade verdächtig! Eine unachtsame Bewegung – und piffalapuff. Abflug, sag ich«, raunzte Sepp.
Rabensteiner war nicht gewillt, klein beizugeben: »Wie denn? Keiner rechnet mit uns, das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite. Du sprintest zu den Mäuerchen, ich geb dir Feuerschutz!« Ehe Sepp weitere Einwände geltend machen konnte, beendete Rabensteiner kurzerhand die Diskussion: »Jetzt hab dich nicht so, du Memme. Dir passiert schon nix.« Rabensteiner nahm die Mauer ins Visier und entriegelte den Sicherungshebel. »Los!«
Er riss die Waffe hoch und stanzte ein unregelmäßiges Lochmuster in den Abendhimmel. Sepp nahm seine kurzen Beine in die Hand und rannte um sein Leben. Jeden Moment vermeinte er, von einer Feuergarbe in Stücke gerissen zu werden. Doch niemand nahm ihn aufs Korn. Urplötzlich ließ der dumpfe Schlag einer Detonation den Boden unter seinen Füßen erbeben. Sonnleitner tauchte nach unten weg und legte eine bildsaubere Bauchlandung in einem frisch verlegten Kuhfladen hin. »So eine Scheiße, so eine verdammte«, fluchte er wie ein Fichtenfiaker. Das würde Ärger zu Hause geben, war sein erster Gedanke. Sein zweiter war, dass jemand eine Sprengladung zur Explosion gebracht hatte, um alle verräterischen Spuren des Anschlags zu beseitigen. Er hatte es geahnt, hatte die Gefahr gerochen! Rabensteiner, dieser trottelige Trotzkopf! Die Angst verlieh ihm Flügel.
Mit zwei, drei katzengleichen Sprüngen erreichte er seinen Mitstreiter, der mit dem Gewehr im Anschlag wie angewurzelt dastand. »Da droben ist alles ruhig, ha? Was ist denn dann bittschön grad’ in die Luft geflogen?«
Rabensteiner sah ihn mit dem wilden, wirren Blick eines Paranoikers an. »Es geht um uns, um unsere Heimat, verstehst? Das ist was Politisches! Der Ehgartner, ein eingefleischter Patriot, ein Wortführer der nationalen Bewegung, und jetzt – schau hin!« Sein Waffengefährte bewegte sich ruckartig wie eine mechanische Puppe. »Ein Fanal! Diese Volksverräter sprengen unser Oberländler-Denkmal.« Instinktiv fuhr Sonnleitner herum. Tatsächlich – eine dunkle Rauchsäule stieg zum weiß-blauen Himmel empor. Hatte ein Terrorkommando den bayerischen Löwen in die Luft gejagt? Vor gut hundert Jahren, noch zu Lebzeiten des Prinzregenten, hatte man zum Gedenken an die Gefallenen des Bauernaufstands anno 1705 ein Ehrenmal errichtet – dort, wo einer der Anführer des Aufstands, der legendäre Schmied von Grainbach, begraben lag. Seitdem thronte ein überlebensgroßer, in Kupfer getriebener Löwe auf einem Sockel aus Steinquadern. Den schwermütigen Blick in die Ferne, gen München gerichtet. Bei der Sendlinger Pfarrkirche waren die Oberländler Bauern in jener Blutweihnacht vor über 300 Jahren regelrecht abgeschlachtet worden. Von säbelschwingenden Mordbuben, in Österreichs Sold. Rabensteiner murmelte wie in Trance: »Dreinschlagen sag ich, die gehören plattgemacht, allesamt …!«
Sonnleitner brüllte ihn Löwen-like an: »Bist jetzt komplett plemplem? Steht die Rauchsäule etwa über dem Friedhof? Nein, sondern über Schönrain. Reiß dich gefälligst am Riemen! Wenn wir nicht sofort von hier verschwinden, machen die Achter klick und wir hocken als Tatverdächtige in U-Haft!«
Die braven Muh-Maiden deckten – ohne auch nur einmal Muh oder Mäh zu machen – ihren Rückzug. Kaum war der erste Schreck verflogen, widmete sich die Damenwelt wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Fettwerden. Sonnleitner entstammte einer weit verzweigten Bauernsippe, daher war er mit den Gewohnheiten der Wiederkäuer bestens vertraut. Mit gutturaler Stimme gurrte er: »Ruhig, Liesl, brav, Rosl, fein, Fleckerl.« Endlich hatten sie das schützende Wäldchen erreicht. Wie eine Kuppel spannte sich ein dichtes Nadelnetz über ihnen. Über denselben Weg, den sie gekommen waren, ging es im Ferkelgalopp bergab. Von fern heulten schon die Martinshörner. Mit Tatütata kam die Blaulicht-Kolonne angerauscht. »Wir müssen uns genau überlegen, was wir aussagen.« Rabensteiner klang kleinlaut: »Da darf es keine Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten geben.« Bei einem Mord dieses Kalibers würde die Kripo schweres Geschütz auffahren. Sie würden ein wasserdichtes Alibi brauchen – und zwar für die Zeit nach der Mordtat. »Unterm Rücksitz hab ich einen Fünfliterkanister gebunkert. Kerschgeist, selbst gebrannt, nur für Notfälle, weißt, zwecks dem posttraumatischen Stress und so.« In Sonnleitners Hirn formte sich ein Plan. Ein Plan von A wie Alibi bis O wie Obstler.
Eichel Sieben
Ewig grüßt das Murmeltier. Hauptkommissar Armin Reimers erlebte das, was man gemeinhin gern als ein Déjà-vu bezeichnete. Im Kopfkino flimmerte ein Streifen mit sich ähnelnden Szenen in Endlosschleife über die Großhirnrinde. Irritiert schloss er für einen Moment die Augen. Das sich munter drehende Bilderkarussell verlangsamte sich und die blitzlichtartig aufleuchtenden Momentaufnahmen verblassten. Das Gefühl, alles schon einmal durchlebt zu haben, war hochgradig verstörend. Ja, es war beängstigend. Es war, als ob er auf dünnem Seil über einen bodenlosen Abgrund balancierte – und jeden Moment abzustürzen drohte. »Es ist wie verhext, immer wieder das Gleiche in Grün. Wieso passiert das ausgerechnet mir!« Vielleicht war es an der Zeit, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Reimers hieb in einem Anflug von Jähzorn auf das Lenkrad ein. »Verdammter Mist, da wirst du ja jeck in der Birne!« Wie es ihm seine Yoga-Lehrerin eingetrichtert hatte, formte er eine Raute vor der Brust und atmete dreimal tief durch. »Ommmmm! Ene Mene muh!« Dann war er bereit. Er tastete nach dem Türgriff und wuchtete sich aus seinem Dienstwagen. Ein optisch unauffälliger Audi A 4 samt Turbo-Triebwerk und Tarnkennzeichen. Kein BMW, es musste schließlich nicht jeder gleich wissen, dass es sich um ein Kripo-Fahrzeug handelte. Der Kommissar blickte sich suchend um. Außer den zwischen den Einsatz- und Löschfahrzeugen herumwuselnden Feuerwehrleuten und den im Föhnwind schaukelnden Absperrbändchen gab es nicht wirklich viel zu sehen. So, das hier war also Grainbach. Die Luft war noch mild und der Abendhimmel von einem fast schon künstlich wirkenden ultramarinen Blau. Die Vorstellung, dass an diesem idyllischen Örtchen ein kaltblütiger Mord geschehen war, erschien ihm surreal. Und das am helllichten Tag. Zwei Kriminaltechniker in weißen Overalls und Plastiküberschuhen waren auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit der Sicherung von Tatortspuren beschäftigt. Mit der akribischen Sorgfalt eines Paläontologen klaubten sie mit Greifzangen Papierschnipsel, Kronkorken und Zigarettenstummel vom Wegrand – und verstauten alle möglichen und unmöglichen Beweisstücke in beschrifteten Folienbeuteln aus Polypropylen. Die mit ihrer Sisyphusarbeit beschäftigten Kriminaltechniker beachteten ihn nicht weiter. Reimers legte den Kopf schief. Der schöne Schein, die glatte Fassade wiegte einen leicht in Sicherheit. Professionalität, Erfahrung waren das eine, ein feines Gespür, ein ausgeprägter Jagdinstinkt das andere, was einen guten Ermittler ausmachte. Jeder Fall war anders gelagert, doch immer ging es im Prinzip darum, das feine Gestrüpp menschlicher Beziehungen und Verflechtungen zu entwirren. Sein Job erinnerte ihn manchmal an den eines Parapsychologen, der mit seinem Echolot geduldig die Untiefen der menschlichen Abgründe vermaß. »Als denn, werfen wir das Senkblei aus« – Reimers gab sich einen Ruck.
Die Sonne hatte ihm den Nachmittag über durchs Bürofenster zugelächelt – und um Punkt halb sechs hatte er den Schlussbericht zur Strafsache mit dem Aktenzeichen 605/Js 4711/16 eingetütet und an den zuständigen Staatsanwalt geschickt. Ein unbequemer, heikler Fall, bei dem im Hinblick auf Flüchtlingsdebatte und Terror-Hysterie ein Höchstmaß an Fingerspitzengefühl gefragt war. In der Flüchtlingsunterkunft Raubling war es zu einem gewalttätigen Übergriff gekommen. Die Täter hatten sie anhand der am Tatort