Dinesh Bauer

Bayerische Hinterhand


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zerlegt. Kiloschwere Betonbrocken lagen verstreut auf Feld und Flur. Zu Schaden gekommen war – der Jungfrau Maria sei Dank – niemand. Nur auf der angrenzenden Weide war eine werdende Muh-Mutter von einem Splitter am Gesäß getroffen worden. Heute würde wohl nur gestöckelte Milch aus ihrem Euter tröpfeln. »Klassischer Kollateralschaden, Herr Hauptkommissar«, konstatierte der zur Bewachung des Unglücksorts abgestellte Beamte. Den Schulterklappen nach war der rotwangige Gebirgs-Gendarm Polizeiobermeister. Dienstbeflissen lüpfte er das rot-weiß-rot gestreifte Flatterband – und Reimers schlüpfte unten durch. »Wissen Sie, wo der Leiter der Spurensicherung steckt, taucht er noch irgendwo hier herum?«

      Der Mann in Grün zog vielsagend die Augenbrauen hoch: »Volles Programm. Das wird heut’ spät! Meinen Stammtischabend kann ich vergessen.«

      Reimers blinzelte dem mindestens 1 Meter 95 messenden Hünen zu. »Mir geht heute ein Chablis Premier Cru mit blumigem Bouquet durch die Lappen. Und mit dem Sundowner an der Alm-Bar wird es erst recht nichts.«

      »C’est la vie. Bis ich heimkomme, liegt meine Freundin auf der Couch und schnarcht gemütlich vor sich hin. Und nix wird es mit der wilden, zügellosen Sexorgie.« Der Polizist lachte glucksend – irgendwie war ihm der Bursche, der in seiner schlecht sitzenden Uniformjacke und den zu kurz geratenen Hosenbeinen nicht gerade eine »bella figura« machte, sympathisch. Um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, umkreiste Reimers das bis auf die Grundmauern zerstörte Gebäude im weiten Bogen. Die Entfernung zwischen dem Friedhof und der Trafo-Station, die jenseits der schmalen Straße lag, betrug Pi mal Daumen 70, höchstens 80 Meter. Der Schuss könnte also von dort drüben gekommen sein und einem fliehenden Fahrzeug gegolten haben. Doch die Kugel hatte ein anderes, unbewegliches Ziel gefunden. Reimers zwängte sich durch eine buschige Hecke und besah sich das Trümmerfeld aus der Nähe. Einer der beiden Schutzanzugträger wühlte geschäftig in dem wirren Durcheinander aus Schalttafeln, Verteilerkästen und bunten Kabelsträngen herum. Alles, was nur entfernt nach einem Beweisstück aussah, wanderte in einen Plastikbeutel mit Zip-Verschluss. Jedes Tütchen bekam einen Aufkleber, der steckbriefartige Informationen zu Fundort und Art des Beweisstücks enthielt. Die andere Gestalt von eher kleinem, um nicht zu sagen zwergenhaftem Wuchs kratzte mit einem spitzen Gegenstand, einem Schraubenzieher oder Stechbeitel, an einem verbogenen Kunststoffblech herum. Unter dem maßgefertigten Schutzanzug zeichnete sich die Wölbung eines stattlichen Ranzens ab, der darauf hindeutete, dass der Spurensucher kein Kostverächter war. Das Zwetschgenmandl, wie man kleinwüchsige Männer hierzulande abklassifizierte, war niemand anders als der Leiter der Kriminaltechnik, Fritz Orterer. Dieser wandte sich an seinen ihn um zwei Köpfe überragenden Kollegen und deutete mit kurzen Stummelärmchen aufgeregt auf einen unförmigen Mauerbrocken, unter dem irgendein Plastikteil begraben lag. Hatte sein Luchsauge etwas erspäht?

      Es war Zeit, an die Pforten der Unterwelt zu pochen. Er kletterte über einen Schuttberg und stützte sich am Skelett der Außenmauer ab. »Schönen Abend, na, pickt ihr euch die Rosinen aus dem Gugelhupf? Was gefunden?«

      Orterer blickte überrascht vom Objekt seiner Begierde auf – ein Lächeln huschte über seine Wulstlippen. »Nur ein paar zerdepperte Überreste der Belüftungsklappen.« Wie ein Reck-Turner schwang er seine Bonsai-Beinchen über den Betonklumpen und hob die behandschuhte Rechte. Die Haube des Schutzanzugs klappte nach hinten und darunter kam ein, vom Haarkranz am Hinterkopf abgesehen, kahler Schädel zum Vorschein. Der Zwillingsbruder von Danny de Vito war sichtlich erfreut, ihn zu sehen. »Ah, Herr Kommissar. Welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte. Was führt Sie zu mir?«

      Reimers machte ein überraschtes Gesicht: »Die Pflicht, was sonst! Die Wahrheit ist’s, die ich zu ergründen suche!«

      Orterers Adamsapfel hüpfte vergnügt auf und ab. »Un peu de patience, die Nornen spinnen noch an des Schicksals Fäden.« Ehe Reimers reagieren konnte, schob der Gnom sein Kinn vor. »Sie wollen wissen, wie ich die Sache sehe, deswegen kriechen Sie hier im Dreck herum, erraten?«

      Wie ein überführter Missetäter kratzte sich der Kommissar an einer schorfigen Stelle am Hinterkopf. »Eine Rekonstruktion des Tathergangs wäre schon hilfreich.«

      »Nun denn.« Der Bericht des Spuren-Spezis war eine Aneinanderreihung kurzer, stakkatoartiger Sätze. »Der Schütze schraubt seine Waffe zusammen, kauert hinter der Friedhofsmauer. Er steckt sich eine Kippe an, Asche rieselt herab. Er legt das Gewehr neben sich in den Kies, späht über den Rand des Mäuerchens. Das Zielobjekt sitzt nichts ahnend im Biergarten – wie festgenagelt, praktisch! Er klappt das Visier hoch, stützt sein Gewehr ab, kneift die Augen zusammen und – kawumm. Meine Leute haben drei Patronenhülsen, Jagdmunition, Standard-Kaliber, eingetütet – was folgt daraus?«

      Reimers hüstelte in seinen schütteren Spitzbart. »Der Täter hat dreimal gefeuert – aber nur einmal getroffen.«

      Orterer schnaufte kurzatmig. »So ist es. Ein Projektil steckt im rechten Hinterreifen eines vor dem Gasthof parkenden Fiat Punto. Der Rostkübel gehört einem Matthias Wachtveitl, vierschrötiger Typ, Marke Räuber Hotzenplotz. Eine Kugel geht ins Blaue. Aber aller guten Dinge sind drei – die Dritte sitzt, die Pumpe platzt. Was folgern wir daraus?« In Orterers Augen blitzte der Schalk.

      Reimers strich sich ums spärlich behaarte Kinn. »Da sehe ich zwei Alternativen. Entweder wir haben es mit einem Sonntagsschützen zu tun, der einen Zufallstreffer landet. Oder einem Profi, der uns nach Strich und Faden verarscht.« Die Äugelein des KTU-Leiters verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. »Ein Täuschungsmanöver? Scusi, das halte ich für abwegig. Unser Attentäter war hochgradig nervös. Er hat die Tat zwar von langer Hand geplant, aber stümperhaft ausgeführt.« Der Kommissar schniefte, es war merklich kühler geworden. Er fror in der leichten, luftigen Freizeitkluft – er hätte sich eine Strickjacke um den Hals schlingen sollen. »Sie hören sich ja schon an wie der Großneffe von Hercule Poirot.«

      Orterer verzog keine Miene, der spöttische Unterton in seiner Replik war allerdings unüberhörbar: »Wir liefern die Fakten, die Kripo den Täter ans Messer! Es ist Ihr Job, die richtigen Schlüsse aus der vorliegenden Kausalkette zu ziehen.« Orterer hatte seine Fäuste kampflustig in die Hüfte gestemmt.

      »Und wie sieht die Ihrer Meinung nach aus?«

      Der Chef-Spurenleser wies mit der ausgestreckten Hand zum Hügel hinüber. »Den Fluchtweg kann ich anhand der Spurenlage mit dem Lineal nachzeichnen: Unser Mordschütze gibt den letzten Schuss ab, steckt sich eine zweite Zigarette an.«

      Reimers überlegte laut: »Er zögert, will sich überzeugen, ob er sein Ziel nicht doch verfehlt hat.«

      Orterer schnippte ein paar Staubpartikel vom Ärmel seines Schutzanzugs. »Nun, vielleicht hat er aber auch auf die Nachricht eines Komplizen gewartet. Mission completed.«

      Die Stirn des Kommissars wellte sich. »Durchaus möglich. Er verstaut sein Gewehr in einer Sporttasche und verschwindet unauffällig vom Tatort.«

      »Falsch«, korrigierte ihn Orterer. »Er hat es plötzlich eilig, er springt auf und rennt los. Bei seiner Flucht hinterlässt er deutliche Vertiefungen im sauber geharkten Kiesweg. Er schlittert die Böschung hinab und steigt in einen frisch aufgeworfenen Maulwurfshaufen.«

      »Ihr habt einen Schuhabdruck?« Reimers war beeindruckt. Die Jungs waren fix. »Gummisohle. Fünf Millimeter Profiltiefe. Ein robuster Bergstiefel, relativ neu oder zumindest selten getragen. Marke und Modell liefern wir nach.«

      Reimers war, was nicht allzu oft vorkam, perplex. Um nicht wie ein Dilettant dazustehen, kam er auf das Fluchtfahrzeug zu sprechen. »Unten an der Straße wartet ein Mittelklasse-SUV, BMW oder Audi auf ihn.«

      Jetzt war es Orterer, der ihn erstaunt musterte: »Parbleu, Kompliment, exakt! In den weichen, noch feuchten Untergrund hat sich das Profil der Pneus gestochen scharf eingestanzt. Selbst für einen Laien nicht zu übersehen. Pfeilmuster mit schmalen Rillen.« Der Meister war sichtlich stolz auf die professionelle Arbeit seiner Techniker-Truppe: »Wir haben Gipsabdrücke genommen. Ich bin zwar kein Spezialist, aber die Reifen waren ziemlich breit – Größe 235/55 R 17, grob geschätzt. Nächste Abteilung Bulldog oder Bagger.«

      Reimers nahm sich vor, Orterer demnächst auf einen Mojito und eine Cohiba in die »Bar