Österreichs nicht wahrnahm. Nicht wahrnehmen wollte.
Im Armenhaus. Dem jahrhundertelangen Armenhaus Österreichs. Immer noch. In vielem.
Sepp Grubinger bemühte sich, als Dorfpolizist alles im Blick zu haben. Nicht strafend. Nein! So etwas mochte er nicht. Er ging auf alle ganz unterschiedlich ein. Kannte ihre Sorgen und Nöte. Half und vermittelte daher, wo er konnte. Verhinderte dadurch oft Übles.
Vor allem aber war Sepp Grubinger gerne hier. Nichts würde ihn wegbringen, aus dem kleinen Dorf Großlichten. Bei Gföhl. Im südlichen Waldviertel. Nicht freiwillig.
Er mochte seine Landsleute. Er verstand sie. Auch ihre Eigenheiten. Ihre Ängste und Sorgen. Manchmal waren die völlig unbegründet. Überzogen. Wirklich nicht nachvollziehbar. Was da manche daherredeten. Im Wirtshaus. Am Sonntag nach der Kirche. Oder am Abend, wenn sie nach ihrer Arbeit noch schnell zum Hannes Lechner einen heben kamen.
Ja, der Hannes. Und sein Wirtshaus.
Gut, dass es ihn noch gab. Denn im Reiterhof von dieser Walli Winzer hatte er seit einigen Jahren zusätzlich ein Haubenlokal eingerichtet. Für die Reichen und Schönen, die aus der Stadt kamen. Weniger für die Einheimischen. Die kamen nach wie vor lieber in sein Dorfwirtshaus und die angeschlossene Bäckerei.
Wenn er nicht gerade einen seiner beliebten Back- und Kochkurse für die Wiener Schickeria abhielt, traf man ihn regelmäßig hinter dem Schanktisch des Wirtshauses an. Dort zapfte er dann Bier für die Großlichtenerinnen und Großlichtener ab. Manchmal gab’s sogar welches für die aus der Hauptstadt. Die verirrten sich zwar selten hierher, aber doch auch. Ihnen schob er dann ein Bier zu. Ein Bier, das aus den kleinen Brauereien im Waldviertel stammte. Von denen es eine Vielzahl gab. Die sogar in Wiener Lokalen immer beliebter wurden.
Der Hannes Lechner war als TV-Starkoch bekannt. Sein Lokal war seit einigen Jahren in Großlichten zur Genussdrehscheibe geworden. Seinetwegen kamen viele Gäste aus der Stadt und vom Land extra ins Waldviertel, um bei ihm kochen zu lernen. Mit gesunden Lebensmitteln, in aller Ruhe. So, wie man jeden Tag auch zu Hause in Ruhe kochen und essen sollte.
Hannes Lechner hatte eine Nase dafür. Für die Kulinariktrends. Für das, was die Menschen wollten, was sie brauchten. Und für die Menschen selbst. Deshalb saßen sie auch gerne im Wirtshaus. Bei ihm. Die aus dem Dorf und die anderen aus der Stadt. Die dort rauswollten. Oder zurückkamen. In ihre Wochenendhäuser.
Manchmal, zu fortgeschrittener Stunde, sprachen sie sogar miteinander. Das hatte der Sepp Grubinger schon beobachtet, wenn er beim Hannes saß und mit seinen Landsleuten sprach. Ein bisschen. Was sie denn dachten und was sie innerlich bewegte. In Zeiten wie diesen. In so unbestimmten. Bereits illuminiert vom Wein. Aus dem Kamptal. Aus dem Kremstal. Manche mehr, andere weniger. Da, im südlichen Waldviertel.
Im Wirtshaus bekam Grubinger den Puls der Zeit mit. Meistens. Vor allem nachdem sie sich alle fallen ließen. Am Abend. Beim Wein. Zurücklehnen, entspannen, genießen, zu dem manch gutes Tröpfchen ihnen verhalf. Beim Zusammensein. Und dann doch jeder für sich.
Aus solchen Gesprächen bemühte sich Sepp Grubinger das Richtige abzuleiten. Er für sich. Auch für die anderen. Meist hatte er recht. Im Weiteren, wenn sich etwas zuzuspitzen begann. Oder wie in letzter Zeit: als Morde geschahen. Hier. Wo sonst nie etwas passierte. Wo alles ruhig war. Weil nur wenige hier heraufkamen.
Dabei bot sich so viel an. Burgen und Schlösser, die in der Vergangenheit des Waldviertels, in der ganz alten Zeit der Kuenringer, also im Mittelalter, eine wichtige Rolle gespielt hatten. Auch ganz oben. An der tschechischen Grenze. In Gmünd. In Groß-Siegharts. An der bekannten Textilstraße.
»Sepp, hallo! Was machst du denn da?«, wandte Harry Kain sich dem Dorfpolizisten zu und freute sich über sein Kommen.
Sepp Grubinger musste sich erst gedanklich ordnen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Harry ihn so rasch bemerken würde.
Harry Kain hatte die Kettensäge inzwischen beiseitegelegt und sich die Hände an seinen Jeans abgewischt. Grubinger hielt ihm die Hand zum Gruß hin. Mit ausladender Männergeste schlug er freundschaftlich ein.
»Warst lang nicht da!« Die beiden standen einander gegenüber.
»Es hot si afoch net ergeben. I hob’s öfter vorg’habt. Sonst gab’s kan Grund«, räumte Grubinger Bedenken aus.
»Ja, aber jetzt bist einmal da«, grinste Harry und stemmte seine Hände in die Hüfte.
Sepp Grubinger blickte kurz auf den zerteilten Baumstamm, um sich danach wieder Harry Kain zuzuwenden: »Sag, warum mochst du die Arbeit allein? Wo is denn der Franz, der dir sonst hilft?«
»Der holt g’rad die Walli Winzer vom Bahnhof ab. Die hat ihr neues Auto noch nicht, das sie sich vor Wochen beim Gföhler Autohändler bestellt hat. Heute ging das alte auch noch kaputt. Daher kommt sie mit der Bahn aus Wien.«
»Die hab ich ja auch schon lang nicht mehr g’sehn! Was kauft sie sich denn?«
»Einen Elektro.«
»Was für einen?«
»Einen Tesla Model S.«
»650 Kilometer weit kommt man aktuell mit einem Tank Strom. Also schon mehr als im Vorjahr.«
»Und wieso weißt du das? Interessierst dich doch sonst nicht für so was. Du mit deinem Moped!«
»Bei der Polizei, reden s’ halt auch. Wollen mit gutem Beispiel vorangehen. Wegen Klima und so. Trotzdem müss’ ma noch, wenn notwendig, schnell damit unterwegs sein können. Zum Unfallort. Zum Tatort. Is ja schließlich ein Einsatzfahrzeug und keine Freizeitkarosse. Wird also noch einige Zeit Diesel bleiben, vermute ich. Und a so teures Auto kriag ma sowieso net.«
Harry Kain war erstaunt: »Bin überrascht, dass du dich damit auskennst.«
»Bleibt mir nix anderes übrig. Wenn i in der Bezirksinspektion in Gföhl bin, hör i nix anderes. I hab das G’fühl, die freuen sich schon alle über die Neuanschaffungen. Ja, aber mir is des eh wurscht. Bis des alles zu mir kommt, is des eh schon wieder veraltet.«
Harry lachte laut: »Jetzt wart erst einmal, bis er da is. Aber i glaub, du fährst trotzdem mit deinem Moped weiter. Auch wenn das tollste Auto vor deiner Tür steht.«
»Du, i bin froh, wenn i in ka Auto einsteigen muass. Warum auch? I hab alles gleich vor der Tür. Die Natur zum Spazierengehen. Zu die Nachbarn und zu eich in den Ort geh i zu Fuß. Zu meine Kinder in den Nachbarort: Jo, da foarn die Resi und i mit’n Auto. Sie wü net mit’n Moped foan.«
»Jo, da versteh i sie. Wie soll man da was transportieren können?«
»Eben. Und sie kocht und backt ja so gerne. Bringt den Kindern vül mit. Sag, was mochst’n sonst imma a so?«
»Du, was anfällt. Herumtelefonieren, recherchieren oder wie du siehst: Holz schneiden.« Harry Kain lachte selbst über seine Ausführung.
»Geh, wann’s amoi plaudern möchtest, komm doch bei uns vorbei. Oder beim Hannes.« Irgendwie hatte der Dorfpolizist das unbestimmte Gefühl, dass Harry Kain ein wenig Geselligkeit guttun könnte.
»Du, Grubinger, in a paar Tagen vielleicht. Jetzt muss i mi nach dem Holzschneiden hinters Telefon setzen und jemanden finden, der mir was übers Stricken, Sticken und übers Weben erzählt und si damit auskennt.«
Sepp Grubinger lachte spontan laut auf. Der Kain und stricken?, dachte er. Das musste doch ein Witz gewesen sein. Ein besonders lustiger, wie er dazu fand.
Abwartend schaute Harry Kain den Polizisten an: »Sepp! Geht’s dir guat? I mein das ernst. Ich brauch das für meinen nächsten Artikel. Den schreib i wieder für das ›Griaß di‹-Magazin. Es geht um hochwertige Textilproduktion im Waldviertel. Und dass die in der Vergangenheit immer mit bitterer Armut verbunden war. Also, ich möcht da den sozialen Hintergrund a bissl besser herausarbeiten. Aber jetzt muss i erst einmal wissen, wie Textilien überhaupt hergestellt werden und wurden. Da bin ich erst am Anfang meiner Recherche.«
»Verstehe.«
»Sag,