(Die Einblicke in die Notiz- und Skizzenbücher, die viele Künstler*innen während der Corona-Krise über ZOOM gewährten, scheinen hier für die nächste Zeit ein fruchtbares Quellenmaterial zu bieten.)43 Zu achten wäre hier darauf, den Prozess zumindest dort nicht zu privilegieren,44 wo das vorherrschende Dispositiv der szenischen Künste auf absehbare Zeit doch an einem Ergebnis orientiert ist – mag man es Aufführung, Performance oder Show nennen. In diesen sind Texte zu hören, manchmal zu sehen, manchmal werden sie währenddessen prozessual entwickelt. Wie diese Texte in sich und in ihrem szenischen Zusammenhang funktionieren ist mindestens ebenso wichtig wie der Prozess ihrer Entwicklung.
Zu fragen wäre immer nach dem Zusammenhang der beiden Ebenen, wie es zahlreiche Beiträge dieses Bandes tun. Handelt jede Stück- und Textentwicklung in der Erarbeitung und Probe doch auch das dramaturgische Prinzip aus, das der Aufführung, der Performance oder der Show letztlich ihre Struktur gibt.45 Für Rimini Protokoll etwa heißt das, um auf das einleitende Beispiel zurückzukommen: »Erst, wenn der Rechercheprozess beendet ist, wird klar, wonach gesucht worden ist«46. Auf ähnliche Weise muss für jede Produktion nach dem Status von Text und den besonderen künstlerischen Verfahren seiner Hervorbringung gesucht werden, im Probenprozess oder im Resultat oder in deren Wechselverhältnis. »Es kommt darauf an, wie die Texte entstehen«47, sagt René Pollesch 2005 zum damaligen Volksbühnen-Chefdramaturgen Carl Hegemann und ist sich sicher, dass diese Art der Entstehung sich in der Beschaffenheit des Texts niederschlagen wird. Produktionen aus den ersten 20 Jahren des 21. Jahrhunderts, insbesondere aus der Gießener und Hildesheimer Schule sind hier besonders dankbare Analyseobjekte, weil sie die Aufführung oft als eine Art Dokumentation der Probenarbeit begreifen und diese ebenso reflektieren wie oft sprachlich auf den Bauplan der vorgeführten performativen Anordnung verweisen. She She Pop nennen diese den Abend sprachlich erklärenden Passagen plastisch-plakativ »Erklärbären«48: Diese nehmen das Publikum mit in die immer auch sprachlichen Versuchsanordnungen, die eine She She Pop-Performance ausmachen.
In den Probenprozessen werden nicht zuletzt die Arten und Weisen verhandelt, mit denen eine Produktion sich zur Realität und zum Realen außerhalb der Proben einerseits in Verbindung setzt und andererseits von ihm abgrenzt. Prozessual erzeugte TogetherTexte in den szenischen Künsten entstehen nicht im luftleeren (Proben-)Raum, sondern in Anlehnung an und Differenz zu den vielfältigen Verfahren und Vorgängen der Texterzeugung außerhalb des Theaters und seiner Institutionen. An Sprache als einem sozial hergestellten und reproduzierten Material arbeiten sie sich ab, an den an diesem Sprechen hängenden Utopien ebenso wie an den Dystopien. Erneute Prominenz hat im 21. Jahrhundert das (romantisierende) Bild erlangt, mit dem Hannah Arendt in ihrer politischen Theorie Mitte des 20. Jahrhunderts gegen alle gerade vergangenen Katastrophen der modernen Gesellschaft und im Angesicht der aufziehenden Verwerfungen des Konsumkapitalismus ein demokratisches Gemeinwesen als szenischen TogetherText imaginiert: als eine Szene unserer sich ständig erneuernden Auftritte in sprachlichen Exponierungen vor den anderen. Über unsere Sprache enthüllen wir uns voreinander und verweben unsere Geschichten miteinander; das gemeinsame ›Herumtexten‹ wird so zur Verwirklichung einer nur in der Vielfalt des aneinander gerichteten Sprechens erreichbaren Autonomie.49 Demgegenüber sieht Paolo Virno Arendts Utopie in einer kapitalistisch durchgestalteten globalen Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts in ein Schreckensszenario verkehrt: Unsere ständige Selbstpräsentation vor anderen in einem Dauerkommunikationsmodus, der nach ständig neuen Anschlüssen und Verbindungen sucht, erzeugt in erster Linie unseren Marktwert: ein ebenfalls szenischer TogetherText des gemeinsamen ›Herumtextens‹ als eines ökonomischen Zwangs, der jeglicher politischen Handlungsfreiheit verlustig gegangen ist.50 Die dunkle Seite dieses Zwangs zeigt sich im 21. Jahrhundert nicht zuletzt in der Zunahme der vielstimmigen, aber kaum je mehrstimmigen Sprachen des Ressentiments, der Phobien und der klar bestimmbare Grenzziehungen imaginierenden Phantasmen: in der Zunahme von sprachlichen Äußerungen, welche die bestehende Vielstimmigkeit mit ihren Brüchen, die Ausgesetztheit an die anderen und prozessuale Dimension, in der wir diese Ausgesetztheit verhandeln, schlicht verleugnet oder verwirft. Die prozessual erzeugten Texte der szenischen Künste der Gegenwart, um die es dem vorliegenden Band zu tun ist, sind nicht zuletzt Gegenentwürfe zu solchen Verleugnungen und Verwerfungen – auch und gerade dort, wo sie sie überspitzen und manchmal ad absurdum führen.
V. Dank
Dieser Band geht auf eine Tagung zurück, die als Kooperation der Professur für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt Theaterforschung an der Universität Hamburg, der Hamburger Theaterakademie und dem Internationalen Zentrum für schönere Künste Kampnagel im Januar 2019 auf dem Gelände der Hamburger Kampnagel-Fabrik stattfand. Künstlerische Inputs und Lecture Performances gab es von Antje Pfundtner in Gesellschaft, Monika Gintersdorfer und Franck Edmond Yao, Signa und Arthur Koestler sowie einem Seminar des Hamburger Masterstudiengangs Performance Studies unter Leitung von Noah Holtwiesche.
Herzlich danken wir neben allen Beiträger*innen und Beteiligten Kampnagel (hier vor allem Alina Buchberger, Amelie Deuflhard, André Huppertz-Teja, Nadine Jessen und Uta Lambert), Ergün Yagbasan und dem Peacetanbul sowie Ewelina Benbenek, Franziska Fleischhauer, Noah Holtwiesche, Marvin Müller und Sophia Koutrakos für die Organisation der Tagung. Achim Rizvani danken wir für die Idee für Flyer und Buchcover und für inhaltliche Beratung. Mirjam Groll, Sophia Hussain und Sophia Koutrakos haben die Drucklegung dieses Bandes unterstützt.
Mit allen Genannten und hoffentlich noch vielen mehr soll es weitergehen mit der Forschung zu Texten und Sprechakten in Theater, Performance und weiteren szenischen Künsten der Gegenwart: zu recherchebasierten Texten, assoziativ entstandenen Texten, im szenischen Raum improvisierten Texten. Es soll weiter um TogetherTexte gehen: um in gemeinsamen Probenprozessen im physischen oder digitalen Raum erzeugte Texte oder in fiktiv sozialen Räumen unter Beteiligung des Publikums entstandene, in Stückentwicklungen und beziehungsweise oder in anderen Verfahren hervorgebrachte Texte, die die szenischen Künste auf die brüchige und uneinheitliche Vielstimmigkeit und Vielsprachigkeit der Welt außerhalb ihrer Schutzräume öffnen, ohne dabei diesen Schutz für das künstlerische Experiment, auch das Experiment mit der Sprache, aufzugeben.
1Gemeint sind mit der Öffnung zu nichtprofessionellen Beteiligten solche, die jedenfalls in Bezug aufs Theater Laien sind, aber oftmals Expert*innen (wie etwa bei Rimini Protokoll) einer anderen Profession (etwa Soziologie oder Klimawissenschaft). Sie sollen hier nicht generell amateurisiert werden.
2Wir beziehen uns hier auf die bekannte Metapher von Roland Barthes vom Text als »Gewebe«: »Text heißt Gewebe, aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat […] betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein beständiges Flechten entsteht.« Weniger geht es uns jedoch darum, inwieweit solch ein Text »sich selbst bearbeitet« und die Instanzen seiner Hervorbringung im Gewebe der verwendeten Zitate dabei »[auf]löst« (Barthes, Roland: Die Lust am Text, übersetzt aus dem Franz. von Traugott König, Frankfurt a. M. 1974, S. 94). Vielmehr sind die unterschiedlichen Sprechorte, Sprechinstanzen und Verfahren von Interesse, die diese Texte zusammenbringen, sowie die Spuren, die dies in etwaigen Resultaten hinterlässt.
3Gemeint ist damit zum einen eine »Kollektivität, die ihre Freiheit in einer Sprache oder einem Set von Sprachen ausübt, für die Differenz und Übersetzung irreduzibel sind« (Butler, Judith/Spivak, Gayatri Chakravorty: Sprache, Politik, Zugehörigkeit, übersetzt aus dem Englischen von Michael Heitz und Sabine Schulz, Zürich/Berlin 2007, S. 43). Ebenso gut kann es aber zum anderen um die Verfugung und Ausstellung agonaler Momente gehen. Vgl. Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, übersetzt aus dem Englischen von Richard Barth, Bonn 2015.
4Vgl. z. B. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 268f., S. 444f.; vgl. Wortelkamp, Isa: Sehen mit dem Stift