entziehen konnte, hat sie wohl ziemlich viel unternommen, um ein paar fette Brocken für die nächste Beichte zu haben.
Tante Hety, wie sie sich nannte, wohnte mit ihrer Familie in Mülheim, in einem Reihenhaus mit Gärtchen und, vor allem, einem Zaun. Ihr größtes Bestreben war nämlich, das, was ihr gehörte, vor zudringlichen Händen oder nur schon Blicken zu schützen. Der gewisse Charme, den sie von ihrer jugendlichen Leichtlebigkeit noch in ihr betuliches Eheleben hinübergerettet hatte, verschwand schlagartig, wenn Gefahr drohte, daß sie etwas mit jemandem teilen sollte. Wir waren natürlich Hauptdarsteller in dieser »Jemand«-Gruppe, da wir ja buchstäblich nur das mitgebracht hatten, was wir drei mit unseren Händen tragen konnten und was meine kleine Schwester gnädig in ihrem Kinderwagen geduldet hatte. Und so kenne ich Tante Hedwig eben eher von ihrer dezidiert uncharmanten Seite, wobei mir eine ihrer Strategien unvergeßlich geblieben ist:
Wir waren hie und da zu Geburtstagen bei ihr eingeladen. Ich war dann immer altersmäßig gewissermaßen in einer Beletage: Weder gehörte ich wie meine Schwester, Ingo und Vera zu den »Kindern«, noch war ich groß genug, um bei den Großen zu sitzen. Aber wenn ich mich entscheiden mußte, dann schon eher die Großen, denn dort gab es meistens etwas zu erfahren, zu staunen – oder zu essen. Letzteres zieht sich durch meine Jugend wie ein roter Faden: Die Suche nach Essen wurde fast zur Obsession. Hunger macht käuflich, und so fand ich denn hie und da meine Tante Hety gar nicht so schlecht, weil sie gut Kuchen backen und ebenso gut Aufschnittplatten dekorieren konnte. Die Sympathie endete jedoch jedes Mal abrupt, wenn ihre Strategie zum Zuge kam. Und das ging so: Während ich noch an irgend etwas kaute und in Gedanken schon die nächste Schnitte oder, noch viel besser, das nächste Stück Kuchen ins Visier nahm, lud sie sich mit einer an Professionalität grenzenden Präzision die noch gefüllten Platten auf den linken Arm und marschierte in Richtung Tür. Dort drehte sie sich zu uns um, lächelte eine Mischung aus Scheinheiligkeit und Triumph, und sagte: »Oder wollte noch jemand etwas?« Unnötig zu betonen, daß sie an der Antwort keineswegs interessiert war, denn selbst wenn es noch jemandem – hauptsächlich mir – eingefallen wäre, todesmutig mit »Ja, ich!« zu antworten, hätte man das nur noch an die bereits von außen geschlossene Zimmertüre adressieren können. Nach der Zeit, die sie brauchte, um in der Küche das ihren Gästen Vorenthaltene wegzustellen, war sie wieder da – jetzt ganz entspannte Gastgeberin.
Ganz wenige Male nur ist ihr Timing nicht so gut gewesen, das heißt, ich war gerade nicht am Kauen, wenn sie ihre berühmte Frage stellte, und daher parat, ihre Strategie zu durchkreuzen, indem ich blitzschnell mit »Ich!« antwortete. Ich würde erst viel später lernen, daß rhetorische Fragen keine Antworten vorsehen. Sie kam dann jeweils zurück, schnitt das möglichst kleinste Stück Kuchen ab, das sie unwillig auf meinen Teller gleiten ließ, und begleitete diese schmerzhafte Tätigkeit mit vielen netten Bemerkungen über Kinder, die zuviel essen, oder fragte mich ganz direkt: »Mein Gott, Kind, kriegst du denn nie genug?« Die Antwort wäre ein klares Nein gewesen; ich war immer hungrig. Und eines Tages durfte ich das auch bei ihr unter Beweis stellen.
Es war im Sommer, denn ich weiß noch, es gab Obstkuchen und Vanille-Pudding mit Früchten. Mein amerikanischer Onkel war da, und mit ihm lernen Sie jetzt das letzte Mitglied der Familie meines Vaters kennen. Wir wollen mal nicht damit anfangen, über seinen Charakter zu reden – den hat nämlich keiner so richtig ergründen können, ebensowenig wie die Quelle seines Einkommens. Dieser Onkel imponierte zuerst einmal durch sein Äußeres: groß (im Gegensatz zum Rest der Familie), ausgesprochen gut aussehend, braun gebrannt, mit einer gewissen Eleganz des fülligen Körpers. Dazu kamen ein stark amerikanisch gefärbtes Deutsch, ein schneller Humor, dem nichts heilig war, und, das Wichtigste: ein weißer Cadillac! Man muß sich das mal vorstellen: Nachkriegsdeutschland in der Zeit zwischen Kapitulation und Währungsreform, wo es nichts zu kaufen gab, was wert war, gekauft zu werden – und dann steht da plötzlich ein weißes Cadillac-Cabriolet vor der Haustüre.
Fritz hatte offenbar als junger Mann genug gehabt von seiner komischen Familie und war ausgewandert. Die längste Zeit wußte gar niemand, wo er war – seine Sehnsucht nach den Familienbanden war so klein, daß er es nicht für nötig gehalten hatte, seinen Aufenthaltsort bekannt zu geben. War es ein schlechtes Gewissen, oder war er so beeindruckt von dem, was sein Herkunftsland während des zwölfjährigen Nazi-Grauens durchgemacht hatte? Plötzlich jedenfalls verspürte er das Bedürfnis, diesem Land einen Besuch abzustatten, und eines Tages stand er da. Wann war das? Ende 1946 oder schon 1947? Ich weiß es nicht mehr, aber auf alle Fälle habe ich diesen Onkel als das Positivste gespeichert, was in der Familie meines Vaters existierte.
Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen brachte er wunderbare Dinge mit wie Kaffee, Schokolade und Nylonstrümpfe. Ich komme aus einer kaffeesüchtigen Familie – eine Sucht, die sich auf mich übertragen hat –, und meine Mutter war jeweils bester Laune, wenn sie, wie man das zu der Zeit nannte, »echten Bohnenkaffee« bekam, im Gegensatz zu dem grauenhaften Gebräu, das wir sonst tranken. Zum anderen entstand sehr schnell eine Bindung zwischen Uncle Fred und dieser Berlinerin, die einen Hauch von Großstadt in die Familie gebracht hatte, die einen Berliner Sinn für Humor besaß und über seine Familie ähnlich dachte wie er. Im Gegensatz zu seiner jüngsten Schwester war er ausgesprochen großzügig, und seine Dollars konnten zu jener Zeit Dinge kaufen, die offiziell gar nicht zu haben waren – jedenfalls nicht für Reichsmark.
Unvergeßlich ist mir dieser Onkel geworden, als es wieder einmal einen Familienanlaß bei Tante Hety gab, den er großzügigst finanziert hatte. Es war von allem mehr als genug da, und die Tante überlegte sicher schon, wieviel sie von diesem Überfluß für ihre Familie abzweigen konnte. Es kam also wieder der Moment, wo sie mit viel Geschick die noch gut gefüllten Platten auf ihren linken Unterarm stapelte und zur Tür hastete. Sie drehte sich um, um mit diesem falschen Lächeln auf dem Gesicht einmal mehr zu fragen, ob noch jemand etwas wollte, kam aber nicht dazu. Entweder hatte Uncle Fred das enttäuschte Gesicht seiner Lieblingsnichte entdeckt oder er hatte einfach genug von diesem Geiz. »Hedwig!« dröhnte seine Stimme, »stell das sofort wieder auf den Tisch!« »Aber ja doch, natürlich«, säuselte sie, und unter ihren entsetzten Blicken kam ich gerne und ausgiebig der Aufforderung von Uncle Fred nach, zuzugreifen, solange ich wollte. Natürlich habe ich den Triumph zu lange ausgekostet – mir wurde irgendwann einmal an diesem Nachmittag furchtbar schlecht. Aber da waren wir schon auf dem Heimweg, und Tante Hety hat diesen Teil der Geschichte nie erfahren.
Uncle Fred war, glaube ich, dreimal in Duisburg und sorgte bei uns für goldene Stunden in einem ansonsten tristen Dasein. Mit jedem Mal sah er weniger von seiner Familie und mehr von uns, wobei er das angespannte Verhältnis zu seinem Bruder in Kauf nahm. Er adressierte auch die seltenen Briefe, die er aus Florida schickte, an uns, mit der Aufforderung, den Inhalt den anderen mitzuteilen, falls wir Lust dazu hatten. Dann aber kamen auch die nicht mehr, und Uncle Fred verschwand aus meinem Leben so plötzlich, wie er darin aufgetaucht war. So märchenhaft sein Auftreten auch gewesen war, ich habe nie das Bedürfnis gehabt, nach ihm zu forschen. Er kam mit materiellen Gütern aus dem Land der unbegrenzten Eßwaren, und er ließ uns erahnen, was das Wort Glamour, das damals mit den ersten Hollywood-Filmen in den deutschen Wortschatz eingeschleust wurde, bedeuten könnte. Für mich wird er immer mit dem denkwürdigen Anlaß bei Tante Hety in Erinnerung bleiben, und ich danke ihm noch posthum, daß er mich für all die Male gerächt hat, wo sich die noch vollen Platten und Schüsseln unter meinen entsetzten Blicken in Richtung Küche der Tante bewegten.
So, nun kennen Sie die ganze Familie väterlicherseits, und vielleicht begreifen Sie jetzt, warum ich im ersten Kapitel zu Vorsicht bei der Wahl der Eltern gemahnt habe. Falls Sie hoffen, daß das besser wird, wenn wir endlich wieder in Berlin sind und ich Ihnen die Familie mütterlicherseits vorstellen kann, muß ich Sie enttäuschen: Die beiden Familien stehen sich in nichts nach, was Hilfe und Zuwendung in schwierigen Zeiten betrifft, und es macht keinen großen Unterschied, ob sie aus Bigotterie oder krankhaftem Geiz gehandelt haben wie die Duisburger oder aus Egoismus und Desinteresse wie die Berliner. Aber noch sind wir in Duisburg, wo wir bis 1955 bleiben werden – und da sind noch viele Dinge passiert, die nichts mit diesen enttäuschenden Familienmitgliedern zu tun haben.
Ich war nicht die einzige, die hungrig war, aber Hunger hat bei mir immer etwas ausgelöst, was meine Umwelt nicht ignorieren konnte: Ich werde ziemlich schwierig, wenn mich der Hunger überfällt.