ich in vielen Belangen sein kann, wenn ich hungrig bin, ist mit mir nicht zu spaßen. Zu diesem Lernprozeß gehört auch, daß man mir nie etwas versprechen sollte, was nicht gehalten werden kann. Aufs Essen bezogen, bedeutet das, daß man mir zum Beispiel nicht in Aussicht stellen darf, nach einer (sportlichen) Anstrengung in ein bestimmtes Restaurant einzukehren, ohne vorher zu überprüfen, ob dieses Restaurant an dem Tag auch offen hat. Denn wehe, wenn es geschlossen ist, wie das mal passiert ist! Dann bricht für mich eine Welt zusammen. Und das, obwohl ich viele Male Heilfasten-Kuren bis zu zwanzig Tagen durchgeführt hat, dabei voll gearbeitet und nicht gelitten habe. Darin liegt eben der Unterschied: Wenn ich selbst bestimme, daß Essen kein Thema ist, ist das eine Sache; wenn jemand anders das für mich übernimmt, wird es dramatisch.
Immerhin hatte mein Hunger damals einen seriösen Grund: Ich wuchs sehr schnell und war dabei sehr dünn. Aufgrund unserer Wohnverhältnisse mußte ich wiederum mit meiner Mutter das Bett teilen, und so dauerte es nicht allzu lange, bis sie herausfand, daß ich nachts stark schwitzte. Ich hatte Kinder-Tbc. Meine inneren Organe hatten mit dem Wachstum der äußeren Hülle nicht Schritt gehalten, und meine Lunge hatte mir mein schnelles In-die-Höhe-Schießen übel genommen. Immerhin bedeutete das, daß wir eine Zeitlang extra Rationen Milch, Butter und andere Eßwaren vom städtischen Gesundheitsamt bekamen, um mich aufzupäppeln. Nach einer Weile beruhigte sich die Lunge wieder; irgendwann einmal hatte ich dann keine Tuberkulose mehr. Eine Weile blieb noch die Angst, daß diese Krankheit zurückkehren könnte, aber dann hat niemand mehr daran gedacht. Erst Jahre später, als ich meinen Auswanderungsantrag nach den USA stellte, sollte ich nochmals beunruhigt sein, denn etwas, wovor die Amerikaner panische Angst hatten, war jede Art von Lungenkrankheit. Die Röntgenaufnahmen zeigten zum Glück nur noch Narben, und die zwar auf meinem Antrag vermerkt, aber kein Hinderungsgrund für mein Visum waren.
Duisburg war gewöhnungsbedürftig, in jeder Hinsicht. Es blieb uns jedoch nichts anderes übrig, als uns wiederum mit einer neuen Umgebung auseinanderzusetzen. Das fällt einem Kind natürlich leichter, aber meine Mutter litt sehr. Tatkräftig wie sie war, versuchte sie, dieses Leiden zu mindern, und eines Tages war es dann soweit: Wir gingen für einen Kurzbesuch nach Berlin. »Wir« hieß: meine Mutter und ich. Und »gingen« ist nicht einmal das falsche Verb, denn ein Teil dieser Reise mußte zu Fuß zurückgelegt werden: Wir gingen nämlich über die sogenannte Grüne Grenze. Offiziell war uns der Besuch von Berlin untersagt; die Russen hatten sämtlichen Absichten von ehemals Evakuierten, nach Berlin zurückzukehren, einen Riegel vorgeschoben. Und so hatte sich schnell ein Schlepper-Geschäft entwickelt, das Menschen, die nach Berlin wollten – für immer oder nur zu Besuch –, diesen Wunsch erfüllten. Keine Ahnung, was meine Mutter dafür gezahlt hat – viel kann es nicht gewesen sein, aber was immer es war, sie muß es sich buchstäblich vom Munde abgespart haben. Und die Schlepper von damals unterschieden sich nicht von den Menschen, die dieses schmutzige Geschäft heute betreiben: Das Geld mußte selbstverständlich im voraus gezahlt werden, eine Garantie gab es ebenso selbstverständlich nicht, und bei Entdeckungsgefahr verzogen sich die »Führer« selbstverständlich sofort. Bis zur Grenze konnten wir einen Zug nehmen; ab einem gewissen Punkt jedoch ging es nur noch zu Fuß weiter. Wir mußten lange und im Dunkeln über Felder und durch Wälder laufen, um dann irgendwann in der Umgebung Berlins zu landen.
Das Ganze war sowohl aufregend als auch anstrengend. Aber die Aussicht, Berliner Luft zu schnuppern, die ja gemäß der Legende besonders anregend sein soll, ließ uns die Anstrengung vergessen. Die Ansicht unterschied sich jedoch dann erheblich von der Aussicht: Wir standen vor dem inzwischen total zerstörten Haus in Wilmersdorf, in dem ich die ersten vier Lebensjahre verbracht hatte, durchsuchten den Trümmerhaufen nach Brauchbarem und weinten uns die Augen aus dem Kopf.
Man sollte meinen, daß eine dieser Erfahrungen genügt. Dem war aber nicht so. Ein Jahr später probte meine Mutter nochmals den Aufstand bzw. die Flucht, und ich bin sicher, es hätte noch ein drittes oder viertes Mal gegeben, wenn ich nicht auf der zweiten Reise im Dunkeln auf einen Frosch getreten wäre! Der Frosch sprang vor mir in Gesichtshöhe auf, und ich ließ einen entsprechenden Schrei aus meiner jugendlichen Kehle. Laut genug, um die patrouillierende Grenzpolizei auf unseren kleinen Trupp aufmerksam zu machen. Nur mit größter Mühe ist es uns gelungen, trotzdem unentdeckt zu bleiben. Offenbar hat meine Mutter danach unsere Sicherheit ihrer Heimwehbewältigung vorgezogen; sie würde allerdings noch acht Jahre warten müssen, bis sie, ganz legal und per Zug, ihrem Heimweh ein Ende machen konnte.
Wenn ich je jemanden aus meiner Schulzeit träfe...
Je berühmter man wird,
desto mehr Schulfreunde trifft man.
Franklin D. Roosevelt
Also, wenn die zweite Zeile von Roosevelts Aphorismus ein Gradmesser für die erste wäre, dann muß ich sagen: Berühmt bin ich offensichtlich nicht geworden. Obwohl ich bei dem Gesellschaftsspiel Fame or Fortune immer Fame gewählt habe, hat sich das nie so weit niedergeschlagen, daß ich jemanden aus meiner Schulzeit getroffen hätte. Und das ist gut so. Für alle Beteiligten.
Ich lebe seit über dreißig Jahren in einem der schönsten Länder der Welt, der Schweiz, die neben Schönheit auch sonst noch einiges zu bieten hat, worauf ich an anderer Stelle eingehen werde. Aber sie nervt auch hie und da, und zu den Dingen, auf die ich geradezu allergisch bin, gehört das Ritual, das sich jeweils bei Einladungen oder Zusammenkünften aller Art abspielt. In der ersten halben Stunde entdecken mindestens zwei der Anwesenden, daß sie vor 783 Jahren miteinander in den Kindergarten oder zur Schule gegangen sind! Und wenn sie es nicht selbst waren, dann waren es ihre Geschwister oder Cousins, oder ihre Eltern sind im selben Dorf in dieselbe Klasse gegangen. In der Schweiz muß man nicht berühmt sein, um Schulfreunde zu treffen. Aufgrund der Größe des Landes genügt es einfach, zur Schule gegangen zu sein – und schon trifft man Menschen, mit denen man gemeinsame Erinnerungen austauschen kann. Sicher bin ich besonders empfindlich, was das Thema Zugehörigkeit angeht, aber mir wird einfach jedesmal wieder bewußt, daß es hier einen Bereich gibt, der für eine Zugereiste Sperrbezirk ist.
Sie haben recht: Ich bin ja auch zur Schule gegangen, aber ganz abgesehen davon, daß sich der Schulbesuch mit Ausnahme des ersten und letzten Halbjahrs in Duisburg abgespielt hat und einem in Zürich nicht jeden Tag jemand aus dieser Gegend über den Weg läuft, möchte ich klar festhalten: Wenn ich je jemanden aus meiner Schulzeit träfe, würde diese Person danach für den noch verbleibenden Rest ihres Lebens einen bleibenden Schaden davontragen. So absurd das klingen mag: Ich blicke eigentlich noch gerne auf meine Kindheit zurück, trotz Krieg und all seiner Begleiterscheinungen. Wenn ich jedoch an meine Jugend denke ..., also ich werde Ihnen hier ein paar »Müschterli« geben, und dann können Sie selbst entscheiden, okay?
Fangen wir mit der Volksschule an, die so hieß, weil sie fürs ganze Volk ein achtjähriges Pensum als Mindestausbildung bot. Ich habe mich dort nur für eine Mindestdauer aufgehalten. Das erste halbe Jahr hatte ich ja verpaßt, weil Deutschland Ostern 1945 andere Sorgen hatte, als mich einzuschulen. Das zweite Halbjahr, das für mich ab Herbst desselben Jahres begann (Sie erinnern sich an die Schiefertafel mit »Anna und Alma«?), wurde durch die Flucht unterbrochen; in Duisburg mußte ich neu eingeschult werden, machte noch den Rest der ersten Klasse mit und kam dann mühelos in die zweite. Dort begann das Elend. Ich fand sehr bald heraus, daß meine Schularbeiten in einem Bruchteil der dafür zur Verfügung stehenden Zeit gemacht werden konnten; ich las etwas und hatte es im Kopf oder konnte sofort die Aufgabe lösen, ohne nochmals nachzuschauen. (Wenn das heute nur auch so wäre!)
Das ging mit allen Fächern so, bis auf die Rechenaufgaben, für die ich mich gar nicht begeistern konnte. Mein Vater wurde von meiner Mutter aufgefordert, mir dabei zu helfen – Sie ahnen, was kommt. Wir haben eine Wiederholung der Fahrrad-Geschichte, nur daß ich diesmal nicht so schnell erlöst wurde. Es gab dann sehr oft Krach zwischen meinen Eltern, weil meine Mutter die Erziehungsmethoden meines Vaters für ausgeprochen unmotivierend hielt – eine tolle Zeit! Ich freute mich zwar einigermaßen auf den Schulmorgen, aber gleichzeitig langweilte ich mich tödlich. Die Lehrerin nahm mich einfach nicht oft genug dran, obwohl mein Arm bei fast jeder Frage nach oben schoß. Bis auf die Rechenaufgaben, die dann am Nachmittag in Nachhilfe- »Unterricht« bei meinem Vater mündeten.
Eine Lösung mußte