Monique R. Siegel

Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin


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Ich weiß nicht, was es war mit dieser Sprache – vielleicht die positiv besetzte Erinnerung an den jungen Amerikaner, der mich verwöhnt und meine Mutter angehimmelt hatte, oder Uncle Fred? –, aber vom ersten Tag an war ich ihr verfallen. Mit Ausnahme von Deutsch ist mir nichts je so leicht gefallen wie Englisch. Es waren die schönsten Stunden; gleich danach kam Aufsatz schreiben. Mit Rechnen, das nun schon Mathematik hieß, hatte ich immer noch nichts im Sinn, und das würde auch für den Rest meines Lebens so bleiben. Aber ich hatte auch Geschichte oder Geographie sehr gerne und konnte mich mit dem Lehrplan gut arrangieren. Die Hausaufgaben waren jetzt anspruchsvoller, und oft machte ich sie zusammen mit anderen Kindern nach der Schule. Zu mir nach Hause konnte ich natürlich niemanden einladen; als sich doch einmal eine Mitschülerin bei uns einfand, mußte ich dafür einen unverhältnismäßig hohen Preis zahlen.

      Die Mitschülerinnen hatten schnell begriffen, daß sie bei mir die eine oder andere Lösung holen konnten. Und sie wußten auch, wie man mich dazu kriegen konnte: mit Pausenbroten zum Beispiel. Ich hatte immer Hunger und lernte zu essen, wann immer sich dazu Gelegenheit ergab. Zu der Zeit war ich noch hoch aufgeschossen und brandmager, später, nach der Pubertät, würde sich das dann in unnötigen Kilos niederschlagen. Noch aber war ich ein dünnes, hungriges Kind – mit einer Bäckerstochter als Freundin! Ediths Vater hatte eine gutgehende Bäckerei, aber keine so intelligente Tochter. Sie war dankbar, wenn ich ihr bei den Hausaufgaben half, und ich besuchte sie, so oft ich konnte, denn ich durfte das Haus durch die Backstube betreten! Dort konnte ich mich bedienen mit allem, was mein Herz begehrte bzw. was meine Hände auf dem Weg zum ersten Stock noch halten konnten. Ich fand Edith großartig, denn sie ließ mich nicht nur essen, sondern hie und da durfte ich dort auch baden, was mir das Höchste an Luxus schien.

      Dann aber bekam das Bild einer harmonischen Schulzeit doch einen Riß, der alles verändern würde. Ich war in jeder Beziehung gewachsen und hatte inzwischen Schuhgröße dreiundvierzig. Als sich das einzige Paar Schuhe, das ich besaß, in Wohlgefallen auflöste und ich eines Morgens effektiv mit Schuhfetzen dastand, mußte eine Lösung her. Mein Vater hatte dieselbe Schuhgröße, und obwohl ich heftigst protestierte, mußte ich seine Schuhe anziehen und damit zur Schule gehen.

      Wir alle kennen Geschichten von der Grausamkeit von Kindern – bitte glauben Sie, was immer Sie hören! Ich war das Gesprächsthema des Tages! Von dem Moment, wo ich auf den Schulhof radelte, bis zum Ende des Unterrichts ließen mich meine Mitschülerinnen nicht vergessen, was da wie Klumpen an meinen Füßen hing. Als ob ich das hätte vergessen können; die schweren Herren-Halbschuhe hingen an meinen dünnen Beinen und machten jeden Schritt zur Qual. Das Interessante ist, daß sich die Alternative eines verpaßten Schultags offenbar gar nicht gestellt hat; wahrscheinlich haben wir irgendeine Klassenarbeit geschrieben, die ich nicht verpassen konnte oder wollte.

      Bis zum Nachmittag hatte meine Mutter genügend Geld aufgetrieben – wir waren jahrelang Stammkunden bei den Pfandleihen –, um mit mir einen Schuhladen aufzusuchen. Die Verkäuferin fiel fast in Ohnmacht, als sie meine Schuhgröße hörte. Nach langem Suchen fand sie dann doch ein Paar Schuhe, für das unser Geld reichte. Die hatten nur einen Schönheitsfehler: Sie waren Größe zweiundvierzig. Die Verkäuferin redete auf uns ein, daß wir in ganz Deutschland keinen Kinderschuh in meiner Größe fänden (womit sie zweifellos recht hatte) und froh sein sollten, daß sie noch etwas gefunden hatte. Mit dem zur Verfügung stehenden Geld hatten wir ohnehin keine Wahl, und der nächste Schultag kam bestimmt. Ich hatte zwar einen Vormittag in den Schuhen meines Vaters verbracht, aber ich hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß ich dieses Spießrutenlaufen nicht noch einmal über mich ergehen lassen würde. Also kauften wir diese Schuhe, die natürlich weh taten. Meine Zehen haben das offenbar nicht so geschätzt, daß sie sich den Schuhen anpassen mußten – die Spuren von einer solchen Prozedur bleiben einem ein ganzes Leben lang.

      Viele Jahre später, als die schwedische Schauspielerin Liv Ullman einer meiner Leinwandlieblinge war, habe ich einen großen Artikel über sie im TIME Magazine gelesen. Darin stand, daß sie sich für ihre Füße, die im Krieg in zu kleine Schuhe gepreßt worden waren, geschämt und sie, besonders als junges Mädchen, am Strand immer im Sand vergraben habe. Ich habe sie danach doppelt bewundert und fühlte mich ihr sehr verbunden! Und als ich dann noch hörte, daß Ingrid Bergman und Audrey Hepburn mit Schuhgröße dreiundvierzig durchs Leben gegangen sind, empfand ich es auch nicht mehr als Makel, daß ich mal Größe dreiundvierzig hatte – aber wenn man zehn Jahre alt ist und eine Verkäuferin vor sich hat, deren Einfühlungsvermögen in die Psyche eines Kindes wohl etwas unterentwickelt war, kann einen das schon umhauen. Kein Wunder, habe ich später im Leben eine Art Schuhtick entwickelt, der eben nur halb ein Tick ist. Es ist nicht nur die Schönheit eines Schuhs, die mich zum Kaufen animiert, sondern etwas ganz Pragmatisches: Ich muß Schuhe dann kaufen, wenn ich welche finde, die mir passen und nicht weh tun. Heute schlagen Verkäuferinnen zwar nicht mehr die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie meine Schuhgröße – jetzt zweiundvierzig – hören, aber in kleineren, sehr teuren Schuhläden haben sie dieses Lächeln auf dem Gesicht, das man für mild Verrückte bereit hält. So ist denn auch meine erste Frage in jedem Schuhgeschäft: »Was ist die größte Größe, die Sie führen?« Das verkürzt viele Aufenthalte.

      Wieso konnte es überhaupt zu diesem »Schau mal, die trägt die Schuhe von ihrem Vater!«-Vorfall kommen? Das hatte – wundert es Sie? – wieder mal etwas mit meinem Vater zu tun ...

      Kurz nach unserer Ankunft in seiner Heimatstadt hatte er eine Anstellung gefunden, als Chef-Sachbearbeiter in einer Fabrik, die Schrauben und Scharniere herstellte. Ich durfte ihn dort mal besuchen und war fasziniert. Bei meinem ersten Besuch in einer Fabrik zeigte sich schon, daß ich Betriebsbesichtigungen lieben würde – auch heute noch könnte ich locker pro Woche eine davon vertragen. Mich faszinieren Produktions-, Verpackungsund Versandvorgänge, ich finde das Geschehen hinter der Bühne aufregender als das auf der Bühne, und beim Fernsehen nehmen mich Regie und das, was hinter der Kamera alles läuft, so gefangen, daß ich fast vergesse, warum ich eigentlich im Studio bin. Aber Fernsehen ist noch gar kein Thema, sondern vorerst sind wir ja noch bei meinem Vater, der mit dem Schicksal haderte, weil nach dem Krieg noch niemand auf die Idee gekommen war, ihn mit einer Chefredakteur-Position zu betrauen. Als die Schraubenfabrik Anfang 1947 schloß, wurde er arbeitslos – ein Zustand, der ihm so behagte, daß er ihn für die nächsten gut acht Jahre beibehalten würde. Er hatte keine Mühe, sich zu beschäftigen: in der Bibliothek konnte man jedes Buch für fünf Pfennig ausleihen, und da er ja Zeit hatte, schaffte er selbst achthundertseitige Wälzer in ein paar Tagen. Jedenfalls wurde er der Besucher der Stadtbibliothek, der am meisten Bücher ausgeliehen hatte.

      Irgendwie ist es ihm gelungen, die Leute ím Arbeitsamt davon zu überzeugen, daß er für viele Arbeiten gar nicht in Frage kam; erst 1955 würden sie darauf bestehen, ihn zum Buchhalter umzuschulen. Er würde dann siebenundfünfzig Jahre alt sein; sicher hat er sich täglich ausgerechnet, wann er den zu befürchtenden Angestelltenstatus mit dem des »in Ehren ergrauten Pensionierten« vertauschen könnte. Ich kann es bis heute nicht fassen, daß ein hochintelligenter, schreibbegabter Mann mit Familie offenbar beschlossen hatte, nicht mehr zu arbeiten – es sei denn, man würde ihm wieder einen Chefposten anbieten. Aber so blieb es, mit ganz wenigen, ganz kurzen Zeitspannen, wo er erwas mehr als die Arbeitslosenunterstützung nach Hause brachte.

      Die Lage wurde noch zusätzlich erschwert durch seinen ungeheuren Egoismus. Mein Vater war sein ganzes Erwachsenenleben hindurch ein starker Raucher, mehr als zwei Päckchen pro Tag, und er liebte Kaffee. Dieser Bedarf an Luxusartikeln stand nicht ganz im Einklang mit den Einkünften der Familie, die sich viele Jahre lang auf die beeindruckende Summe von vierundvierzig Mark pro Woche beliefen. Genau dieser Betrag war das, was das Arbeitsamt für eine vierköpfige Familie als angemessen ansah. Ich weiß nicht, wie solche Berechnungen zustande kommen, aber das war das offizielle Einkommen unserer Familie meine ganze Jugend hindurch. Gut eine Wochenzahlung ging für die Miete weg, und von den anderen ca. hundertvierzig Mark hätten wir alles andere bestreiten sollen.

      Wenn ich Sprüche höre wie »Armut ist keine Schande«, weiß ich, daß das jemand sagt, der wahrscheinlich noch nie mit Armut in Berührung gekommen ist. Was braucht man auch noch die Schande, wenn der Rest schon schlimm genug ist? Ich werde heute sehr wütend, wenn ich höre, wie Flüchtlinge in »echte« und in »Wirtschaftsflüchtlinge«