Monique R. Siegel

Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin


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täglich Tausende von Menschen in Entwicklungsländern verhungern lassen. Vielleicht ist es keine Schande, arm zu sein – aber erzählen Sie das mal einer Klasse von Halbwüchsigen, wenn Sie dauernd irgend etwas nicht mitmachen können oder durch die Klassenkasse finanziert werden müssen! Der Wunsch nach einem eigenen Bett für jedes Kind ist ja auch nicht übertrieben, aber er war uns viele Jahre lang verwehrt, denn nachdem wir irgendwann eine Matratze auf Backsteinen für mich organisiert hatten, war meine Schwester längst dem Kinderbett entwachsen, und nun mußte sie das Bett mit meiner Mutter teilen.

      Die Probleme mit unserer Armut waren nicht so gravierend in einem Nachkriegsdeutschland, wo die meisten Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz standen und diejenigen, denen der Krieg nicht alles geraubt hatte, klug genug waren, ihre Besitztümer nicht zu zeigen – damals kann man wahrscheinlich den Beginn der deutschen Neidkultur orten. Wenn alle arm sind, ist Armut eher zu ertragen. Das Timing unserer Armut war nicht gut: Sie fand gleichzeitig mit dem deutschen Wirtschaftswunder statt! Ohne zu übertreiben: Nach der Währungsreform im Juni 1948 brauchte es schon eine sehr große Willensanstrengung, um arm zu bleiben! Es war die Aufbruchstimmung schlechthin in einem Land, das sich neu erfand. Handwerker waren auf Jahre hinaus ausgebucht und taten einem bereits dazumal schon einen Gefallen, wenn sie überhaupt, geschweige denn termingerecht auftauchten. Gewerbetreibende mußten an- und umbauen, um alle die Waren unterzubringen, die nach Juni 1948 buchstäblich über Nacht aufgetaucht waren. Die Schwarzmarkthändler hatten zwar ihr Betätigungsfeld verloren, aber die Schrotthändler wußten nicht, wohin mit dem Geld. Schrott gab es in Deutschland nun weiß Gott genug, und wenn auch bei weitem nicht jeder Abtransport von einer Trümmerstelle legal war, so waren doch die meisten Hausbesitzer froh, daß sich überhaupt jemand um die Trümmer kümmerte.

      Duisburg war nicht nur eine große Binnenhafenstadt, sondern in erster Linie eine Bergwerksstadt. Kohle und Stahl waren zwei der begehrtesten Rohstoffe; Kohleförderung und Stahlbeförderung wurden die Basis des allgemeinen Wohlstands. Alles mußte repariert, erneuert oder ganz neu hergestellt werden, und eine in jeder Beziehung ausgehungerte Nation stürzte sich in die ersten Konsumräusche, die sich, wie wir aus der Rückschau wissen, in Freß-, Reise- oder Einrichtungswelle unterteilen lassen.

      Die Eltern meiner Schulkameradinnen waren fast ausschließlich Handwerker und Gewerbetreibende – ich war die mit dem intellektuellen Vater und der intelligenten, urbanen Mutter, aber ohne Schuhe. Unsere Armut warf bei jedem, der damit in Berührung kam, die Frage auf: Wieso ging es dieser Familie so schlecht, wenn es doch allen anderen so gutging?

      Angesichts der Tatsache, daß mein Vater keine Anstalten machte, diesen Zustand zu ändern, machte sich meine Mutter auf die Suche nach Verdienstmöglichkeiten und wurde schnell fündig: Ein cleverer junger Unternehmer hatte einen schwungvollen Versandhandel mit Rasierklingen aufgezogen, der einen ungeheuren Aufwand an Heimarbeit bedingte. Das muß ich Ihnen erzählen, denn es ist ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte, die Ihnen authentisch vermittelt, was Aufbruch in ein neues Zeitalter so im Alltag bedeutet. Also:

      Bis zum Krieg hatte man offenbar keine oder kaum Rasierklingen gekannt. Jetzt konnte man die erstehen, und eben dieser Achtundzwanzigjährige hatte seine Chance erkannt und beglückte buchstäblich ganz Deutschland mit seinen per Postversand zugestellten Rasierklingen. Die Werbung dafür bestand in einer Musterklinge, die an jeden Männernamen in den Adreßbüchern größerer deutscher Städte geschickt wurde, was in vielen Fällen dann zu einer Bestellung führte. Wir haben diese Werbung in unserer Familie praktisch im Alleingang erledigt, und das bedingte einen Vorgang von sieben Schritten – mal sehen, ob ich sie noch zusammenbekomme:

      1 Rasierklinge auf Werbebrief oben links aufkleben

      2 Brief falten

      3 Bestellkarte einlegen

      4 Kuvert beschriften

      5 Brief in Kuvert stecken

      6 Kuvert zukleben

      7 Kuverts in Bündel zu zweimal 25 abpacken

      Unsere drei Minizimmer sahen zeitweilig aus wie das Warenlager einer Druckerei, und ich weiß, wie froh wir immer waren, wenn wieder eine Großlieferung weg war.

      Wir wurden per ablieferungsbereites Kuvert bezahlt, und das hieß: Akkordarbeit. Da fallen zum Beispiel solche Faktoren ins Gewicht wie die Anzahl der Buchstaben in einem Städtenamen. Wenn Sie nur »Ulm« oder »Köln« schreiben müssen, können Sie einiges mehr produzieren als mit »Düsseldorf« oder »Wuppertal-Elberfeld«. Und es lassen sich jede Menge Minuten herausschlagen, wenn Sie den Aufkleb- und Einpackvorgang logistisch sauber hinkriegen: sehnen- und nervenschonende Plazierung manueller Arbeit habe ich schon als Zehnjährige begriffen. So etwas bleibt einem offenbar: Ich bin immer eine der schnellsten gewesen, wenn irgendwo in meinem Leben Versandarbeit angesagt war.

      Selbst jemand wie mein Vater, der ausgesprochen phantasievoll war, wenn es darum ging, der Arbeit aus dem Weg zu gehen, konnte hier nicht passen. Wir hatten alle eine gute, sehr leserliche Handschrift, und so teilten sich Vater, Mutter und älteste Tochter ins Adressenschreiben. Wenn man müde wurde, passierten Fehler: Man irrte sich in der Zeile oder Spalte des Adreßbuches. Diese Kuverts kamen dann mit »Adressat unbekannt« zurück und wurden bei der nächsten Abrechnung abgezogen – direkteres Feedback für eine Arbeit kann man sich kaum vorstellen. Wehe uns, wenn aus dem geöffneten Kuvert die Rasierklinge herausfiel! Das hieß, daß wir nicht richtig geklebt hatten, und ergab einen Verweis oder, wenn es mehrfach vorkam, einen Abzug. Hie und da gab es Fehldrucke bei den Briefen oder Bestellkarten. Es war natürlich unsere Verantwortung, das rechtzeitig zu entdecken. Das heißt, daß die weniger glamouröse Arbeit des Aufklebens und Faltens auch mit großer Aufmerksamkeit erledigt werden mußte. Die kleine Schwester durfte daher in erster Linie den Brief zweimal falten oder den gefalteten Brief mit Karte ins Kuvert stecken. Daneben durfte sie »mitspielen«, indem sie Zählen übte, obwohl wir alles nachgezählt haben, denn schließlich war sie ja noch im Vorschulalter.

      Meine Mutter hatte ein ausgesprochen kaufmännisches Flair, was dem Jungunternehmer schnell auffiel. Als sein Business boomte und seine Sekretärin die Versand- und Rechnungsarbeiten nicht mehr alleine schaffte, fragte er meine Mutter, ob sie aushelfen könne. Obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen keine Generation ausmachte, sah er so etwas wie eine mütterliche Vertraute in ihr. Sie kannte die meisten seiner Geschäftsgeheimnisse, einschließlich der Tricks, wie er einen Teil seines Einkommens am Finanzamt vorbeischmuggelte. Er wußte, daß sie absolut vertrauenswürdig war, und da er sie mochte, gab es kleine Vergünstigungen. Als er expandierte und auch andere Adressenschreiber eingesetzt wurden, bekamen wir die kürzeren Städtenamen oder Mini-Vergünstigungen wie »Heilbronn«, wo man wenigstens aus den beiden letzten Buchstaben mit dem »o« zusammen einen Schlenker machen konnte. Und sie bekam natürlich zeitweilig so etwas wie einen Lohn – nicht immer, aber immer öfter. Und mit der Sekretärin, einer sehr hübschen, verheirateten Frau von Ende zwanzig, entstand sogar so etwas wie der Beginn einer Freundschaft.

      Das Arbeitsamt hatte auch damals schon eine Limite für das Zuverdienen ohne Abzüge an der Wochenauszahlung. Wie mein Vater das gemacht hat, weiß ich nicht, aber egal, wieviel wir arbeiteten, wir waren immer innerhalb der Limite. Ich nehme an, daß es bei der Firma eine sehr kreative Buchhaltung gegeben hat, die halt auch nur soviel auswies, wie zugelassen war ...

      Heimarbeit und Schularbeiten: Zum Glück haben mich die Schularbeiten nicht über Gebühr beansprucht, und so konnte ich doch pro Tag einige Stunden zum Familienunterhalt beitragen. Obwohl sich das alles sehr dramatisch anhört, habe ich nicht einmal so schlechte Erinnerungen an diese Jahre. Wenn alle vier zusammen am Küchentisch arbeiteten, kam fast so etwas wie ein Familiengefühl auf. Wenn mein Vater aus irgendwelchen Gründen nicht mitmachte und meine kleine Schwester am Spielen war, unterhielt mich meine Mutter mit Singen. Sie sang sehr gerne und kannte sehr viele Musikstücke. Ich sage bewußt nicht »Lieder«, denn entweder waren es Chansons, wie sie im Berlin der 30er Jahre populär gewesen waren, oder es waren Operettenmelodien. Ich kenne heute noch unglaublich viele Texte aus diesen beiden Kategorien, obwohl ich Operetten nicht ausstehen kann und die Chansontexte oft ziemlich doof finde. Ab und zu war auch mal etwas darunter wie etwa das melodramatische Lied von Friedrich Löwe, Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir. Manchmal habe ich die Texte erst Jahre später