hätte zuschlagen können) stand die Rachegöttin Nemesis in Gestalt meiner Mutter, mit mir an ihrer Seite. Waltrauds Mutter begann ein Gezeter um den zerrissenen Mantel, dessen Riß sich inzwischen auf mirakulöse Weise noch vergrößert hatte, zerrte ihre Tochter nach vorne, die immer noch diesen blöden Knopf in der Hand hielt und sich auf heulende Unschuld vom Lande verlegt hatte, und verlangte auf der Höhe ihrer Stimme eine völlig absurde Summe Schadenersatz für diesen uralten, zerschlissenen Mantel.
Nachdem sie mal die erste Schreisalve abgespult hatte, war meine Mutter an der Reihe. Auch sie war erregt, aber sie schrie nicht. Verhältnismäßig ruhig erklärte sie, sie sei stolz auf ihre Tochter, die sich zum erstenmal gewehrt habe, und der kaputte Mantel sei nicht mehr als die gerechte Strafe für einen selbstverschuldeten Streit, abgesehen davon, sei er so abgetragen, daß er ohnehin fast auseinanderfiele. Sie dächte nicht im Traum daran, irgendetwas zu zahlen, und dann forderte sie die beiden auf, das Haus zu verlassen. Waltrauds Mutter schrie (inzwischen waren einige Wohnungstüren im Haus auf- und zugegangen, und ich bin sicher, alle Bewohner bekamen irgend etwas von diesem Spektakel mit), daß das mit dem Sichwehren ja wohl umgekehrt sei – ihre Tochter sei von mir angegriffen worden, obwohl auch ihr das etwas komisch vorgekommen sein muß, wenn man die Größenverhältnisse zwischen ihrem Goldkind und mir in Betracht zog. Wie bitte? meinte meine Mutter, drehte mich um und zeigte meine blutunterlaufenen Kniekehlen, wo die Stiefelspuren noch sichtbar waren. »Warst du das?« fragte Waltrauds Mutter ihr Unschuldsengelein, drehte deren Fuß um und sah, daß der Stiefelabsatz dasselbe Muster aufwies. »Davon hast du mir ja gar nichts gesagt!« herrschte sie ihre Tochter an, und wenn sie sich auch nicht gerade bei meiner Mutter entschuldigte, so wiederholte sich die Geschichte meiner Demütigung durch meinen Vater jetzt an der verhaßten Mitschülerin. Zwar drohte die Mutter noch, daß sie Schritte unternehmen würde, um von uns einen neuen Mantel für ihre Tochter zu bekommen, aber das machte meiner Mutter keinen Eindruck: Sie wußte, wo in dieser Situation die Sieger und die Verlierer waren. Waltraud heulte jetzt laut, die Mutter schimpfte ebenso laut, und zusammen traten sie den Rückzug an. Ich hatte an einem einzigen Morgen gleich zwei begnadete Pädagogen in Aktion gesehen!
Natürlich haben wir von der Mutter nichts mehr gehört, obwohl ich öfter von ihr geträumt habe. Mit Waltraud hatte ich nie wieder Probleme. Sie ging mir aus dem Weg. Bei den anderen Kindern hatte sie jede Autorität verloren, und einige bemühten sich jetzt um mich. Aber schon da zeigte sich eine andere meiner ausgeprägten Charaktereigenschaften: Ich habe ein Elefantengedächtnis für erlittene Verletzungen und bin ausgesprochen nachtragend. Diese Kinder hätten sich früher auf mich besinnen sollen; sie waren nicht da, als ich ihre Hilfe hätte gebrauchen können, und jetzt konnte ich auch ohne sie auskommen, zumal ich eine der wenigen war, deren Abschied von der Volksschule programmiert war – das Ende war also absehbar. Und schließlich war ich ja auf der Schule, um etwas zu lernen, und nicht, um Autoritätskämpfe zu bestehen oder Popularitätswettbewerbe zu gewinnen. Lernen war immer noch meine erklärte Lieblingsbeschäftigung.
Ich war gefordert mit dem Stoff der dritten Klasse; inzwischen konnte ich jedoch auch bei den Rechenaufgaben mithalten. Und dann kam die vierte Klasse mit einem wunderbaren Lehrer, der mich voll unterstützte. Gegen Ende dieses Schuljahrs mußte man sich für die Aufnahme am Gymnasium anmelden. Das heißt, zuerst einmal mußte man bestimmen, welche Richtung man einschlagen wollte: Studieren? Dann mußte es das Gymnasium sein. Oder genügte es, eine gutausgebildete höhere Tochter zu sein, die dann wiederum andere höhere Töchter gebären und zu gebildeten Wesen erziehen sollte? Dann war wohl eher das Lyzeum geeignet: Am Ende von dessen ebenfalls neunjährigem Lehrgang stand das »Pudding«-Abitur, so genannt, weil der Lehrplan Handarbeit und Kochen mit einschloß, aber auf Latein und Griechisch verzichtete. Weil mein Vater der Ansicht war, ich würde bei der Mathematik am Gymnasium nicht mithalten können, entschied er, daß es das Lyzeum würde. Kein Wunder, habe ich viele, viele Jahre gebraucht, bevor ich dem Kochen etwas abgewinnen konnte...
Also: Stichtag für meine Anmeldung zur »Höheren Schule« ist der 8. Februar 1948. Solche Sachen erledigte mein Vater, denn die seltenen Momente, wo er sich mit meiner Existenz arrangierte, waren die, wo er mit mir angeben konnte: Als ich eine Klasse übersprungen hatte, wußte das ganze Viertel innerhalb weniger Tage davon. Wenn ich Klassenbeste war, ging er mit mir spazieren und forderte mich auf, jedem, der uns begegnete, meine guten Noten herunterzubeten. Ich bin also am Stichtag für die Anmeldungen acht Jahre alt, vier Tage von meinem neunten Geburtstag entfernt. Sicher eine Art Rekord in der Geschichte der Johanna-Sebus-Schule, mit dem der Rektor dieser höheren Lehranstalt überhaupt nicht umgehen kann.
Es ist immer noch Nachkriegszeit in Deutschland. Das heißt: Die Verhältnisse sind alles andere als geordnet. Noch immer fehlen Möbel oder Schulbücher, von Landkarten oder Ausstattungen von Biologie- und Chemiezimmern ganz zu schweigen. Die Schulhäuser sind, wo nötig und möglich, notdürftig repariert worden; es mangelt jedoch an allen Ecken und Enden, ganz besonders auch an entnazifizierten Lehrerinnen und Lehrern. Die chaotischen Verhältnisse während des Krieges haben immer noch Folgen; so sind zum Beispiel viele Kinder einiges älter als üblich, und die Klassen sind weit über ihre zulässige Höchstzahl hinaus belegt.
Und in dieser Situation steht da nun dieser Mann und möchte seine achtjährige Tochter anmelden! Der Rektor traut seinen Ohren nicht, erklärt meinem Vater, daß er Dreizehnjährige zurückstellen muß, weil die Klassen übervoll sind, und daher eine Achtjährige null Chancen hat, aufgenommen zu werden. Mein Vater macht ihn darauf aufmerksam, daß ich ja nur noch vier Tage lang acht Jahre alt bin, aber auch Neunjährige sind nicht gefragt. Es würde mindestens noch zwei Jahre dauern, bis sich die Verhältnisse einigermaßen normalisiert hätten.
Offenbar will mein Vater nicht so schnell die Segel streichen, und als er fragt, was er denn mit seiner hochintelligenten kleinen Tochter tun soll, sieht der Rektor seine Chance, uns endgültig loszuwerden. Da gebe es ja noch eine Mittelschule (würde heute der Schweizer Sekundarschule entsprechen); dorthin würden sie all die abschieben, die es auf der Höheren Schule nicht schafften. Vielleicht würden die mich aufnehmen. Ich verstand das nur bedingt, denn vor dem Abschieben hätte ja zumindest eine Aufnahme erfolgen sollen, aber mein Vater erkundigt sich bereits nach der Adresse der Schule, die für mich in Frage käme; der Rektor liefert sie bereitwilligst. Wir würden es dann in zwei Jahren noch einmal versuchen, meint nun mein Vater. Der Rektor ist offensichtlich genervt von diesem Mann, und er dehnt seine Ablehnung auf mich aus. »Machen Sie sich da mal keine Hoffnung«, meint er zum Abschied mit kaum verhohlenem Hohn, »es hat noch keine geschafft, von der Mittelschule aufs Lyzeum zu kommen – der Weg geht in die umgekehrte Richtung!« Er hätte mir keinen größeren Motivationsschub vermitteln können; ich bin ihm heute noch dankbar dafür.
Die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule war nicht schwer und die Tatsache, daß ich die Jüngste in der Klasse war, nicht neu. Ich gewöhnte mich schnell daran, daß ich hier wieder einmal Bestnoten liefern mußte – nicht nur, um meinen Vater zufriedenzustellen, sondern weil mich keiner auch nur für einen Moment vergessen ließ, daß ich ja nur für zwei Jahre ein Gastspiel geben wollte. Wenn ich wirklich den Weg zurück einschlagen wollte, den angeblich niemand erfolgreich beschreiten könnte, durfte ich nicht nachlassen. Leistung war also gefragt.
In die Zeit der Mittelschule fallen ein paar wichtige Ereignisse: Zum Beispiel der Beginn der Arbeitslosigkeit meines Vaters und, im Juni 1948, die Währungsreform, Beginn des deutschen Wirtschaftswunders. Die ersten Erfahrungen mit Heimarbeit und die ersten Lektionen einer Sprache, die einmal Anspruch erheben würde, mir meine Muttersprache zu ersetzen. Die Freundschaft mit der Bäckerstochter und die Geschichte mit den Schuhen meines Vaters. Der Vorfall mit dem Priester und mindestens zwei abortierte Schwangerschaften meiner Mutter. Es war eine Zeit des Lernens und Erfahrens, auch außerhalb der Schule. Aber nun mal hübsch eins nach dem anderen ...
Im Grunde war die Mittelschule nicht die schlechteste Schulzeit. Mein Schulweg dauerte eine Dreiviertelstunde mit der Straßenbahn oder gut zwanzig Minuten mit dem Fahrrad. Eine Zeitlang hatte ich ein Fahrrad, ein älteres Modell natürlich, nicht mehr solch ein schönes, rotes, nagelneues wie in Ostpreußen. Wie ich dazu gekommen bin, weiß ich nicht mehr, aber es hat mir sehr gute Dienste geleistet. Und eben: Natürlich konnte ich radfahren, sobald mein Vater es mir nicht mehr beibringen wollte.
Leider wußten alle in der Klasse, daß ich nicht die