Rainer Maria Rilke

Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge


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Tages wußte ich: sie hintergeht dich. Und ich blieb ganz ruhig. Ich ging in die einsame Heide hinaus. In meiner Brusttasche war ein geladener Revolver. Ich fühlte, für mich gab es nichts, als den Tod. Und ich stand draußen in der öden Weite und blickte um mich. Niemand. Ich griff also in die linke Tasche und wie ich die Waffe fasse, ziehe ich ein Stück Papier mit heraus. Unwillkürlich betrachtete ich dasselbe.

      Es war eine kleine, schlichte Novelle von duftstarker Poesie, die ich einmal in glücklicher Stunde geschrieben.

      Und ich las zwei, drei Zeilen.

      Und dann setzte ich mich auf den Rain, legte das Pistol neben mich und las fort.

      Wie Öl flossen die schlichten, innigen Worte in den Sturm meiner Seele hinein. Nach einer halben Stunde ging ich klaren Auges stadtwärts. Ich wußte, es gibt eine Heilung für mein Weh. Eine starke Arzenei: Arbeit.

      Das ist meine ganze Geschichte.«

      Der Mann neben mir schaute mich groß an mit dankbarem Blick. Er sagte nichts. Aber er faßte meine Rechte mit beiden Händen und drückte sie. Schon dieser kräftige Druck sagte mir: er ist dem Leben wiedergewonnen.

      Wir gingen selbander fort weiter in den Wald. Der schimmernde Augusttag goß goldenen Frieden in unsere gerührten empfänglichen Herzen. Wir schwiegen; aber wir blickten uns von Zeit zu Zeit an, wie gute, alte Freunde; wir verstanden uns.

      Und später plauderten wir. Leichthin über Vergangenes und Zukünftiges, Erinnerungen und Wünsche. Und seine Worte klangen so ruhig, so friedlich in die Mittagsstille. Dann plötzlich fragte er: … »Und haben Sie ganz verschmerzt« …

      Ich betonte: »Ganz«…

      Er blickte mich forschend an: »Wirklich?«

      »Wodurch soll ich Ihnen beweisen?« meinte ich obenhin.

      »Wodurch?« Er sann nach.

      Dann lächelte er: »Sind Sie im Stande, den Namen des Mädchens ganz ruhig auszusprechen?«

      »Wie denn nicht: Helene Croner.«

      Da kracht neben mir ein Schuß. Mit zerschelltem Schädel wälzt sich Berger im Moose. Er blieb auf der Stelle tot.

      Am nächsten Tage durchblätterte ich die Zeitung. Auf dem letzten Blatt im äußersten Eckchen stand die schonend gehaltene Todesanzeige Berger’s. Unterzeichnet war dieselbe:

      Die tieftrauernde Witwe Helene Berger, geborene Croner.

       Inhaltsverzeichnis

      Man saß beim Tee bei Frau von S… Auf dem blendend weißen Tischtuche stand der mächtige russische ›Samovar‹ und begleitete mit melodischem Summen die Gespräche. Die Ereignisse des Tages waren nach allen Seiten gewendet und gedreht worden, die Kunstausstellungen und Theater boten keinen allzureichen Stoff im Frühherbst. Es drohte eine jener Pausen einzutreten, welche wie dicke Luft alle bedrückt und ängstigt, und in welche dann die Kaffeelöffel und Tassen laut und gellend hineinklingen.

      Aber die Hausfrau empfand die Gefahr. Frau von S…, eine noch junge; rotblonde Witwe, machte den Vorschlag, jeder sollte die interessantesten Begebenheiten seines Lebens erzählen. Beifall.

      Ein junger Mann, von des Zufalls und weiland seines Papas Gnaden Baron, begann.

      Er näselte ein paar Abenteuer, mühsam und von dem Lachen über die Fürtrefflichkeit seines eigenen Witzes immer wieder unterbrochen, hervor; Abenteuer, deren Szenerie immer ›Bretter‹ oder ›Brettchen‹ von der Bedeutung der Welt, deren Hauptpersonen jene Damen mit den kurzen Röcken und dem kurzen Verstand, mit leichten Füßen und noch viel leichterem Herzen waren. Mehrere Male war die Dame vom Hause gezwungen zu hüsteln, wenn der glattrasierte, blinzelnde Freiherr sich allzu eingehender Detailmalerei befleißte. Dann kniff er wie beschämt seine farblosen Augen zusammen und errötete bis an die spärlichen mattblonden Haupthaare.

      Endlich hatte er geendet. Er meckerte in seiner Weise ein Lachen vor sich hin. Die Herren lachten mehr oder weniger herzlich mit, die Damen hatten die Teetassen an den Lippen, so daß man ihre Mienen nicht gut betrachten konnte. Hierauf polterte ein Major ein paar Erinnerungen wach, sprach, lachte, fluchte und kommandierte in einem fort, ohne Rast, daß es klang wie Kleingewehrschnellfeuer … Und dann Der und Jener.

      Einer wußte auch von Ägypten zu erzählen. Lebendig schilderte er die Wüstenreise mit ihren Schrecken und Fährlichkeiten.

      Dann lehnte er sich zurück, sprach mit leiser, weicher Stimme von den Mondnächten am Nil und der Pracht des Lotos.

      Eine träumerische Rührung lag über allen, als er geendet. »Und nun kommt die Reihe an Sie, Herr Savant«, wandte sich die Frau vom Hause an einen etwa dreißigjährigen blassen Mann.

      Er erhob bei der Aufforderung sein großes, graues Auge. Um seine Lippen huschte unstät ein Lächeln.

      Ein irres, müdes Lächeln.

      Wie ein Mondstrahl in einer Herbstnacht durch ein Distelfeld geht.

      Aller Augen waren auf ihn gerichtet.

      Er betrachtete jetzt seine Fingernägel.

      Er seufzte leise.

      Und hub dann an, ohne aufzublicken.

      »Sie werden mir nicht Glauben schenken, wenn ich Ihnen sage: Ich habe noch nie etwas erlebt.

      Nie.

      Mein Leben rollt hin wie der Regentropfen vom Dache.

      Gleichmäßig, blöde, monoton.

      Und so war es immer.

      Und es ist schrecklich, daß es immer so war.

      Aber …

      Doch Sie sehen, gnädige Frau, ich wüßte keine erfreulichen Worte zu sagen, daher gestatten Sie mir zu schweigen.«

      Aber da gabs heftigen Widerspruch!

      Und die Hauswirtin scherzte in das allgemeine Geraune hinein: »Jetzt müssen Sie fortfahren, Herr Savant; Sie haben uns einmal neugierig gemacht, und wir Frauen können das nie ungestraft hingehen lassen.«

      Der junge Mann richtete sein Auge, als blickte er durch Alle hindurch, ins Weite.

      »So sei es«; lispelte er trocken.

      »Muß weit ausholen; will es aber kurz machen. In meinem Herzen liegt ein Drang nach Großem, Mächtigem, Ungewöhnlichem! Immer, als Knabe schon, empfand ich diesen Drang. Ich las die Märchen alle in mich hinein. Und aus den Bruchstücken, die mir die schönsten schienen, baute ich das Märchen meiner Kindheit. Kein erlebtes, aber ein erträumtes. Denn die Tage meiner Jugend flossen so eintönig dahin, wie ein Bach im Flachland. Keine Erregung, kein Unfall, kein Geschehnis, das in meine Seele tiefer hätte greifen dürfen. Die Mutter war weich und empfindlich, mürrisch und düster mein Erzeuger. Ich empfand eine gewisse naturgemäße Anhänglichkeit, die ich gern Liebe genannt hätte, für sie. Frühzeitig starben beide. Ich weinte. Aber ohne Schmerz. Nur weil ich einen Druck in den Lidern fühlte. Dieselbe Last, die man zu empfinden vermeint, wenn man in allzu grelles Licht sieht.

      Herzlich gern ließ ich das Vaterhaus, seine düsteren Stuben voll steifbeiniger melancholischer Lehnstühle.«

      Der Baron hüstelte. Die anderen aber waren gespannt und blickten etwas unwillig nach dem Störer. Er schwieg also.

      »Hinaus«, fuhr der Erzähler, der nichts bemerkt hatte, fort »hinaus, dachte ich, gehst du jetzt in die Welt, ins Leben, von dem sie immer erzählt, daß es wild, stürmisch und wechselvoll ist. Du wirst kämpfen dürfen! Und ich zog hinaus.

      Aber ich mußte nicht kämpfen. Das Schicksal wollte es nicht. Ich fand Freunde meines Vaters,