Rainer Maria Rilke

Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge


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      »Was ist das?« wiederholte zaghaft und in kleinlautem Tone das Kind.

      »Siehst du, Willy«, sagte die Mutter ernst und fuhr mit dem Taschentuch leicht über die Augen, »da hinein in diese Truhen, da legen die Leute die Menschen, die der liebe Gott wieder zu sich nimmt von der Erde Große und Kleine.«

      »Dahinein?« flüsterte der Knabe, während seine Blicke noch immer mit Wohlgefallen auf dem Schaufenster ruhten.

      »Ja«, fuhr die Mutter fort, »auch den Papa haben sie in solch eine Truhe …«

      »Aber«, unterbrach sie der Kleine, dessen Gedanken noch bei der ersten Erklärung weilten, »warum nimmt denn der liebe Gott kleine auch zu sich. Die müssen wohl sehr brav sein, wenn sie so bald in diese schöne Kiste kommen und dann im Himmel gleich Englein sein dürfen? Nichtwahr?«

      Die Mutter umfaßte ihr Kind innig und herzlich.

      Sie kniete nieder und schloß mit einem langen Kusse die frischen Lippen. Der Kleine fragte nicht mehr. Er wandte sich rasch wieder dem Fenster zu und blickte auf die großen Auslagescheiben. Ein glückliches vergnügtes Lächeln strahlte auf seinem Gesichtchen.

      Die Mutter aber saß wieder über ihre Arbeit gebeugt.

      Plötzlich aber schaute sie auf.

      Tränen rollten über ihre bleichen Wangen.

      Sie ließ den Stoff sinken, faltete die Hände und sprach leise mit bebender Stimme: »Lieber Gott, erhalte mir ihn!«

      Eine dunkle, sternenlose Septembernacht. In den Zimmern des Zwischenstockes war es still. Nur das Ticken der Wanduhr vernahm man und das Ächzen des Kindes, das dort vom Fieber gerüttelt im kleinen Bettchen sich wälzte. Die Mutter beugte sich über den armen Willy. Der rötliche Schein der müden Nachtlampe huschte über ihr abgezehrtes Gesicht.

      »Willy! Mein Kind, mein Herz, willst du etwas?« Nur unzusammenhängende wirre Laute. »Hast du Schmerzen?«

      Keine Antwort.

      »Gott, mein Gott, wie kam denn das nur alles!« Rasch und verworren hastet es durch die Erinnerung der gequälten Frau. Ja, jener Abend. Nach dem Spiel. Kaum eine Woche ist es. Wie erhitzt er war, und der Herbstnebel, sagt der Doktor. Und jetzt, jetzt er gibt keine Hoffnung mehr. Wenn nicht die gesunde Natur … sie konnte es nicht begreifen. Hat er nicht gerufen?

      Da, wieder, ganz leise: »Mutter!«

      »Was ist denn, mein Kind?«

      »Das war … das war schön«, stammelte der Kleine, während er sich mühsam aufsetzte und das fieberrote Gesichtchen an den Arm der Mutter lehnte.

      »Der liebe Himmelvater hat mir gesagt, ich soll zu ihm kommen. Nicht wahr, ich darf, Mamachen!

      Erlaub … bitte«, und er faltete die kleinen, heißen Hände. Da erfaßte ihn das Fieber von neuem. Er sank zurück. Die arme Mutter breitete sorgfältig die Decke über ihn. Dann, von ihrem Schmerze übermannt, glitt sie auf die Kniee und, beide Hände krampfhaft an den Rand des Eisenbettchens gekrallt, betete sie leise … wirr, unzusammenhängend.

      Die Uhr schlug acht mal. Durch das Fenster drang spärlich das fahle Licht des Herbsttages. Die Dielen erschienen grau, und die Gegenstände warfen schwere, schwarze Schatten. Die Frau dort erhob sich von den Knieen, setzte sich wieder zur Seite des Bettchens hin und starrte mit tränenlosen, brennenden Augen ins Leere. Der Kleine schlief jetzt etwas ruhiger. Sein Atem aber ging sehr schnell, die Stirne war heiß und die Wangen gerötet. Die Mutter legte die Hand leise auf die blonden, zerzausten Locken, und saß still. Nur wenn zu laute Stimmen auf der Treppe widerhallten oder eine Tür im Hause jäh zuschlug zuckte sie zusammen.

      »Papa, Papa!« schrie das Kind auf einmal und warf sich auf die andere Seite. Die Witwe erschrak. Willy aber lag wieder ruhig. Auf der Straße fuhr ein Wagen vorüber. Das Rasseln verhallte allmählig. Das Rauschen der Besen klang über den Gangsteig.

      »Lieber Gott, lieber Gott, bitte!« stöhnte der Kleine. »Ich … ich … war brav … Du kannst die Mutter fragen!« Die Mutter faltete zitternd die Hände. Jetzt öffnete Willy langsam die Augen. Erstaunt schaute er umher. »Ich war im Himmel, Mutter«, flüsterte das Kind »im Himmel … aber nicht wahr … nicht wahr«, sprach das Kind lebhaft, »du wirst mich auch in die schöne, goldene Kiste legen, Mama weißt du, die dort drüben.« Er lächelte beglückt: »In die, wo die zwei Englein daraufsind.« Die Mutter schluchzte laut auf. »In die, versprich mir …« In entsetzlicher Angst faßte die Witwe die beiden Händchen ihres Lieblings fest. »Gott! Gott!« betete sie. Mehr konnte sie nicht sagen. Da empfand sie, wie ein kalter Schauer durch die Hände des Kindes ging, ein Zucken sie schrie auf.

      Alle Röte war aus den Wangen des Kindes gewichen. Die Lippen bewegten sich noch dann ward es ganz still.

      Sie starrte das kleine Körperchen an.

      Eiseskälte schien davon auszugehen.

      Sie umfaßte die kleinen Glieder und drückte sie an sich. Umsonst!

      Nur das Lächeln blieb um die starren Lippen der kleinen Leiche, dieses glückselige Lächeln!

      … Und die farblose Herbstsonne glitzerte drüben auf den Särgen und auch auf dem schönen, kleinen, goldenen. Die große Spiegelscheibe warf den Strahl zurück in das Zimmer im Zwischenstocke, und der fahle Schein huschte ängstlich über das bleiche Gesichtchen des armen kleinen Willy und verlor sich allmählich auf der weißen Fläche der Wand …

       Inhaltsverzeichnis

      Sie hatte gar Niemanden auf der Welt, die kleine Antje. Es war ein Waisenkind. Die Dorfgemeinde mußte für ihre Erziehung sorgen. Erziehung?

      Nun, dafür, daß sie die Schule besuchte. Sonst kümmerte sich Niemand um sie. Der Bauer im roten Hof gab ihr’s Essen. Aus Erbarmen. Kam sie nicht zur Zeit auch gut, dann hatten die Knechte um einen Bissen mehr. War ihnen so ein Dorn im Aug’ diese kleine Betteldirn. Selbst wegen dieses einen Bissens.

      Auch mit der Schule ging’s nicht. Sie hätt’ schon Manches gewußt, wenn der Lehrer fragte; aber wenn sie’s hatte sagen wollen, so lachten die Andern, dann begann sie zu weinen und die Andern lachten noch mehr. Zuletzt ging sie gar nimmer hin. Niemand vermißte die Kleine.

      Nun lief sie wohl den ganzen Tag träge umher? Nicht doch. Schon früh saß sie draußen am Rain des Mohnfeldes und strickte.

      Ja, das hatte sie das Mütterchen noch gelehrt. Das arme gute Mütterchen! Langsam ging’s freilich vorwärts mit den langen spitzen Nadeln und den kleinen, ungeschickten Fingerchen. Aber es ging doch. Und allein war sie auch nicht. Rund um sie herum am Rande des Grabens saß ein ganzer Hofstaat. Lauter Püppchen aus Mohnblumen gemacht. Größere und kleinere. Lichtrote und dunkle. Die schönste von ihnen war die Königin. Die thronte auf einem kleinen körnigen Stein, der in der Sonne glänzte und glitzerte wie lauter Gold.

      Und da gab’s in diesem vornehmen Kreise mancherlei Kurzweil. Antje saß ganz ernsthaft da und erzählte der Königin Geschichten. O, sie wußte auch welche. Vom Sneewittchen, von Zwergen und Riesen, Geistern und Kobolden. Die Königin hörte, und ihre roten Hofdamen nickten hin und her mit den Köpfen.

      Wenn sie genug erzählt hatte, dann mußten die Püppchen alle mit einander tanzen. Immer zwei und zwei. Nur die Königin blieb sitzen und sah dem Reigen zu. Dann setzten sie sich wieder alle hin, der ganze Hofstaat. Die Königin aber war sehr streng. Wenn eine von den Hoffräuleins umfiel, dann gab’s keine Gnade, dann mußte sie sterben. Dann nahm Klein-Antje die Verurteilte zu sich und durchbohrte ihr den schönen roten Leib mit der Stricknadel ganz ganz …

      Heute strickte Klein-Antje fleißiger denn je. Als sie von der Arbeit aufblickte, gewahrte sie, daß die Hofdamen alt und sogar die Königin schon ganz welk