Rainer Maria Rilke

Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge


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flimmernde Abendstille lastete über dem Mohnfeld. Die Luft war ruhig, so ruhig, daß man Antjes Herz hätte schlagen hören müssen wenn es nicht ein gar so kleines Herz gewesen wäre, das gar leise schlug.

      Antje wollte noch nicht heim. Hier war es ja viel schöner, als dort bei der fremden Bäuerin unter’m niedern Dach, wo es immer Schläge gab. Und sie fürchtete sich so vor Schlägen. Mutter hatte sie nie geschlagen, nie.

      Tränen traten der Kleinen in die Augen. Sie fühlte sich auf einmal so verlassen auf der großen, weiten Welt. Über ihre blassen, zarten Wangen rollte es so heiß. Sie hatte nur ihre Püppchen!

      Ja, sie wollte sich neue holen schöne frische. Sie wollte sie wieder vor sich setzen und Märchen erzählen. Sie weinte nicht mehr. Als sie die toten Hofdamen zusammenraffte, da huschte es sogar wie ein Lächeln um den Kindermund.

      Den Strickstrumpf nahm sie auch mit in der linken Hand. In der rechten hielt sie den welken Mohn. So lief sie weit ins Feld hinein, dorthin, wo die schönsten, größten blühten.

      »Das wird eine Königin!« jauchzte sie und bückte sich, um eine prächtige Blume zu brechen.

      Da vernahm sie hinter sich rauhe Scheltworte. Der Bursche, der das Feld hütete, kam auf sie zu, einen tüchtigen Knüttel schwingend. Antje schrie auf, raffte sich empor und lief was sie konnte feldein. Hinter sich hörte sie die Tritte des Wächters immer näher.

      Sie lief und lief. Ihre Wangen waren sehr rot. Sie keuchte vor Anstrengung und Furcht. In der Linken preßte sie noch immer krampfhaft den Strumpf, in der Rechten trug sie die Mohnblumen.

      Jetzt war der Bursche ganz nahe.

      Sie nahm alle Kräfte zusammen. Sie drückte die Arme gegen die Brust … Da strauchelte sie über eine Erdscholle. Sie fiel. Ein Schrei.

      Dann blieb sie ganz still liegen.

      Mit einem Fluch beugte sich der Wächter über sie; rauh faßte er die Kleine am Arm und hob den Stock. Aber plötzlich ließ er ihn sinken.

      Da über die Blüten und über die Hand des Kindes träufelte etwas Rotes … er wandte den kleinen Körper um. Das Mädchen rührte sich nicht. Unter dem verwaschenen ärmlichen Schürzchen quoll Blut über die Brust.

      Die Stricknadel war ins Herz gedrungen. Die blauen Kinderaugen waren offen. Um die Lippen lag noch der Zug von Furcht und Schrecken.

      Klein-Antje war tot.

      Die bunten Mohnblumen ringsum aber neigten sich über ihre arme Freundin und flüsterten leise im Abendhauch …

       Ein Charakter: Skizze (1895/96)

       Inhaltsverzeichnis

      So ein rechter Begräbnistag. Feucht, finster, dickatmig. Der vierspännige Totenwagen rollte schwer über die glatten, runden Pflastersteine, die im Herbstlicht wie kahle Schädel glänzten, und seine Räder furchten tief die grauen, schmutzigen Lachen. Die Knechte der Leichenbestattungsanstalt trollten mürrisch mit den schwelenden Lichtern nebenher. Ihnen folgte die Menge der Leidtragenden. Von den Frauenzimmern zeugte nur eine dichte Reihe schwarzer Schleier, die sich wie berußte Spinngewebe zwischen dem Leichenkarren und den blanken Cylinderhüten der männlichen Trauergäste ausspannten. Die vorzüglichste Beschäftigung der ganzen, tiefbetrübten Gesellschaft war, Kleider und Hosen vor dem aufspritzenden Kot zu hüten; mit rührender Aufmerksamkeit tappten sie nach denjenigen Steininseln, die am meisten aus der unermeßlichen Flut aufragten; und auf so manchem Gesichte stand der wohlwollende Wunsch zu lesen, der Selige hätte besseres Wetter für seine beschwerliche Reise abwarten mögen. Zwei Herren nur, die in der dritten Reihe gingen, unterhielten sich ziemlich rege. An den Mienen konnte man ablesen, daß sie menschlich-milde Musterung hielten über des Verstorbenen Taten und Erlebnisse. Das endliche Ergebnis schien recht befriedigend. Sie nickten sich zu mit jenem ernsten Blick, der bei Leichenbegängnissen und anderen öffentlichen Festlichkeiten das geheime Erkennungszeichen biederer Männer bildet. Dann strich der eine sich die Falten im Gesichte glatt und raunte mit schwerwiegender Bewegung des rechten, schwarzen Handschuhs: »Ein Charakter.« Der Nachbar fand diesen Ausdruck so treffend, daß er nur imstande war, denselben mit verstärkter Betonung nachzusprechen: »Ein Charakter.« Und jetzt noch einmal der Biedermannsblick; dabei trat der eine so heftig in eine Pfütze, daß sein Hintermann ein unwilliges Gebrumm vernehmen ließ. Dann sprach keiner von beiden mehr ein Wort. Es ward still. Nur die Räder des Totenwagens knarrten, und die getretnen Lachen glucksten leise.

      Der »Charakter« war zur Welt gekommen als Sohn eines Mannes von mäßigem Wohlstande. Herr M., der Vater, besaß ein kleines Haus, einen großen Ehrbegriff und ein züchtiges Ehweib. Also ziemlich viel.

      Noch atmete der kleine M. nicht die Carbolluft der Wöchnerinnenstube, als die Frauen, welche der jungen Mutter beistanden, schon unter einander Blicke tauschten und tuschelten: »‘s wird ein Bub.« Sie verfolgten jede Bewegung der Frau, um in immer erregterem Tone ihre Vermutung auszusprechen. Und als endlich auf die brennende Frage die lebendige, rotbraune, faltige Antwort kam, da wars ein Bub! Der kleine M. wuchs und ward wie jeder andere; es kam die Zeit, da sich seine weichen Vorderfüßchen in ebensolche Hände umwandelten, und da die Finger dieser Hände nicht mehr auf den Dielen kribbelten, sondern mit Vorliebe sich in Mund und Nase aufhielten. Darauf folgten die Jahre der Christbäume und Schaustellungen. Der Knabe wurde jede Woche ein-bis zweimal in die eiskalte ›gute Stube‹ gerufen; dort glotzte man ihn an, betastete ihm Haare, Wangen und Kinn, lehrte ihn fein artig Pfoten reichen und gegebenen Falls seinen klangvollen Vornamen mit bescheidener Größe aussprechen. Alle Welt fand ihn allerliebst, dem Vater, der Mutter, dem oder jenem Oheim »aus dem Gesicht geschnitten«, und wenige schieden ohne die erhabene Weissagung, der Knabe wird sich gewiß auch in der Schule seinerzeit sehr brav erweisen. Der Kleine hatte diesen Ausdruck hellseherischer Bewunderung oft genug vernommen. Und ohne viel Mühe, ja, ohne eigentlich zum Bewußtsein seines Erfolges zu kommen, überstand er die Volksschule, kletterte mit rühmenswerter, etwas pedantischer Sicherheit die acht Sprossen der Gymnasialleiter aufwärts und ging dann noch ein Jahr in den Hörsälen der Universität ein und aus, worauf er in der Stille der väterlichen Schreibstube verloren ging. Eines Tages munkelte man, der junge M. werde die Leitung des Geschäftes aus den Händen seines alternden Erzeugers nehmen, und kurz darauf geschahs. Der Vater starb bald, und der neue Herr wußte das Ansehen des Hauses zu wahren durch strenge Pünktlichkeit und ziemlichen Fleiß. Oft vernahm der unschlüssige Kaufmann aus dem Munde seiner Freunde, daß man sich erzähle, er habe große Unternehmungen vor, und staunender Bewunderung voll über den ihm zugeschriebenen Tatendrang begann er wirklich so manchen von seinen unterschobenen Plänen auszuführen; und so mancher gelang. So ging Jahr um Jahr hin. Die Verwirklichung der ihm vom Gerede der Menge zugesprochenen Absichten hatte seinen Wohlstand bedeutend vergrößert und nichts war natürlicher, als daß die Munkelmänner sich von der bevorstehenden Verlobung M.‘s manches zuraunten. Das Gerücht kam zu seinen Ohren; er wandte von da ab fast unwillkürlich seine Aufmerksamkeit der bezeichneten Braut zu, und in wenigen Wochen rieselte das säuselnde »Ja« der Erwählten in den rauschenden Brummbaß des jungen Gatten. Er hatte auch diesmal nicht die Erwartung der Leute getäuscht; er war ja doch ein Charakter!

      Längere Zeit planten die guten Bürger in M.‘s Wohn-und Vaterstadt den Bau eines Theaters. Nun weiß jedermann, daß noch kein Bühnenhaus aus gutem Willen, sondern sogar die allereinfachsten wenigstens aus schlechten Brettern errichtet worden sind. Von dem ersteren Material besaßen die Leute genug, zur Beschaffung des letzteren fehlte das Geld. Die fürsorglichen Stadtväter setzten die gerunzelten Stirnen früh morgens auf, und es wurde übel genug vermerkt, wenn einer das Zeichen ernster Würde abends beim Biertisch aufzubehalten vergaß.

      Wie ein Frühlingssturm flog da einst das Gerücht durch die Stadt, M. habe beschlossen, das zum Baue des Musentempels nötige Geld vorzustrecken. Und wie der Lenzwind die Vogelstimmen wachweckt, so rief diese Nachricht allenthalben klangreiches Lob hervor. Eine Abordnung des Stadtrates, das tauige Winterapfelgesicht des Herrn Bürgermeisters