Victoria Arlen

Aufgetaucht


Скачать книгу

stehe dir bei;

      hab keine Angst, denn ich bin dein Gott!

      Ich mache dich stark, ich helfe dir,

      mit meiner siegreichen Hand beschütze ich dich!

      Jesaja 41,10

      Zu meiner Überraschung verschwindet die Angst tatsächlich, und eine unglaubliche Ruhe und Liebe umgeben mich auf einmal. Ich kann es nur als Gottes Liebe beschreiben. Er hält mich, und ich weiß plötzlich wieder: Egal, was passiert, es ist gut. Das ist eine prägende Erfahrung, die ich an diesem absoluten Tiefpunkt mache: Selbst in einem der schlimmsten Momente meines Lebens ist Gott an meiner Seite. Er hält mich, er liebt mich und er beschützt mich. Auch wenn ich – menschlich gesehen – allein bin, weiß ich, dass ich nicht allein bin, denn Gott ist bei mir. Nun spüre ich totalen Frieden. Ob ich noch in dieser Welt bleibe oder ob ich gehe, ich habe Frieden.

      Es wird gut werden.

      Ich danke Gott im Gebet und versuche langsam, die Augen zu schließen.

      „Victoria?“

      Was?

      „Victoria, wach auf! Ich bin es, Mama.“

      Mama?

      Bist du es wirklich?

      Meine Mama kommt mit zwei Sanitätern und einer Krankentrage in mein Zimmer. „Ich bin bei dir. Wir bringen dich von hier weg.“ Ich höre, wie sie das immer und immer wieder sagt.

      Bin ich bereits tot?

      Oder ist das ein Traum?

      Ich bin verwirrt und habe keine Kraft, mich irgendwie zu bewegen, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich sie höre. Ich werde schnell auf die Trage gelegt, aus dem Zimmer geschoben und von der Station gebracht. Ich sehe die kahlen Wände und die Schwestern und Ärzte im Gang stehen. Dann sehe ich sie, die Frau, die mein Leben zur Hölle gemacht hat: F. Am liebsten würde ich ihr wie ein kleines Schulmädchen zurufen: „Ha, ha! Du kriegst mich nicht!“ Da ich das nicht kann, sage ich es nur in Gedanken und male mir aus, wie sie von einem wütenden Delfin eine Ohrfeige bekommt.

      Meine Eltern und ihre Anwälte sind unter dem Vorwand gekommen, dass sie mich in eine andere psychiatrische Einrichtung verlegen, die näher an unserem Wohnort liegt. Aber in Wirklichkeit bringen mich die Sanitäter in ein Krankenhaus in unserer Nähe, wo mich die Ärzte sachgerecht versorgen, bis ich so stabil bin, dass meine Eltern mich mit nach Hause nehmen können.

      Ha! Ha! Frau F.!

      Jetzt guckst du, was?

      Aber alles, was ich wirklich zu sagen habe, ist:

      Danke! Gott! Du hast mich gerettet!

      An dem Tag, an dem ich diese Horror-Station verlasse, erlebe ich, dass Gott unsere Gebete immer erhört. Nicht unbedingt dann, wenn wir es wollen, oder so, wie wir es erwarten. Aber das Timing spielt keine Rolle. Ich bin gerettet und ich bin aus der Hölle befreit, in der ich gefangen war. Mit ist bewusst, dass der Kampf noch nicht zu Ende ist, aber es ist ein guter Anfang.

      Die Lichter werden wahrscheinlich irgendwann trotzdem endgültig ausgehen, aber ich bin bei Menschen, die mich lieben und die mir helfen wollen.

      4

      Dunkelheit

      Ende August 2006 bis Dezember 2008

      Dunkelheit. Im Lexikon wird Dunkelheit als „Abwesenheit von Licht, Finsternis, Fehlen von Wissen oder Aufklärung“ definiert. Diese Definition fasst die Zeit zwischen Mitte August 2006 und Ende Dezember 2008 perfekt zusammen. In dieser Zeit bin ich total schwach und sowohl körperlich als auch mental sehr fragil. Mein Gehirn ist verwirrt und ich durchlaufe verschiedene Bewusstseins-Phasen. Manchmal bin ich klar, aber dann bin ich wieder unfähig, selbst die einfachsten Aufgaben und Aktivitäten zu begreifen. Oft ist mir nicht bewusst, wer ich bin, wo ich bin, und wer die Menschen sind, die mir am nächsten stehen. Ich bin verloren, so verloren. Es ist unglaublich schwer, über diese Zeit zu schreiben, da ich, ehrlich gesagt, nur wenig oder gar keine Erinnerung daran habe. Dieses Kapitel fällt also kurz aus.

      Mein Leben und meine Tagesabläufe sind schnell zusammengefasst. Da ich nichts erklären kann und keine Fragen beantworten kann, bleibt meiner Familie nichts anderes übrig, als jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt. Sie gehen auf meine jeweilige Verfassung ein. Meine Familie hört nicht auf, für mich zu kämpfen, Antworten zu suchen und mich bedingungslos zu lieben. Sie tun mir ehrlich leid. Ich lebe nicht; ich existiere grade noch so. Trotzdem kümmern sie sich um mich und bringen mir so viel Liebe und Unterstützung und Freundlichkeit entgegen. Die meisten denken jetzt vielleicht: Das ist doch selbstverständlich. Dazu sind Familien doch da. Aber mir ist bewusst, dass nicht alle Familien so sind. Die meisten werden irgendwann müde und sind mit einer solchen Ausnahmesituation auf Dauer einfach überfordert. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das öfter passiert, als man denken würde.

      Trotzdem sucht meine Mutter, da sie immer noch keine Antworten auf die Ursache meines Zustandes hat, überall nach Behandlungsmöglichkeiten, um ihre Tochter zurückzubekommen. Sie liebt mich bedingungslos und kümmert sich bewundernswert um mich. Meine Eltern und Geschwister versuchen, normal zu sein und zu einem Leben außerhalb des Krankenhauses zurückzukehren. Meistens kann ich bei ihnen zu Hause sein. Mein Zustand ist stabil und verschlechtert sich nicht; verglichen mit der Verfassung, in der ich vor nicht allzu langer Zeit noch war, ist das eine gewisse Entspannung. Meine Mutter sucht verschiedene Heilpraktiker auf und findet Möglichkeiten, meinen Körper am Leben und halbwegs stabil zu halten. Die Ärzte wissen immer noch nicht, was meinen Zustand ausgelöst hat, aber sie finden zumindest die Ursache für die Schmerzen. Es gibt kaum eine schlimmere Pein als Nervenschmerzen. Und genau an diesen Schmerzen leidet mein Körper. Nach mehreren Versuchen mit verschiedenen Medikamenten finden die Ärzte schließlich heraus, dass ein bestimmtes Medikament gegen die Symptome, die mich von Anfang an außer Gefecht gesetzt haben, hilft. Nach fast neun Monaten bin ich endlich schmerzfrei. Dass diese Qualen nun vorüber sind, ist für meine Familie eine große Erleichterung und macht mein Leben definitiv etwas leichter. Trotz meiner sehr hohen Schmerztoleranz bin ich unglaublich froh und erleichtert, dass ich das nicht mehr ertragen muss.

      Die Schmerzen waren echt.

      Ich war nicht verrückt.

      Leider ist diese Erleichterung aber nur von kurzer Dauer.

      Die Ärzte können immer noch nicht diagnostizieren oder erklären, was mit mir los ist. Und so lebt meine Familie mit der Ungewissheit und versucht ihr Möglichstes, damit mein Zustand stabil bleibt und sich nicht wieder verschlechtert.

      Ich bin wie eine Zweijährige im Körper eines Teenagers. Menschen versuchen, mit mir zu sprechen; Freunde, die mich kennen, seit ich fünf war, sind für mich Fremde, weil sich mein kognitives Bewusstsein immer wieder ausschaltet. Oft sind mir sogar meine eigenen Familienangehörigen fremd. Ich bin eine vollkommen andere Person in einem Körper, der voller Erinnerungen an ein anderes Leben ist. Die Abläufe sind mechanisch, die Suche nach Antworten geht weiter, während ich immer noch in diesem fremden Körper gefangen bin.

      Ich bin ein Geist.

      Ich treibe.

      Ich treibe davon.

      In eine Welt, die ich nicht kenne.

      Mit einem Leben, zu dem ich keinen Bezug habe.

      Untersuchungen ergeben, dass die Blutgefäße in meinem Gehirn entzündet sind, aber die Ärzte können den Grund dafür nicht finden. Sie wissen auch nicht, wie man verhindern kann, dass es schlimmer wird. Doch genau das passiert. Ich bin eine tickende Zeitbombe. Und meine Familienangehörigen sind die wehrlosen Opfer.

      Schlag eins.

      Schlag zwei.

      Schlag drei.

      Das Spiel ist vorbei.

      Nach ungefähr anderthalb Jahren schaltet sich mein Körper noch mehr ab.

      Ich verliere … die, die Kontrolle.

      M-m-mein Körper reagiert nicht.