Victoria Arlen

Aufgetaucht


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Wunsch, zusammenzubleiben. Wir kommen gemeinsam in diese Welt und deshalb verlassen wir sie auch wieder gemeinsam – etwas in der Art. Mein älterer Bruder, LJ, ist mein Teddybär und Beschützer. Ich habe noch nicht einmal einen Freund mit nach Hause gebracht, dem er auf den Zahn hätte fühlen können. Und meine Eltern – oh, meine Eltern … Ich weiß, dass es sie in den Abgrund stürzen wird, wenn ich hier sterbe, und dann auch noch mutterseelenallein.

      Tief in meinem Inneren ist mir klar, dass ich noch nicht wirklich gelebt habe. Dennoch müsste ich meine ganze Willenskraft zusammennehmen, um nicht aufzugeben. Aber der Wille, am Leben zu bleiben, ist verglichen mit dem Wunsch, dieser Hölle zu entfliehen, einfach zu schwach. Deshalb bete ich so intensiv, wie ich noch nie gebetet habe.

      Bitte, Gott, rette mich aus dieser Hölle!

      Ich will ja nicht sterben.

      Aber ich kann hier nicht länger leben.

      Bitte, Gott.

      Lass mich hier nicht sterben.

      Rette mich!

      Ich habe Angst, die Augen zu schließen, weil ich nicht weiß, ob ich sie danach je wieder öffnen kann. Angst überrollt meinen Körper. Es ist, wie wenn ein Schwimmer von großen Wellen überspült wird und verzweifelt kämpft, um nicht unterzugehen, aber trotzdem spürt, dass er immer mehr versinkt.

      Bleib wach, Victoria.

      Bleib am Leben.

      Hab keine Angst.

      Sei stark.

      Angst ist ein alles beherrschendes, verwirrendes Gefühl. Man weiß nie, wie schwer sie zuschlagen oder was sie auslösen wird. Später werde ich erfahren, dass viele Faktoren zu der bodenlosen Angst beitragen, die ich in dieser Situation empfinde. Tief in meinem Herzen graut es mir davor, allein zu sein, stumm zu leiden und aus diesem Leben gerissen zu werden, ohne die Chance bekommen zu haben, wirklich zu leben.

      Wie kann meine Geschichte so enden?

      Misshandelt.

      Mit starken Schmerzen.

      Allein.

      Ein Opfer dieser Krankheit und dieses schrecklichen Ortes.

      Ich will leben und frei sein, aber ich weiß, dass das in diesem Moment schlicht und ergreifend unmöglich ist. Der Preis, um dieser Hölle noch länger meinen Überlebenswillen entgegenzusetzen, ist zu hoch.

      Ich kann nicht mehr kämpfen.

      Es tut mir leid.

      Es tut mir so, so, so leid.

      Ich kämpfe darum, die Kraft zu finden, in Würde zu sterben. Nicht zu weinen. Keine Angst zu haben. Stark zu sein und mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich nach Kräften gekämpft habe. Jetzt ist es Zeit, sich von allen zu verabschieden.

      Liebe Victoria,

      du hast es wirklich gut gemacht. Du hast ein gutes Leben geführt. Du hast Mathe kapiert und hattest immer gute Noten. Du bist schnell geschwommen, du hast deine Familie geliebt und du hast immer mutig gelebt. Dein Lächeln konnte ein ganzes Zimmer erhellen und wird auch im Himmel erstrahlen. Du hast schwer gekämpft. Und du hast NICHT aufgegeben. Leider waren die Schmerzen und diese Krankheit ein stärkerer Gegner, als sich irgendjemand hätte vorstellen können. Du warst in der Unterzahl – ein Kind, das gegen viel zu viele Feinde gekämpft hat, gegen deren Waffen du machtlos warst. Ich weiß, dass du dein Leben nicht so geplant hast und auch nicht vorhattest, dass es so enden würde, aber das ist okay. Manchmal läuft nicht alles nach Plan. Hab keine Angst. Obwohl es ein kurzes Leben war, war es ein gutes Leben. Ein wirklich, wirklich gutes Leben. Ein Leben, das nie vergessen werden wird. Es wird Zeit, die Flügel auszubreiten und endlich frei zu sein.

      Jesus, bitte nimm mich zu dir.

      An Gott:

      Danke, Gott, für ein schönes Leben. Bitte hülle meine Familie mit deiner und meiner Liebe ein. Lass mich jeden Tag, den sie leben, über ihnen scheinen wie die vielen Regenbögen, die ich früher so oft gemalt habe. Lass sie wissen, dass ich immer bei ihnen bin. Bitte halte sie, wenn sie um mich weinen, und beschütze sie, wenn die Trauer fast unerträglich wird. Und bitte lass sie nie vergessen, wie sehr ich sie liebe. Bitte lass meine Brüder mutig und furchtlos leben und lass mich der Wind unter ihren Flügeln sein.

      An meine Familie:

      Das Aller-, Allerwichtigste zurerst: Danke, danke, danke für die unglaublichsten elf Jahre, die man sich vorstellen kann. Ich kann nur lächeln, wenn ich an euch alle denke und daran, wie viel Spaß wir miteinander hatten. Das Haus am See, das Hockeyfeld, Skifahren, Tanzpartys und die vielen Ausflüge und Abenteuer – es war ein wunderbares Geschenk von Gott, dass ich Teil dieser Familie sein durfte. Ich war ein riesengroßer Glückspilz, weil ich euch alle in meinem Leben haben durfte. Und es tut mir so leid, dass es so enden muss. Mir fehlen wirklich die Worte, um zu sagen, wie sehr ich euch alle vermissen werde und wie viel mir jeder von euch bedeutet. Ich weiß, dass ich nur wegen euch allen überhaupt so lange durchgehalten habe. Ich habe mich so sehr bemüht zu kämpfen, weil ich mehr Zeit mit euch verbringen wollte. Es tut mir leid, dass wir nicht noch viel mehr Zeit miteinander haben können. William, Cameron und LJ, ihr wart die besten Brüder, die sich ein Mädchen je wünschen kann. William, ich werde es vermissen, dir beim Eishockeyspielen zuzusehen und mit dir Streethockey zu spielen und mit dir auf Bäume zu klettern und so zu tun, als wären wir Affen. Cameron, ich werde deine Umarmungen vermissen. Du hast mich immer zum Lachen gebracht und gesagt, ich sei schön. Ich werde es vermissen, dass wir die „drei Musketiere“ sind, die unzertrennlich waren. LJ, ich werde vermissen, wie du mich beschützt und auf mich aufgepasst hast und mir immer ein Lächeln entlocken konntest. Du warst das beste Vorbild und der beste große Bruder, den es geben kann, und ich werde nie vergessen, was du alles für mich getan hast. Jungs, ich hoffe, ihr lebt mutig und furchtlos, und ich bete, dass euch mein Tod nicht die Freude und euer Lachen raubt. Ich bete, dass ihr alle ein schönes und fantastisches Leben habt. Ihr wisst, dass ich bei euch bin, wohin ihr auch geht. Ihr seht mich vielleicht nicht, aber ihr sollt wissen, dass ich immer da sein werde. Ich werde nie von eurer Seite weichen.

      Und schließlich, Mama und Daddy, danke, dass ihr immer versucht habt, mir zu helfen, und dass ihr mich so wunderbar und leidenschaftlich geliebt habt. Es tut mir so weh, dass ihr nicht hier seid. Aber ich weiß, dass ihr unablässig für mich kämpft. Obwohl dieser Kampf leider nicht so ausging, wie wir es uns vorgestellt haben, sollt ihr wissen, dass ich weiß, dass ihr ALLES getan habt, um mir zu helfen, und dass es NICHT eure Schuld ist, dass ich es nicht schaffen werde. Ich liebe euch mehr als das Leben und wünschte mehr als alles andere, dass ich euch beide noch ein letztes Mal umarmen könnte. Ich werde dein Lächeln vermissen, Mama. Du verbreitest immer Licht und Wärme, wohin du auch gehst. Und Daddy, ich werde dein Lachen vermissen und deine vielen albernen Scherze und dass du immer Tweetie Bird zu mir gesagt hast. Es macht mich traurig, dass du mich nicht als Braut in die Kirche führen kannst. Ich werde immer dein kleines Mädchen sein. Ich hätte so gern mehr Zeit auf dieser Welt, aber ich werde euch alle sehr bald wiedersehen. Ich hätte mir nie vorstellen können, meine letzten Momente so zu verbringen. Bitte glaubt mir, dass ich euch alle sehr liebe. Es tut mir so leid, dass ich nicht länger durchhalten konnte. Lebt mit Licht und Liebe und ohne Angst. Tut das für mich.

      Ich werde immer über euch wachen, immer. Ich habe Angst, aber ich versuche, inmitten des Chaos und der Schmerzen einen Sinn und Frieden zu finden.

      Bitte, Gott, mach es einfach schnell.

      Ich halte das nicht mehr aus.

      Bitte. Bitte.

      Plötzlich werde ich an einen Bibelvers erinnert: „Ja, ich sage es noch einmal: Sei mutig und entschlossen! Lass dich nicht einschüchtern und hab keine Angst! Denn ich, der HERR, dein Gott, stehe dir bei, wohin du auch gehst“ (Josua 1,9).

      Bitte, Gott.

      Sei bei mir.

      Lass es schnell gehen.

      Lass mich gehen.

      Lass mich fliegen und frei sein.

      Ich habe