Victoria Arlen

Aufgetaucht


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sind begrenzt, und man muss sich ausweisen, um überhaupt eingelassen zu werden.

      In dieser Zeit habe ich immer wieder kurze Phasen, in denen mein kognitives Bewusstsein wach ist. Ich habe viele Erinnerungen an diese Zeit, von denen ich die meisten am liebsten vergessen würde.

      In der Sonntagsschule habe ich gelernt, dass es Himmel und Hölle gibt. Der Himmel wurde als schöner Ort beschrieben, an dem Gott wohnt – ein Ort voll Liebe und Licht. Die Hölle hingegen wurde als sehr düsterer Ort beschrieben, an den böse Menschen kommen und wo es Feuer und Qualen gibt und viele sehr schlimme Dinge passieren. In meiner Zeit hier lerne ich, dass es auch auf der Erde eine Hölle gibt.

      Als ich in meine neue „Unterkunft“ geschoben werde, bin ich desorientiert und verwirrt, aber ich bin so weit bei Bewusstsein, dass ich merke, dass mich meine Eltern verlassen. Sie sagen mir immer wieder, dass sie mich lieben und dass sie mich bald wieder besuchen kommen. Ich will schreien und weinen, als sich meine Eltern verabschieden, aber mein Mund weigert sich, auch nur einen Ton herauszubringen.

      Bitte lasst mich nicht hier.

      BITTE!!!

      Als sie fort sind, packen mich grobe Hände an den Schultern und ich höre eine aggressive Männerstimme, die knurrt: „Deine Eltern kommen erst wieder, wenn du mit diesem Spielchen aufhörst. Ihnen kannst du vielleicht etwas vormachen, aber uns nicht.“ Ab diesem Moment weiß ich, dass ich an einem Ort bin, an dem ich keine Heilung und Hilfe erwarten kann.

      Sie werden mir nicht helfen.

      Sie halten mich für verrückt.

      Bitte, lasst mich hier raus!

      Lasst mich nach Hause.

      Ich bin nicht verrückt.

      Ich bin nicht verrückt.

      ICH BIN NICHT VERRÜCKT!

      Später erfahre ich, dass meine Mutter bei der Heimfahrt fast einen Nervenzusammenbruch erleidet. Als sie zu Hause ankommen, fängt sie an, sich über den Ort zu informieren, der ihrer Tochter angeblich „helfen“ soll. Aber sie stellt schnell fest, dass ich nicht in einer „Einrichtung für Rehabilitation und Schmerztherapie“ gelandet bin, sondern auf einer psychiatrischen Station. Meine Eltern fangen sofort an, eine Möglichkeit zu suchen, mich wieder herauszuholen.

      Ich bin gefangen.

      Sie werden mich umbringen.

      Ich erinnere mich, dass ich dort gequält werde und dass man mir immer wieder sagt:

      „Wir glauben dir nicht.“

      „Hör auf mit diesem Spiel!“

      „Deine Mami ist nicht da und kann dir jetzt nicht helfen.“

      Anscheinend versuchen sie, mir Schmerzen zuzufügen, um mich „zu brechen“, damit ich „mit diesem Spiel aufhöre“.

      Ich verstelle mich NICHT!

      Kann mir jemand helfen!

      Bitte!

      Viele Pfleger und Schwestern gehen grob mit mir um, aber eine Schwester ist besonders schlimm. Ich erinnere mich, dass sie Mitte fünfzig ist und korpulent. Sie trägt eine dicke Brille, hat graublondes Haar und einen runden Haarschnitt. Nennen wir sie einfach F.

      Jeden Morgen verfrachtet mich F unter eine kalte Dusche und verspottet mich, wenn die Kraft in meinem Oberkörper nachlässt und ich auf dem Duschhocker zusammensacke. Ich kann kein Essen schlucken, aber da F glaubt, ich würde das alles nur spielen, werde ich zwangsernährt. F stopft das Essen in meinem Mund und wenn es in meinem Hals stecken bleibt, huste ich und ringe nach Luft. Erst wenn ich kurz vor dem Ersticken bin, hört sie damit auf. Das wiederholt sich immer und immer wieder. Sie fragt natürlich auch nicht, was ich mag oder nicht mag. Da ich „mich weigere, mein Essen zu schlucken“, bringen sie und eine andere Schwester mich in ein Zimmer, in dem mir F brutal eine Magensonde in die Nase schiebt und mir Flüssignahrung einflößt. Statt die Sonde anschließend in meiner Nase zu lassen, reißt sie sie heraus und wiederholt diese Tortur bei jedem Essen, dreimal am Tag. Später erfahre ich, dass Magensonden nicht mehrmals am Tag eingeführt und wieder herausgezogen werden müssen. Als meine Mutter fragt, warum sie die Sonde nicht einfach drinnen lassen, antwortet die Stationsschwester: „Wir verfolgen das Ziel, dass Victoria wieder isst. Dazu können wir sie nur bringen, wenn die Ernährung über die Sonde für sie unangenehm und keine schöne Erfahrung ist.“ Natürlich schäumt meine Mutter vor Wut über, aber ihr sind die Hände gebunden.

      Ich bin in einer sehr verwirrten Verfassung. Durch diese Misshandlungen fühle ich mich wie eine Gefangene, die ein schlimmes Verbrechen begangen hat.

      Bitte lasst mich einfach nach Hause.

      Ich habe nichts verbrochen.

      Ich habe nie verstanden, warum Menschen andere absichtlich verletzen. Schon als Kind konnte ich mich furchtbar aufregen, wenn ich sah, wie Kinder unfreundlich zu anderen waren. Ich habe jeden Abend zu Gott gebetet, dass sich alle lieben und einander helfen sollen.

      Selbst wenn die Pfleger und Ärzte auf dieser Station überzeugt sein sollten, dass sie mir mit ihren groben und brutalen Methoden helfen könnten, so muss ich doch sagen, dass Unfreundlichkeit nie hilft. Und selbst wenn meine Krankheit psychischer Natur wäre: Wie sollte sich mein Zustand dadurch, dass mir noch mehr Schmerzen zugefügt werden, bessern? Ich finde, jede Art von Behandlung sollte von Liebe geprägt sein. Egal, ob eine Krankheit nun körperliche oder psychische Ursachen hat: Misshandlung ist immer ein absolutes „No go“. Wenn man einem Menschen bewusst neue Schmerzen zufügt, vertreibt das seine bisherigen Schmerzen ganz sicher nicht.

      Und noch etwas: Meine Schmerzen sind nicht alle in meinem Kopf.

      Ich bin eine Gefangene.

      Ich befinde mich in einem Gefängnis aus Schmerzen.

      Meinen Eltern ist nur eine begrenzte Besuchszeit erlaubt und sie dürfen nicht bei mir übernachten. Die schlimmste Behandlung erlebe ich nachts. Ich habe mich schon immer vor der Dunkelheit gefürchtet, und an diesem Ort wird meine Angst vor der Nacht noch verstärkt.

      Je mehr Tage und Nächte vergehen, umso schwächer und teilnahmsloser werde ich. Das Krankenhauspersonal macht mir so viel Angst, dass ich zu niemandem mehr Augenkontakt herstelle. Ich halte meinen Kopf gesenkt. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigt ein graues, knöchriges, resigniertes Kindergesicht. Eingesunkene Wangen, glasige Augen ohne die geringste Spur des Funkelns, das früher darin getanzt hat.

      Wie kann dieser Zombie im Spiegel ich sein?

      Wo ist das lächelnde, energiegeladene, lustige Mädchen?

      Wo ist das Leuchten in den Augen?

      Ich hatte ein Grübchen in der linken Wange. Es war immer zu sehen, weil ich immer lächelte. Jetzt ist mein Gesicht zu ausgemergelt für dieses Grübchen. Ich kann nicht lächeln, ich kann nicht sprechen, und ich kann kaum den Kopf oben halten. Ich will das Entsetzen in den Gesichtern meiner Familie nicht sehen, wenn sie mich besuchen. Deshalb beschließe ich, ihnen nicht in die Augen zu schauen.

      Ich bin machtlos.

      Es gibt nichts Schlimmeres als das Gefühl, sich nicht wehren zu können.

      Warum lasst ihr mich hier allein?

      Später erfahre ich, dass sich meine Familie in dieser Zeit verzweifelt bemüht, mich aus dieser Einrichtung herauszuholen. Man sagt ihnen, dass ich nicht entlassen werden könne, weil ich psychiatrische Hilfe bräuchte. Aber meine Familie weiß instinktiv, dass mich dieser Ort umbringen wird, wenn sie mich nicht bald retten. Meine Eltern stellen ein Team aus Anwälten und Ärzten zusammen und erarbeiten einen Plan, um meine Entlassung zu erwirken. Zeitgleich kämpfe ich ums Überleben.

      Mitten in dieser Hölle auf Erden ist immerhin eine Krankenschwester, die freundlich und mitfühlend ist. Sie meint es wirklich gut mit mir. Sie kümmert sich um mich und unterstützt mich. Wenn meine Eltern zu Besuch kommen, sagt sie ihnen, dass ich nicht hierher gehöre und dass sie mich herausholen müssen.

      Aber leider wird diese