verhindern.
Nach diesem ersten Juli-Wochenende fängt mein ganzer Körper an, sich Stück für Stück abzuschalten.
Es ist, als würden die ganzen „Leitungen“, die meine Körperfunktionen steuern, eine nach der anderen „gekappt“. Wie die Stromleitungen im Haus, die dafür sorgen, dass die elektrischen Geräte funktionieren – Licht, Kühlschrank, Fernseher –, wird mein innerer Stromkreislauf nach und nach abgeschaltet. Eine Funktion nach der anderen wird immer mühsamer, bis irgendwann jede einzelne einfach ihren Dienst verweigert.
Ich, ich, ich kann nicht schlucken.
Das Essen steckt fest, Mama.
Zu essen war für mich nie ein Problem. Solange ich zurückdenken kann, hatte ich immer einen gesunden Appetit. Plötzlich stellt es eine körperliche Herausforderung dar, zu essen. Ich versuche zu schlucken, aber es fühlt sich an, als würde etwas meine Kehle blockieren. Mit jedem Schluck wird es schwerer und schwerer.
Husten! Du hast noch Essen im Hals.
Versuch es noch einmal!
Husten, husten, husten.
Das Essen steckt fest.
Noch einmal, komm schon, Victoria!
Husten!
Husten!
Ich bekomme keine Luft mehr! Hilfe!
Solche Situationen treten immer häufiger auf. Die Muskeln in meinem Hals und Mund werden schwächer und schwächer. Bis …
Bis der Schluckreflex überhaupt nicht mehr funktioniert.
Knips. Ausgeschaltet!
Die Fähigkeit, meine Beine und Zehen zu bewegen, habe ich bereits verloren, aber jetzt wird es auch mit meinen Armen und Fingern immer schlechter. Es ist, wie wenn ein Baby versucht, etwas zu greifen. Es weiß, dass es den Gegenstand oder das Spielzeug will, aber es bringt die Koordination nicht zustande, um seinen kleinen Arm an die richtige Stelle zu bringen. Ein kleines Kind versucht es und versucht es, immer und immer wieder, bis es schließlich gelingt und die Bewegung selbstverständlich wird.
Aber ich bewege mich in die andere Richtung. Einfache Dinge, wie ein Wasserglas zu halten, werden immer schwieriger. Ich will meine Hände und Finger bewegen, aber sie gehorchen mir nicht. Die Verbindung zu meinen Gliedmaßen wird immer schwächer, bis …
Bis ich meine Hände und Finger nicht mehr steuern kann.
Knips. Ausgeschaltet!
Ich brauche immer mehr Hilfe. Es wird ständig mühsamer, meine Selbstständigkeit nicht komplett zu verlieren. Um noch halbwegs allein zurechtzukommen, muss ich meine ganze verbleibende Energie aufwenden. Ich kämpfe um die Kontrolle über meinen Körper und darum, das Steuer in der Hand zu behalten, aber alles gerät außer Kontrolle und entgleitet mir in rasantem Tempo. Ich wache jeden Morgen auf und stelle fest, dass ich noch abhängiger von anderen geworden bin als am Vortag.
Ich verliere meine Selbstständigkeit.
Knips. Ausgeschaltet.
Dann tritt das ein, wovor ich die meiste Angst habe: Es gibt Momente, in denen ich mich an die einfachsten Dinge nicht erinnern kann: wer ich bin und wo ich bin und wer zu meiner Familie gehört. Es fühlt sich an wie ein Kurzschluss in meinem Gehirn, das sich offensichtlich immer wieder für einige Sekunden ausschaltet.
Solche Momente werden immer häufiger, und es fällt mir zunehmend schwerer zu sprechen. Ich weiß, was ich sagen will, aber ich finde die richtigen Worte nicht oder kann die Verbindung zwischen meinem Hirn und meinem Mund nicht herstellen. Dann wird der Schalter wieder umgelegt und alles ist gut. In der einen Minute weiß ich, wer meine Mutter ist, und in der nächsten weiß ich es nicht. Ich wechsle ständig zwischen klaren und dunklen Momenten hin und her und bete jedes Mal, dass es wieder hell wird.
Ich heiße Victoria Arlen.
Ich heiße Victoria Arlen.
Ich heiße Victoria Arlen.
Ich …
heiße …
?
Wie heiße ich?!
Wie heiße ich?!
Nein.
Nein.
Bitte, NEIN!!!
Lass das aufhören, Gott, bitte!
Mein Verstand …
Knips. Ausgeschaltet!
In meinen immer seltener werdenden lichten Momenten habe ich wenigstens noch meine Stimme. Ich kann mit meiner Familie kommunizieren und ihnen mitteilen, was ich erlebe. Aber dann, eines Tages …
Kann mich jemand hören?
Hallo!
Meine Stimme?
Meine Stimme!
Wo ist meine Stimme?!
Vollständig weg. Ich versuche, Worte zu formen, aber ich bringe nur ein mühsames, sinnloses Murmeln und Stöhnen heraus.
Meine Fähigkeit zu kommunizieren …
Knips. Ausgeschaltet!
*
Im Kunstunterricht in der fünften Klasse hatten wir einen Schraubstock, bei dem zwei Metallteile zusammengeschoben wurden, um dazwischen unser Kunstwerk einzuklemmen. Der Schraubstock sah aus wie eine Gerätschaft aus einem Wikingerfilm. Wie ein Folterinstrument für unsere armen Kunstwerke.
Genau so fühle ich mich jetzt. Als wäre mein Kopf in einen Schraubstock gezwängt und der Druck wird immer stärker und stärker, bis er unerträglich ist. Ich verliere aufgrund der starken Schmerzen immer häufiger das Bewusstsein oder will mich übergeben. Keine Entspannung oder Erleichterung, nur ständig dieser Druck und dieses Gefühl, dass mein Gehirn zusammengequetscht wird. Die rasenden Kopfschmerzen dauern eine gefühlte Ewigkeit. Aber es sind in Wirklichkeit nur zwei Tage. Dann wird alles dunkel.
Der letzte Schalter, der Lichtschalter …
Knips. Ausgeschaltet.
Ich versinke in einem schwarzen Loch. Nun bin ich in diesem dunklen Zustand gefangen, aber das ist mir nicht einmal bewusst. Ich habe mich von mir selbst, von meiner Familie und von allem, was ich kenne, zurückgezogen. Ich bin in meinem Gehirn gefangen, eingesperrt in einem Körper, der nicht mehr mit mir verbunden ist. Locked in.
Die Victoria, die meine Freunde kannten und die meine Familie liebte, gibt es nicht mehr. Das Licht ist erloschen und nichts funktioniert mehr. Alles, was mich ausmachte, ist fort. Ich bin fort.
Victoria Catherine Arlen, am 26. September 1994 in Boston, Massachusetts, als Tochter von Larry und Jacqueline Arlen geboren … ausgelöscht.
Die Hölle beginnt.
3
Die Hölle
Anfang August 2006
Rückblende. Als ich meine kognitiven Fähigkeiten nach und nach verliere, bringen mich meine Eltern wieder in die Notaufnahme einer angesehenen Kinderklinik in Massachusetts. Ich werde sofort stationär aufgenommen. Während dieses Krankenhausaufenthalts muss ich erneut jede Menge schmerzhafter Untersuchungen über mich ergehen lassen. Wieder ohne Ergebnisse. Nach einigen Tagen werden meine Eltern in ein Besprechungszimmer im Krankenhaus geführt, wo man ihnen von einer „Einrichtung für Rehabilitation und Schmerztherapie“ erzählt. Meine Eltern wollen mir unbedingt helfen. Sie machen sich große Sorgen, dass ich vielleicht sterbe, wenn sie mich mit nach Hause nehmen. Damals haben sie das Gefühl, dass ihnen kaum eine andere Wahl bleibt, als diesem Vorschlag zuzustimmen, wenn sie nicht das Risiko eingehen wollen, wegen unterlassener Hilfeleistung angezeigt zu werden.
Die Einrichtung für „Schmerztherapie“ ist in Wirklichkeit ein älterer, heruntergekommener Teil der Kinderklinik. Die Zimmer ähneln Schlafsälen,