zu forsch. Die Klinge glitt an der Kruste ab und ritzte seinen Zeigefinger. Ein paar Blutstropfen quollen hervor.
Es war, als ginge ein gefallener Engel durch den Raum.
Belladonnas Augen weiteten sich wie unter Drogen. Brunfelsias gestrenger Blick schmolz zu einem unbändigen Sehnen. Barbiturata erwachte aus ihrer Lethargie und fixierte den verletzten Finger. Ihre Schleier umflatterten sie wie die Schwingen einer Fledermaus.
Der Freiherr streckte seine Hand aus, schien sich aber gerade noch beherrschen zu können und bedeckte die Wunde des Kommissars mit einer Serviette. »Sie sollten vorsichtiger sein!«
Brandeisen erhob sich. »Ich fürchte, wir müssen auf den Nachtisch verzichten.«
»Was soll das heißen?«
»Leider können wir auch nicht übernachten.« Er zerrte Küps vom Stuhl hoch. »Nun kommen Sie schon!«
»Warum dieser überstürzte Aufbruch?«, fragte zu Fahlenstein überrascht. »Nicht so hastig, meine Herren. Festina lente!«
»Eile mit Weile«, raunte Brandeisen dem Kommissar zu. »Das ist der Wahlspruch von Graf Dracula. Nichts wie weg!«
Doch die Saaltür wurde von dem Butler und seinem buckligen Adlatus bewacht. Ihre grauen Gesichter wirkten abweisend und feindlich, eine Hellebarde befand sich in Griffweite. Der Staatsanwalt war sich sicher, dass die untoten Schergen den Ausgang mit ihrem Leben – oder was davon übrig geblieben war – verteidigen würden.
»Dann eben durchs Fenster.« Brandeisen schubste Küps vor sich her und gab ihm einen kräftigen Stoß. Das Bleiglas zersplitterte, und der Kommissar schoss wie eine Kanonenkugel nach draußen. Brandeisen hechtete hinterher.
Sie rutschten über die abschüssige Dachfläche und landeten auf dem Verdeck der Kutsche, wodurch der Sturz abgefedert wurde. Als sie wieder auf die Beine kamen, rannte der Staatsanwalt zu seinem Citroën und startete den Motor.
»Die Zugbrücke!«, rief er.
Neben dem Tunnelgewölbe befand sich ein Kasten mit einem großen roten Knopf. Küps drückte darauf und sprang in den Wagen.
Unendlich langsam senkte sich die Brücke. Im Rückspiegel tauchten zu Fahlenstein und seine Nichten auf. Brunfelsias Finger streckten sich ihnen wie Krallen entgegen. Belladonna bewegte sich wie ein Panther, bereit zum Sprung. Barbituratas Schleier wehten im Nachtwind, als wollte sie sich in die Lüfte erheben.
Der Staatsanwalt gab Gas.
Nach ein paar Kilometern fand der Kommissar die Sprache wieder. »Und was sollte das jetzt?«
»Haben Sie nicht gesehen, wie diese sogenannten Nichten Sie angestarrt haben? Wir sind in ein Vampirnest geraten.«
»Lesen Sie jetzt Heftchenromane?«
»Den Damen ist bei Ihrem Anblick das Wasser im Munde zusammengelaufen.«
»Ich habe eben eine gewisse Wirkung auf Frauen.« Küps zupfte Glassplitter von seinem Anzug und dachte an Belladonnas gelenkige Zehen.
»Die hätten Sie völlig ausgesaugt. Ein wahres Festmahl wären Sie geworden, wegen der Blutverflüssigung. In den Augen eines Vampirs sind Sie so etwas wie ein menschliches Partyfass.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Zu Fahlenstein wirkt zivilisierter. Vermutlich hat er jahrzehntelang ›vegetarisch‹ gelebt, um nicht aufzufallen. Er ernährte sich von Juraschafen und verirrten Touristen – bis diese Furien seine Ruhe störten. Brunfelsia ist der Kopf des Ganzen. Sie dürstet nach reinem Blut, wie es früher in Transsylvanien verfügbar war. Deshalb überfiel sie den Fahrradkurier. Die Informationen in seiner Tasche waren unbezahlbar. Nie mehr x-beliebige Teenager im Hain aussaugen, die vielleicht nur Blutgruppe Null haben. Oder Sandkerwaleichen mit jeder Menge Aperol Sprizz in den Adern. Der Nachgeschmack muss entsetzlich sein.«
Küps begriff. »Dann haben die sich ganz gezielt die Vermissten geschnappt. Drei junge Männer für die Nichten. Und das Mädchen für den Freiherrn.«
»Ein Schmankerl, damit der alte Gourmet wieder auf den Geschmack kam. AB Rhesus negativ ist quasi der Chateau Pétrus unter den Blutgruppen.«
»Schön, so fürsorgliche Nichten zu haben.«
»Papperlapapp!«, wies Brandeisen ihn zurecht. »Wir sind gerade noch einem schrecklichen Schicksal entronnen.«
Der Kommissar starrte eine Weile in die Dunkelheit. Sie fuhren schnell, die Bäume eines lichtlosen Tals wischten schemenhaft vorbei.
»Wenn die mich gebissen hätten, wäre ich also zum Vampir geworden?«, überlegte er laut.
»Ein Freifahrschein in die ewige Verdammnis.«
»Na und?« Er zuckte mit den Schultern. »Als erstes hätte ich mich pensionieren lassen, wegen Burn-out. Dann wäre ich im Schloss eingezogen. Der Freiherr braucht bestimmt einen Gärtner – genau der richtige Job für mich. Ich hätte mir einen hübschen Sarg gezimmert, für tagsüber. Und nachts … Diese Belladonna scheint anlehnungsbedürftig zu sein.«
»Sie kapieren es immer noch nicht«, sagte Brandeisen. »Die zu Fahlensteins halten sich für etwas Besseres, Adelsgesocks, um mit Ihren Worten zu sprechen. Die sehen auf Leute wie Sie herab. Entweder man hätte Sie behandelt wie einen Leibeigenen, oder Sie wären gleich als Blutwurst geendet. Wahrscheinlich ist es den vier Vermissten so ergangen.«
»Blutwurst?«
»Komplettverwertung. Wenn Vampire vom Blutrausch übermannt werden, etwa nach langer Abstinenz, lassen sie von ihren Opfern keinen Bissen übrig. Gehen Sie nicht ins Kino?«
Blutwurst war das Stichwort. Küps kam zur Besinnung. Er bat den Staatsanwalt, auf dem Rückweg nach Bamberg in einem Landgasthof zu halten. Nach diesem Vampirmenü brauchte er etwas Anständiges im Magen.
Es wurde ein opulentes Nachtmahl. Der Kommissar tat sich an einem Schäuferla gütlich. Brandeisen entschied sich für einen Karpfen und trank sogar ein Bier mit.
»Was die wohl mit Ihnen gemacht hätten, wenn Sie ein Vampir geworden wären?«, fragte Küps und züllte den Knochen der Schweineschulter ab. »Bei Ihrer Bildung!«
»Die drei Grazien studieren ja noch. Aber diese Blutsaugerei stelle ich mir extrem zeitraubend vor. Man muss die Opfer ausfindig machen und auf eine günstige Gelegenheit warten. Da kommt es leicht zu Überlastungen. Bestimmt hätte ich ihre Doktorarbeiten schreiben müssen.«
»Ist das nicht verboten? Plagiat und so?«
»Vampire und Freiherren nehmen es da nicht so genau.«
In der Morgendämmerung des folgenden Tages ging Brandeisen frisch ans Werk. Irgendjemand musste der Plage ein Ende bereiten. Er spitzte einen Satz Holzpflöcke an und packte seinen Campinghammer ein, des Weiteren Knoblauchzöpfe, Kruzifixe und Weihwasser. Aus der Stadtbücherei holte er die Vampirromane einer jungen amerikanischen Autorin, vor denen sogar Vlad, dem Pfähler, gegraut hätte.
So ausgerüstet fuhr er zu Küps. Das Radio lief.
Eine Eilmeldung. Das Verschwinden der mutmaßlichen Mordopfer hatte sich aufgeklärt. Die jungen Leute waren spontan zu einem mehrtägigen Rockfestival in Duisburg gefahren. Sie hatten einige Tage Amsterdam drangehängt und waren inzwischen wohlbehalten zurückgekehrt.
Die Lippen des Staatsanwalts bebten. Wieder ein Fall für die Außer-Spesen-nichts-gewesen-Statistik. Dabei war er sich dieses Mal so sicher gewesen!
Er überquerte die Markusbrücke. In der Nacht hatten sich wieder Vandalen an den Blumenkästen zu schaffen gemacht und die Geranien rausgerupft. Schande!
Und all die parkenden Autos in der Markusstraße, einige mit ortsfremdem Kennzeichen. Die hatten bestimmt keinen Anwohnerausweis.
Weiter zum Markusplatz. Ein Radler zischte gefährlich nahe an dem Citroën vorbei und überfuhr die rote Ampel.
Das war zu viel. Brandeisen nahm die Verfolgung auf.