Natrium- und Metalldampflampen zur künstlichen Beleuchtung sowie ein Energieschirm, der Wärmeverluste verhinderte und zugleich der Verdunkelung diente. Die Beete befanden sich auf verschiebbaren Rolltischen. Prompt erspähte Küps einen Schwarzkümmel, der gerade in Blüte stand, und nahm ihn näher in Augenschein.
»Schon der Prophet Mohammed schätzte diese Gewürzpflanze«, erklärte zu Fahlenstein. »Schwarzkümmel heilt jede Krankheit – nur nicht den Tod. So ist es überliefert.«
Küps strahlte. Sogleich entdeckte er weitere seltene Kräuter, thailändisches Pfefferblatt, Süßkraut, Weinraute und Gotu Kola, wie auf einem Schildchen vermerkt war.
»Ein Doldenblütler aus Indien. Regelmäßiger Verzehr soll verjüngend auf das Gehirn wirken.« Der Freiherr pflückte ein Blatt und steckte es in den Mund. »Ich gebe davon gern etwas in den Tee.«
»Was soll ich sagen? Respekt!«
»Wir haben auch Pflanzen, die der Gesundheit weniger zuträglich sind.« Sie gingen durch die Kräuterreihen und kamen in die Abteilung der Nachtschattengewächse. »Varietäten der Tollkirsche, Stechapfel, Bilsenkraut. Oder hier, die legendenumwobene Alraune. Ihre Wurzel hat manchmal die Form eines menschlichen Körpers. Sie nur aus der Erde zu ziehen, galt in früheren Zeiten als tödlich.«
Der Kommissar lachte. »Wie ein Hexenmeister sehen Sie mir nicht aus.«
»Ein Gärtner ist auch ein Bewahrer, meinen Sie nicht?« Zu Fahlenstein strich behutsam über die Alraunenblätter und setzte seine Führung fort. »Vermutlich fragen Sie sich, ob ein alter Kauz wie ich überhaupt Verwendung für eine solche Vielfalt an Gewächsen hat. Und wenn Sie es für einen Spleen halten, bekenne ich mich schuldig in allen Punkten der Anklage.« Vor einem weiteren Beet blieb er stehen. »Dies ist mein ganzer Stolz. Die Gattung Capsicum, auch als Paprika, Chili oder Peperoni bezeichnet.«
Chilipflanzen dehnten sich ins Unendliche, mit roten, gelben, grünen, violetten Schoten, in länglicher, bauchiger, konischer Form.
»Wir haben hier die klassische mexikanische Chili beziehungsweise Cayenne. Des Weiteren Kirschpaprika, Piment d’Espelette, Pimenton de la Vera, Habañero, Jalapeño, Thai-Chili, Malagueta aus Afrika. Und natürlich Bhut-Jolokia, die indische Geisterchili. Um nur einige zu nennen.«
Küps war beeindruckt, obwohl er selten scharf aß. Frau Küps verstand es, den Geschmack jedes Gerichts auf ein mehliges Minimum zu reduzieren, deshalb stellte er sich gelegentlich selber an den Herd. Wenn er Lust auf etwas Pikantes hatte, holte er sich ein Pfefferhuhn aus Köttensdorf.
»Ich hoffe, Sie mögen gut gewürzte Kost«, sagte der Freiherr, als hätte er die Gedanken des Kommissars gelesen. »Der Koch wurde angewiesen, für unser Diner ein entsprechendes Menü zu komponieren.«
»Ein ganzes Menü?«
»Aber ja! Scharf ist gesund. Chilis enthalten Capsaicin. Das revitalisiert Zellen, Arterien, Venen und Herz. Es senkt den Blutzuckerspiegel und steigert die Resistenz der Blutkörper gegen Bakterien.«
Küps horchte auf. »Hilft das auch gegen Cholesterin?«
»Gewiss! Verzehren Sie ein bis zwei Schoten Capsicum frutescens am Tag, und Sie fühlen sich gleich besser. Um Gewicht abzunehmen, ist es übrigens ideal, der Metabolismus verbrennt wegen des thermodynamischen Effekts mehr Kalorien.« Der Freiherr machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Vor allem hält Capsaicin das Blut flüssig. Es verhindert die Blutklumpenbildung.«
»So ein Mittelchen könnte ich gebrauchen. Das Ergebnis meiner letzten Untersuchung war nämlich … unerfreulich.«
Zu Fahlenstein legte dem Kommissar die Hand auf die Schulter wie ein Arzt, der seinen Patienten beruhigen will. »Mit Capsaicin in den Adern werden Sie ein ganz neuer Mensch. Zum Anbeißen, wenn Sie den kleinen Scherz erlauben.«
»Sie müssen es ja wissen, Herr Professor.«
»Im Ruhestand, mein Lieber, ich bin schon lange emeritiert. Doch manchmal sehne ich mich zurück nach bewegteren Tagen voller Leidenschaft und Gefahr.« Ein wehmütiger Gesichtsausdruck trat auf das Antlitz des Freiherrn, der früher ein großer Herzensbrecher gewesen sein mochte.
Küps dagegen hatte die Leidenschaft an den Nagel gehängt. Er galt nicht gerade als Charmeur, und aufgrund seiner Leibesfülle hielt er seine Anziehungskraft für eingeschränkt.
Er seufzte und blickte zum Dach des Gewächshauses empor. Durch einen Spalt des Energieschirms konnte man den Himmel erkennen. Der Polarstern war aufgegangen, hell, klar und unerreichbar.
Plötzlich wurde er von einem Schwarm Fledermäuse verdunkelt. Mit träge schlagenden Schwingen sanken die Tiere dem Burgfried entgegen.
In der Zwischenzeit studierte Brandeisen eine Faksimileausgabe mittelalterlicher Rechtsgeschichte. Auch er schwelgte in der Vergangenheit. Was waren das für Zeiten gewesen, als man noch guten Gewissens die Abtrennung eines Ohres oder einer Hand anordnen konnte! Als man die Wahl hatte zwischen Peitsche und Stock, selbst für geringe Vergehen wie Husten bei der Gerichtsverhandlung oder Blockieren der Kutsche des fürstbischöflichen Inquisitors. Wenn es diese Strafen heute noch gäbe, liefe der halbe Landkreis verstümmelt herum.
Doch als Libertin des Geistes versagte sich der Staatsanwalt sadistische Neigungen. Er klappte das Buch zu und sah sich weiter um. Bücherwürmer wären imstande, in dieser Bibliothek Wochen zu verbringen ohne sich eine Sekunde zu langweilen! Allein die Barockromane nahmen drei Regale ein.
Zu Fahlenstein schien ein Kenner zu sein. Auch bei den Romantikern war seine Sammlung bestens sortiert. Brandeisen vertiefte sich in die Hymnen an die Nacht: Hinüber wall ich, / Und jede Pein / Wird einst ein Stachel / Der Wollust sein. Ja, dieser Novalis wusste zu dichten!
Weiter ging die literarische Reise. Was für eine Wonne, die Fingerkuppen über altersglatte Buchrücken gleiten zu lassen. Ob zu erspüren war, welche Geheimnisse dahinter schlummerten?
Bei einem leicht hervorstehenden Band blieb Brandeisen hängen. Seltsam. Er versuchte, das Buch herauszuziehen, doch es steckte fest. Zugleich hörte er ein Geräusch, wie von einem aufschnappenden Riegel. Das Regalbrett klappte nach hinten weg, und eine neue, bislang verborgene Bücherreihe kam zum Vorschein.
Nach dem ersten Schreck konnte sich Brandeisen ein sardonisches Lächeln nicht verkneifen. Hatte er den Giftschrank seines bibliophilen Gastgebers entdeckt?
Chronik der Herren zu Fahlenstein, las er in geprägter Frakturschrift. Die voluminösen Bände waren von 1 bis 13 durchnummeriert. Den Abschluss bildete ein Opus mit dem schlichten Titel Anonyma. Diesen Band schlug der Staatsanwalt auf – und traute seinen Augen nicht.
Wenn im Turm von Schloss Fahlenstein das Geisterlicht brennt und die Dohlen um die Zinnen und Dächer fliegen, dann kommt Unheil über das Land. Dann geht der Freiherr um und holt sich seine Opfer. Auf dem Schloss kam er einst zur Welt, als Sohn der Kastellansfrau und eines Gastes aus dem Karpatenland, den alle Welt nur unter dem Namen --- kennt. Das Böse wurde dem Adelsspross also gleich in die Wiege gelegt. Als er den Kindern der umliegenden Dörfer die Zähne in den Hals schlug und ihre Schulaufsätze stahl, nagelten ihn mutige Männer an das Schlosstor – mit einem dicken Meißel mitten durch die Brust. Doch sie enthaupteten ihn nicht, und so überlebte er die Zeiten …
Es folgte eine unkenntlich gemachte Stelle. Nach den verderbten Zeilen ging es weiter:
Oh, ihr Unglücklichen, die ihr die Zeichen nicht erkennt! Er ist stärker als ihr! Niemand hält den Freiherrn auf.
Brandeisen sann über diese triviale Schauermär nach. Ob frühere Leser auch schon das empfunden hatten, was Freud als Angstlust bezeichnete?
Da gewahrte er etwas in seinem Rücken. Einen Lufthauch hinter seinem – glücklicherweise unabgetrennten – Ohr.
»Störe ich?«
Er fuhr herum.
Eine junge Frau stemmte die Hände in wohlgeformte Hüften. Ihr Haar reichte weiter hinab, samtschwarz und glatt wie die Rutschbahn zur Hölle. Unter einem akkuraten Pony schwelte ein Blick,