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Fußballkritik


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diesbezüglich auch schon damit bedient und versorgt: Die südafrikanische Weltmeisterschaft 2010 war diesbezüglich ein medialer Quantensprung, indem – mit fatalen Folgen – alle 25 Akteure auf dem Rasen wie vor allem die Zuschauer im Stadion offensichtliche Fehlentscheidungen sofort als solche verifizieren wie klassifizieren konnten. Eine Grauzone der bedenklichen Art, solange der Videobeweis samt nachfolgender Korrekturregularien noch nicht offiziell eingeführt ist. Den Druck, der dadurch zusätzlich auf den Schiedsrichtergespannen lastet(e), mag man sich lieber nicht vorstellen.

      So wie bei Konzerten in Arenen und Stadien riesige Videoleinwände ersetzen, was eigentlich menschlichen Maßstäben, nämlich dem unmittelbaren Augenschein vorbehalten sein sollte. Ins Konzert zu gehen, um die Stones oder Sting live und zugleich als Videoclip zu erleben? Das war vor einigen Jahren genau der Zeitpunkt, an dem ich mich von solchen Monsterspektakeln verabschiedete und seitdem kleinere Rahmen bevorzuge, ohne Wiederholungen, ohne Gags und Gimmicks, ohne Schnickschnack. In denen man den Handwerkern bei der Arbeit auf die Finger schauen und ohne permanente Bevormundung entscheiden kann, wo und wie die Akzente zu setzen sind und was man nun als Höhepunkt des Abends mit nach Hause nimmt: aus erster Hand. Höhepunkte übrigens, die – was deren Halbwertszeit anbelangt – vorhalten. Nahrung halt und Lebens-Mittel, und kein Instantjunkfood aus Konserve und Schüssel.

       Das Zitat zu David Lynch stammt aus: Robert Fischer: Der Schrecken des Voyeurs. Gewalt, Lust und Schönheit in David Lynchs Blue Velvet. In: Robert Fischer, Peter Sloterdijk, Klaus Theweleit: Bilder der Gewalt. Frankfurt am Main 1994, S. 81.

       Hierzu auch und immer noch: Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. Hrsg. von Barbara Vinken. München 1997.

       (Text überarbeitet 2010)

       Heft 18/1999

      JÜRGEN ROTH

      Unkomischer Reporterfußball

      Nein, zu den notorischen Fehlleistungen unserer Fußballkommentatoren will ich mich nicht mehr recht äußern, es ist das Thema ein schon allzu fußlahmes, ausgereiztes und nervendes, weil endlos fortsetzbares und bald manieriertes. Aber – Rolf Töpperwiens am 28. September 1999 während des UEFA-Cup-Rückspiels Dingsbums Debrecen (Ungarn) gegen VW Wolfsburg hinterlassene Bemerkung: „Ihnen ist dieses Gegentor in die Kehle gefahren“, die möchte ich durchaus überliefern – als hals- und kehlenverschnürende, anstaltsverwahrungswürdige Entgleisung.

      Endgültig passé die schönen Zeiten, da der Frankfurter Richard Kirn die kleinfeinhumoristische Anekdotensammlung Der lachende Fußball (Nürnberg 1942) publizierte und Eckhard Henscheid, Kirn parodierend und ehrend, 1990 die Sammlung Da lacht das runde Leder (Zürich) nachlegte. Der Fußball samt kulturellen Nebenleistungen ist kaputt.

      Zum Beispiel versteigerte die sonst tadellose, Muzak-freie und mit guten bis sehr guten Reportern bestückte Sendung Heute im Stadion auf Bayern 1 – ihre Macher komplett von der Rolle, denn der eine Geldwertsoccer bestellte samstags, einst die heiligen Stunden der Neunpartienliga, lediglich den FC Bayern zum Spiel – am 2. Oktober 1990 ein unterschriftenübersätes FCB-Trikot zugunsten der, jetzt kommt man karitativ und moralisch, „internationalen Kampagne gegen Landminen“, für die sich, stammelte der Studiomoderator, „ja auch Lady Di eingesetzt hat“. Und ihr Leben spektakulärer hingab, als Maradona einen Freistoß zu verwandeln vermochte.

      Fußball war mal komikfähig, heute ist er nur noch für blamablen Blödsinn zu gebrauchen und für nichts zu schade.

      Wurstkönig Uli Hoeneß „engagiert sich“ (Bayern 1), spendet ein Stück Stoff (Startgebot 250 Mark) und liefert das „Showelement“, während das Journalistenpersonal am totalen Gekicke rund um die Woche irre und kirre wird. Die alles einrührenden und zusammenschmeißenden Eintopfkochköpfe vermelden dem Äther: „Und er hat die Kugel gerade noch über den einkopfbereiten Kopf befördert“ – es dürfte die durch Edgar Endres (Bayern 1) diagnostizierte „Kopfblockade“ sein, die den ehedem situationistischen Witz und unbeabsichtigten Uz der Livereportage nun zum Verschwinden bringt.

      Sie scheinen samt und sonders überfordert, fertig. Die Mikrophonmänner akkommodieren sich offenbar dem Inflationsniveau des Kohleschaufelfußballs – keine Atempause, kein Innehalten, kein Sinnen und, vice versa, kein furioser Einsatz mehr, nur mehr Fließbandfernseh’, Fließbandfunk und Fließbandgefasel. Jeden Tag Topereignisse und bleierne Langeweile. Wäre ich einer der aktuell wichtig gehandelten Suhrkamp-Soziologen, ich schriebe wahrscheinlich glatt das Handke-formatige Besinnungspamphlet „Der fordistische Fußball – Folgen und Fährnisse“.

      Doch bei Bewußtsein bleibt bloß: Es geht so nicht weiter. Der Spaß ist verflogen. Aus. Abpfiff.

       Hinweis des Verlags: Auf Wunsch des Autors in der bis 1996 gültigen Rechtschreibung.

       Heft 19/2000

      STEFAN ERHARDT

      Über die Minute

      „Klinsmann nun schon vierhundertsechsunddreißig Minuten ohne Torerfolg!“ (Sportpresse) Ach du dickes Ei, dachten wir, vierhundertsechsunddreißig Minuten – für einen Stürmer moderner Prägung das Todesurteil. Und jetzt das: Ganea – Stürmer des VfB Stuttgart und „seit fünfhundertneunzig Minuten ohne Tor!“ (Sportpresse cont.)

      436 Minuten – 590 Minuten – es gilt die neue Versagerzeitrechnung im Fußball, aber nicht nur dort. Früher herrschte Großzügigkeit, wurde schlicht in Spielen gezählt, also: mehr als vier, mehr als sechs Spiele ohne Torerfolg. Das war noch kein Kapitalversagen, das war lediglich ein kleines Armutszeugnis.

      Aber die Zeiten sind rigoroser, härter, manndeckender geworden. Jede Minute ist mittlerweile in unserem Wirtschaftswunderwachstum kostbar, denn die Ressourcen werden knapper. Weltweit. Kein Wunder, dass man von der analogen zur digitalen Zeit- und Abrechnung übergegangen ist. Carpe diem war früher, jetzt ist jede Sekunde wertvoll, spätestens seitdem die Skirennläufer auf die oder das Hundertstel genau ins Ziel kommen. Die Zeit ist unerbittlich, und man muss sich ihr stellen.

      Überhaupt: Machte sich früher der arbeitende Mensch noch Tag für Tag gegen Bares als Tagelöhner ans und ins Werk (analoge Abrechnung, vgl. AAA bei Musikaufnahmen), so kam mit der gesetzlich geregelten 38,5-Stunden-Woche schon der Geschmack des Kleinlichen auf (entsprechend AAD respektive ADD), um mit der Gleitzeit (vgl. die etwa zeitgleiche Einführung des Kondoms als akzeptiertem und gesellschaftlich sanktioniertem Basisbaustein deutscher Körperkultur) endgültig ins Kleinkarierte und Fieselige, aber anstandslos nicht zu beanstandende Saubere zu rutschen (DDD).

      Das wird nicht das Ende gewesen sein – wir warten „natürlich“ (R. Beckmann) auf die Sekundenzählung. Leistung muss sich lohnen, Fehlleistung muss fronen – oder so. Wir probieren’s aus: „Lars Ricken bereits sechsundzwanzigtausendeinhundertundsechzig Sekunden ohne Torerfolg“; oder eine Generation weiter: „Jeremies nun schon exakt über eine Viertelmillion Zehntelsekunden ohne einen direkten Schuss aufs Tor!“ Aus Frust pur wird Frust digital.

      Geschuldet ist diese Entwicklung a) der Einführung der ran-Datenbank, eine zivilisatorische Großtat ersten Ranges, daraus sich nun jeder Halbgebildete ungeniert bedienen kann; b) der befürchteten Inflation im Zuge der Zwangsumstellung von D-Mark auf Euro; und c) der bis zum vorletzten Jahr unaufhaltsamen „Halbierung der Zahl der Arbeitslosen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“ durch Helmut Kohl, dem verkannten Satiriker im Kanzlerpelz.

      Komme es, wie es mag, beziehungsweise sei’s drum – wir warten, bis der ein oder andere Knoten platzt oder sich schürzt, halten’s mit jenem 15-Jährigen im Coca-Cola-Werbespot vom April ’98, in dem alle kicken, nur er nicht: „Und ich sammle eben Frösche …“, und löffeln erbsenzählend Suppe zwischen den Spielhälften. Verzeihung: in den neunhundert Sekunden Halbzeitpause.